Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Eine Kindheit in Hamburg
Es war ein großes Etagenhaus. Ich vermute einmal, 1880 gebaut, mit drei oder vier Etagen. Meine Großeltern, meine Eltern und die zwei jüngeren Schwestern meiner Mutter mit ihren Männern wohnten da. In einem kleinen Zimmer wohnte Thora. Sie hieß eigentlich Viktoria Griese und war die Tochter einer Nachbarin meiner Großeltern, einer ledigen Mutter – das hat es immer gegeben. Sie lebte in einer winzigen Wohnung mit ihrer kleinen Tochter. Tagsüber ging sie arbeiten. Dann bekam sie Tuberkolose und starb. Daraufhin haben meine Großeltern Thora zu sich genommen: »Eine mehr, darauf kommt es auch nicht an.« Sonst hätte sie sofort ins Waisenhaus gemusst.
Ja, meine Großeltern, meine Mutter und meine Tanten waren ihre Familie. Nebenbei erwähnt: Von Vater Staat gab es keine finanzielle Hilfe, wenn man ein Kind aufnahm.
Ein Hund war im Haus: Wulli war ein kleiner Dackel. Er kniff mich als Dreijährige immer in die Waden. Dann kletterte ich auf einen kleinen Stuhl und rief Großmuddel, die mich retten musste.
Als Dreijährige mit »Bodderlecker« und von der Mutter genähtem Kleid. Das Bilderbuch gehörte dem Fotografen; zu Hause gab es keins.
Quelle: Archiv Helmut Schmidt
Ich weiß, dass meine Großmutter mit mir, wenn Hochwasser eintrat, die Straße entlangging. Es gab eine kleine Anhöhe, von der aus man in den Hafen gucken konnte und wo eine richtige Kanone stand. Mit der wurde »Hochwasser geschossen«.
Das erinnere ich noch ganz genau – auf eine Schott’sche Karre, eigentlich nur eine Plattform mit vier Rädern und einer Deichsel, wurden die Möbel geladen, die meinen Eltern gehörten. Obendrauf kam das Bettzeug, und darauf wurde mein Bruder gesetzt. Der war ja erst drei Jahre alt. Er bekam eine Papierlaterne in die Hand mit der Weisung: Die musst du immer hochhalten, damit die Leute und die Pferdewagen auf der Straße uns auch sehen. Das Ganze fand natürlich in der Dunkelheit statt, nach der Arbeit. Drei Freunde haben geholfen. Die Wohnung kann ich noch genau beschreiben, auch die Möbel. Die Wohnung hatte höchstens 28 Quadratmeter.
Strom gab es nicht, sondern Gas. Draußen am Haus befand sich an einem geschwungenen schmiedeeisernen Arm eine Gaslaterne. In der Wohnung gab es in der Küche und im Wohnzimmer eine Gaslampe. Die Blumensträuße, die mein Vater häufiger mitbrachte, waren nach zwei Tagen verwelkt wegen des Gases. Dass die Gasbeleuchtung auch für uns Menschen ungesund war, spielte keine Rolle, schließlich war die Wohnung billig. Mein Vater bekam in der Woche 27 Mark ausbezahlt, die Miete betrug 27 Mark im Monat.
Meine Mutter ging häufig zum Nähen, und Thora kam, um die drei Kinder zu versorgen.
Nein. Diese Wohnung – für heutige Verhältnisse unvorstellbar – hatte einen Ausguss mit einem Wasserhahn neben der Wohnungstür. Das war der einzige Wasserhahn in der Wohnung. Ein WC gab es nicht, sondern einen Austritt im Treppenhaus ohne Fenster. Ich vermute, dass da ein Goldeimer war.
Ja, ein Plumpsklo. Wir Kinder hatten vor diesem Klo im Treppenhaus eine scheußliche Angst. Deswegen stand in unserem Schlafzimmer außer den drei Betten und dem Kleiderschrank noch ein Stuhl in der Mitte, unter dem sich ein Töpfchen befand.
Die Dunkelheit. Da war ja kein Fenster. Und man musste ins Treppenhaus.
Kalt war die Wohnung aber auch. In der Küche befand sich ein großer Herd, wie sie früher üblich waren. Darauf stand ein zweiflammiger Gasherd. Manchmal, im Winter, wurde aber auch der große Herd in Betrieb genommen. Das Kinderschlafzimmer war ungeheizt. Das Kabuff, in dem meine Eltern schliefen, natürlich auch. Nur das Wohnzimmer war noch zu heizen. Dort war ein Kohleofen.
