Schweitzer Fachinformationen
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EINS
Hameln, Klütberg, 20:10 Uhr
Ein eisiger Wind fegte über die Höhen des Finkenborner Waldes. Das bunte Laub in den Ästen der alten Bäume raschelte unheilvoll. Irgendwo in der Tiefe des Geländes schrie ein Käuzchen. Nur selten drang das Mondlicht durch das natürliche Dach der tief hängenden Zweige.
Nachdem er den Wagen auf dem kleinen Parkplatz abgestellt hatte, lehnte er einen Augenblick in der Fahrertür und ließ die düstere Szenerie auf sich wirken. Alles wirkte irgendwie inszeniert, gestellt wie in einem Gruselfilm. Mahnend erhob sich der Klütturm in den Nachthimmel. Als er den Kopf nach links wandte, sah er in der Ferne die Lichter der Stadt funkeln. Dumpf drang das Rauschen der Bundesstraße an seine Ohren.
Nicht zum ersten Mal an diesem Abend fragte er sich, warum er die Einladung zu dem seltsamen Treffen überhaupt angenommen hatte. Normalerweise ließ er sich auf so einen Mist gar nicht ein. Wer ihn sprechen wollte, konnte ihn per Mail oder Telefon kontaktieren. Ein wenig ärgerte er sich jetzt darüber, sich auf diesen fragwürdigen Termin eingelassen zu haben. Schnell drückte er die Fahrertür ins Schloss und betätigte die Zentralverriegelung des Tesla.
Suchend blickte er sich um. Weit und breit war kein weiteres Fahrzeug zu sehen. Er glaubte nicht daran, dass sein Gesprächspartner den weiten Weg auf den Berg zu Fuß in Angriff genommen hatte. Wahrscheinlich hatte er den Wagen im hinteren Bereich geparkt, dort, wo sich früher der Parkplatz des Restaurants befunden hatte. Mit Koniezcko, dem Besitzer der Immobilie, hatte er morgen auch einen Termin. Es ging um die Zukunft der prägnanten Immobilie auf dem Klüt. Die traumhafte Aussicht würde er sich zunutze machen und das Gebäude mit einem völlig neuen Konzept nutzen. Das setzte voraus, dass er in dem Meeting mit Vladimir Koniezcko handelseinig wurde.
Doch jetzt stand erst einmal das seltsame Treffen auf dem Turm an. Er hatte aufgegeben, sich nach dem Sinn und dem Zweck des Treffens zu fragen. Nahm es als gegeben hin, solange es ihn bei seinem Projekt voranbrachte. Es galt, den Bürgermeister und den Baurat der Stadt von der Machbarkeit seiner Vision zu überzeugen.
Nachdem er tief durchgeatmet hatte, konzentrierte er sich auf das bevorstehende Gespräch. Geschützt vor allzu neugierigen Blicken. Mechanisch setzte Klaus Sippelmann einen Fuß vor den anderen und marschierte auf den Turm zu. Er kannte diesen Ort, der tagsüber von unzähligen Wanderern, Touristen und Mountainbikern heimgesucht wurde, inzwischen wie seine Westentasche. Bei Dunkelheit hatte der Klüt etwas Beklemmendes an sich. Die Stadt zu Füßen des Berges war sichtbar, man hörte die Autos und war doch einsam hier oben. Sippelmann atmete tief durch und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Ein Blick auf die Apple Watch sagte ihm, dass er früh dran war. Ein paar Minuten hatte er noch Zeit. Er ließ den Klütturm rechts liegen und betrat die Freifläche, die man für die Touristen eingerichtet hatte. Ein einfacher hölzerner Zaun schützte vor einem Sturz in die Tiefe, davor gab es einige massige Holzbänke. Sippelmann nahm sich Zeit und genoss den Panoramablick auf die Rattenfängerstadt zu seinen Füßen. Sanft senkten sich die auslaufenden Hügel des Weserberglandes in die Flusssenke. Es sah aus, als würden sich die Häuser Hamelns an die Erhebungen schmiegen. Die Lichter der Stadt ließen die Gegend wie eine Modelllandschaft erscheinen. Einen Moment lang stand Sippelmann am Zaun und atmete tief durch. Kaum ein Geräusch drang hier herauf, nur das permanente Rauschen der Autos auf der Bundesstraße war allgegenwärtig. Motorenlärm, auch aus der Ferne, war Sippelmann ein Dorn im Auge. Seit dem Tod seiner ersten Frau kämpfte er für einen Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs. Bei einem tragischen Autounfall war sie ums Leben gekommen, getötet von einem Lkw-Fahrer, der das Stauende übersehen hatte und ihren Wagen in einen Haufen verbeultes Blech verwandelt hatte. Carla hatte keine Chance gehabt. Sie war hinter dem Steuer ihres Kleinwagens eingeklemmt worden und elendig verreckt. Linus, ihr Sohn, war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal acht Jahre alt gewesen.
Noch immer legte sich ein Bleigürtel um Klaus Sippelmanns Brust, wenn er an Carlas unsinnigen Tod dachte. Für ihn war sie die Liebe seines Lebens gewesen. Große Pläne hatten sie gehabt, wollten Seite an Seite alt werden und später viel reisen, die Welt erkunden. All ihre Träume waren durch den Unfall von einer Sekunde zur anderen ausgelöscht worden. Sippelmann hatte plötzlich vor einem tiefen Nichts gestanden und zeitweise sogar Selbstmordgedanken gehabt. Doch es nutzte nichts - er trug fortan alleine die Verantwortung für den kleinen Linus.
"Hier oben!", gellte plötzlich eine Stimme durch die Nacht und riss Sippelmann aus den trüben Gedanken.
Er machte auf dem Absatz seiner robusten Schuhe kehrt und legte den Kopf in den Nacken. Oben auf dem Turm wurde eine Lampe geschwenkt. "Hier bin ich!"
Sippelmann stieß sich vom Zaun ab. "Ich komme zu Ihnen."
"Sie werden eine Lampe brauchen, im Turm ist es dunkel."
Täuschte er sich, oder kam ihm die Stimme dort oben bekannt vor? In seiner Laufbahn als Dozent am Institut für Verkehrswissenschaften war er vielen Menschen begegnet, Kritikern wie Befürwortern seiner Visionen.
"Die Taschenlampe ist am Mann", rief Sippelmann, öffnete den Reißverschluss der Jacke und zog die Maglite aus der Tasche. Schnell erklomm er die unbefestigten Stufen, die zum Eingang des Turmes führten. Gegenüber gab es eine kleine Hütte, wahrscheinlich im Sommer der Souvenirshop. Jetzt war die Hütte mit Brettern verrammelt und so vor Witterungseinflüssen und vor Vandalismus geschützt.
"Die Tür zum Turm ist nur angelehnt", rief die Stimme von oben.
Sippelmann drückte mit der freien Hand gegen das grüne Holz. Der Lichtfinger der Taschenlampe geisterte über das Türblatt. Hier wäre ein neuer Anstrich fällig, dachte Sippelmann, dann griff er nach dem eisernen Knauf und drückte die Tür auf. Im Hereingehen erblickte er die Einbruchspuren auf Höhe des Schlosses. Was hatte das zu bedeuten?
Im Innern des Klütturmes roch es muffig. Putz rieselte von den Wänden. Er erklomm die Treppe, die nach oben führte. In regelmäßigen Abständen passierte er schmale, hohe Fenster, an denen er kurz innehielt, um sich zu orientieren. Die Scheiben waren staubblind, die Lichter der Stadt erschienen ihm wie milchige Botschafter der Zivilisation, nah und doch unerreichbar für ihn. Obwohl seine Kondition gut war, atmete er doch zusehends schwerer, je weiter er nach oben gelangte. Sippelmann verlangsamte seine Schritte. Er hatte keine Lust, seinem Gesprächspartner nach Atem ringend unter die Augen zu treten. Der Schein seiner Taschenlampe geisterte über die kahlen Wände im Innern des Turmes. Hohl klangen seine Schritte von den Wänden zurück. Im oberen Bereich waren die Stufen nicht aus Stein, sondern aus geriffeltem Metall. Sippelmann musste vorsichtig sein, denn die Stufen waren steil und schmal. Achtsam leuchtete er die Trittstufen aus und setzte einen Fuß vor den anderen. Es war wirklich ein eigenartiger Ort für das Treffen. Er zögerte ein letztes Mal, blieb stehen und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Sippelmann verspürte einen kalten Luftzug, der seine erhitzte Stirn streifte. Gleich hatte er sein Ziel erreicht, doch noch war von seinem Gesprächspartner nichts zu sehen.
"Hallo?", rief er nach oben.
"Hier bin ich", erklang die Stimme von der Plattform. "Ganz oben."
Der Wind verfing sich in den Verstrebungen der obersten Plattform und erzeugte ein leises Heulen. Sippelmann marschierte weiter, dann hatte er sein Ziel erreicht. Sein Atem ging schwer. Als er die Plattform betrat, erblickte er trübe Glasbausteine, die vor den schlimmsten Witterungseinflüssen schützen sollten. Der Wind pfiff durch die Ritzen. Irgendwelche Spinner hatten das Mauerwerk mit Graffiti beschmiert. Dies musste der höchste Punkt Hamelns sein, durchzuckte es ihn. Selbst hier schien sich das Rauschen des Motorenlärms von der Bundesstraße 83 schwer über die Stille der Natur zu legen. Kurz streifte Sippelmanns Blick das Panorama, dann nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und fuhr herum.
"Hier sind Sie", sagte er, dann riss er die Augen auf. "Was soll das?" Er blickte auf eine Waffe, deren Mündung auf ihn gerichtet war.
Von seinem Gegenüber war nicht viel zu erkennen. Sein Gesicht lag im Schatten. "Genießen Sie noch einmal den Ausblick. Sie lieben es doch, auf die Leute herabzuschauen."
"Das ist Unsinn", behauptete Sippelmann mit trockener Kehle. Er wich einen Schritt zurück. Sippelmann war Wissenschaftler und kam nicht oft in den zweifelhaften Genuss, mit einer Pistole bedroht zu werden.
"Auslegungssache", erwiderte sein Gegenüber tonlos. "Wie dem auch sei: Jetzt ist Schluss mit Ihrer Arroganz."
Die nackte Todesangst lag in Sippelmanns Augen, als er sah, wie die Waffe in der Hand seines Gegners entsichert wurde. Überlaut klickte das Metall. In Zeitlupentempo krümmte sich ein Zeigefinger um den Abzug.
Wieder wich Sippelmann zurück, als könne er so der tödlichen Kugel entgehen. Hart prallte er an das kalte Mauerwerk in seinem Rücken und hob abwehrend die Hände. "Warten Sie", gellte seine Stimme durch den Turm. "Wir können über alles reden, bitte warten Sie!"
"Es gibt nichts zu besprechen." Die Stimme seines Gegenübers klang kühl und emotionslos. Langsam schüttelte die dunkel gekleidete Gestalt den Kopf.
Sippelmann sah sein Heil in der Flucht, wirbelte herum, taumelte und verlor...
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