Mit einem großen Topf auf dem Kohleherd und natürlich mit einer Ruffel.
Eine Holzunterlage, ungefähr 80 Zentimeter, das heißt ein dickes Holzbrett, auf dem ein wellenförmiges Blech befestigt war.
Ja. Jeden Sonnabend wurde auch auf dem Kohleofen ein großer Topf mit Wasser erwärmt. Dann kam die Badewanne, eine Zinkwanne.
Die stand in der Küche unter einem Arbeitstisch. Sitzen konnte man in der Küche nicht. Einen Stuhl gab es nicht, sondern nur einen Arbeitstisch. Darunter stand die Wanne für die sonnabendlichen Badevergnügungen. Natürlich alle Kinder im selben Wasser.
Meine Eltern haben immer erst uns drei Kinder gebadet. Obwohl sie alles andere als prüde waren, haben sie selbst nie mit in der Wanne gebadet. Sie sind zwar manchmal ohne was in der Wohnung umhergelaufen, sodass mir der Unterschied zwischen Mann und Frau selbstverständlich und vertraut war. Auch wir Kinder sind häufig nackt herumgelaufen. Aber gründlich gewaschen haben sich meine Eltern nie vor den Augen ihrer Kinder.
Das weiß ich nicht mehr. Ich meine, dass wir zu zweit in der Wanne gesessen haben. Wenn man die Knie hochzog, konnte einer auf der einen und der andere auf der anderen Seite sitzen. Außerdem macht es viel mehr Spaß. Nach dem Badevergnügen gab es am Sonntagmorgen frische Unterwäsche.
In den zwanziger Jahren – wahrscheinlich 1928 – kam mein Vater einmal abends nicht von der Arbeit nach Hause. Auf unser Fragen hin sagte unsere Mutter: »Papa ist einige Wochen auf Montage.« Wir erfuhren, dass unser Vater eine wichtige Arbeit zu verrichten habe: Weit entfernt von Hamburg gebe es ein kleines Schlösschen an der Elbe, erzählte sie. Sie meinte das Herrenhaus Haseldorf in der Elbmarsch stromabwärts. Dort war eine Überlandleitung neu errichtet worden, sodass der Hof mit allen Gebäuden an das Stromnetz angeschlossen werden konnte. Bis dahin hatte es nur Kerzen und Petroleumlampen als Lichtquelle gegeben. Uns Kindern erschien der Gedanke, dass unser Vater in einem Schloss arbeitete und allein alle Leitungen legen konnte, wie aus einem Märchen.
An einem Wochenende im Sommer. Die S-Bahn bis Wedel gab es schon. Von da an folgte ein langer Fußmarsch. Unsere kleine Schwester war erst sechs Jahre alt. Aber wir erreichten Haseldorf und wurden von unserem Vater in die Arme geschlossen. Dann begrüßte uns die Wirtschafterin und brachte uns in die riesige Schlossküche. In der Mitte des Raumes stand ein so großer Tisch, wie ich noch nie einen gesehen hatte. In dem großen Raum mit niedriger Decke aßen alle Arbeiterinnen und Arbeiter von Haseldorf dreimal am Tag zusammen. Jetzt waren wir allein dort.
Die Wirtschafterin sagte zu uns: »Es gibt was Feines: Wildente mit Rotkohl.« Als wir unser Fleisch klein geschnitten hatten, steckte ich erwartungsvoll ein Stück in den Mund und kaute und kaute. Ich sah meinen Bruder an: Er kaute und kaute. Der Vanillepudding schmeckte besser. Bald mussten wir zurück. Und kurze Zeit darauf war unser Vater auch mit seiner Arbeit fertig.
Wir waren schon in der Lichtwarkschule, als er mir mal eine Mütze nach Hause gebracht hat.
Ja. Solche Wege waren eine Selbstverständlichkeit.
Nein.
Wie alt war ich da? Rechnen Sie mal! Auf die Idee wäre ich nie gekommen.
Wir sind aus der kleinen Wohnung ausgezogen, als ich elf Jahre alt war.
Sein Entsetzen habe ich nicht mitgekriegt. Das hat er mir erst viel später erzählt. Er ist in einer bürgerlichen Familie aufgewachsen.
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.