Schweitzer Fachinformationen
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Das Stück Himmel über dem Hinterhof in der Invalidenstraße war von einem blässlichen Grau und der Rauch der Kohleöfen stach Clara in die Nase. Es war kalt für Anfang März und hatte schon wieder geschneit. Clara war die Erste, die mit gerafftem Rock durch den Neuschnee stapfte. An der Kellertür drehte sie sich um und betrachtete die Spuren, die sie hinterlassen hatte. Als hätte sie ein unentdecktes Land betreten, wie in den Geschichten der großen Weltentdecker. Sie stellte die leeren Kohlenschütten ab und blies sich auf die Hände. Selbst die Hühner waren heute lieber in ihrem Verschlag geblieben. Verhaltenes Gackern klang zwischen den Holzlatten hindurch und Clara überlegte, ob sie nach Eiern schauen sollte. Aber besser nicht. Sie wollte nicht trödeln, Netty und Mutter warteten auf die Kohlen. In einer Stunde würden sie das Ladengeschäft und den Teesalon öffnen, dann würden die ersten Kunden aus den Pferdebahnen steigen, sie würden auf das heimelig erleuchtete Schaufenster des Teehauses zusteuern, und wenn sie eintraten, würde die Glocke über der Ladentüre klingeln. Bis dahin musste es unten im Laden und oben im Salon mollig warm sein.
Clara stieg die Stufen zur Kellertür hinab und drehte den eisernen Schlüssel um. Im Gang roch es nach Erde, Kohlenstaub und den letzten runzligen Winteräpfeln, die Mieter aus dem Hinterhaus hier lagerten. Sobald Claras Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wandte sie sich nach links. Sie öffnete ihren Verschlag und stieß die Schaufel in die Eierkohlen. In den letzten Wochen war der kleine Berg zusehends geschrumpft, der Winter war lang in diesem Jahr. Aber das schadete nichts, im Gegenteil. Berlin war wirklich ungemütlich bei schlechtem Wetter, und je ungemütlicher es war, desto dringender wollten die Leute sich bei einer Kanne Tee und einem guten Gespräch aufwärmen.
Clara trug die Kohlen in die Hofdurchfahrt, wo ihr bereits der Duft von schwarzem Tee entgegenströmte. Ein Treppenhaus ging von hier ins Vorderhaus hinauf. Sie trat nach rechts drei Stufen hoch in den Aufgang und öffnete die Seitentür zum Laden mit dem Ellenbogen, und Netty, ihre jüngere Schwester, eilte aus dem Verkaufsraum herbei, um ihr eine der Kohlenschütten abzunehmen. Sie war bereits auf das Sorgfältigste zurechtgemacht für die Arbeit im Geschäft: das honigblonde Haar hochgesteckt und mit einer frisch gewaschenen Haube fixiert, das gestreifte Popeline-Kleid mit einer von Olga geplätteten Schürze zusammengehalten. Netty warf einen Blick auf Claras Erscheinungsbild und runzelte die Stirn.
Unwillkürlich fasste Clara sich an die Frisur. »Ich weiß«, sagte sie. Ihre Haare waren noch zum Nachtzopf geflochten. Ein paar Strähnen hatten sich daraus gelöst. »Ich beeile mich.«
»Besser wäre es«, sagte Netty, hob die Brauen und kehrte mit den Kohlen in den Verkaufsraum zurück.
Clara hielt einen Moment inne, weil ihr plötzlich gewahr wurde, wie glücklich sie sich schätzen konnte. Der Laden, der Salon, ihre Familie, alles strahlte Wärme und Geborgenheit aus und war gleichzeitig mit dem Leben da draußen, mit all den Menschen, die zu ihnen kamen, verbunden. Sie hörte das Rumpeln der Kohlen, als ihre Schwester den Ofen fütterte, und folgte ihr in den Laden. Netty klopfte sich etwas Kohlenstaub von den Händen, bevor sie hinter den hölzernen Tresen trat, um die Teeschaufeln zu ordnen. Es sah hübsch aus, wie sie da vor dem Regal mit den schwarz-roten Blechdosen stand. Das dachte sicher auch die Kundschaft, weshalb meistens Netty diejenige war, die hier unten das Teehaus Winterfeld repräsentierte. Vor ihr standen zwei Waagen aus Messing, und in einer Vitrine im Schaufenster hatten sie das chinesische Porzellan ausgestellt.
Im hinteren Teil des Verkaufsraums führte neben dem Ofen eine Treppe hinauf in die Räumlichkeiten des Salons, und unter der Treppe war die Tür zum Lager, das sich bis in den Seitenflügel des Hauses zog. Im Hof hatten sie eine Rampe angebracht, damit sie die schweren Teekisten nicht mit der Sackkarre durch den Laden fahren mussten, sondern direkt ins Lager schaffen konnten.
»Clara! Wo bleibst du, Kind?« Die Stimme ihrer Mutter klang ungewohnt streng aus dem Salon zu ihr herab.
»Komme schon!«, rief Clara und ergriff die verbliebene Kohlenschütte.
Adele Winterfeld erwartete sie oben an der Treppe, die Fäuste in die Seiten gestemmt und etwas atemlos. Sie hielt einen Lappen in der Hand. »Wie siehst du denn aus?«, schimpfte sie. »Weißt du nicht, dass wir .«
». heute Besuch vom alten Stargard bekommen.«
Adele schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Das heißt >Herr Stargard senior<.«
Clara stellte die Kohlen vor dem Kachelofen gleich neben der Treppe ab und lächelte ihre Mutter an. »Wie du möchtest. Und natürlich weiß ich, dass er heute kommt.«
Adele begann, mit dem Lappen über einen der Teetische im großen Salon zu wienern, und rückte mit fahrigen Bewegungen die Zuckerdosen zurecht.
Clara öffnete die Ofenklappe, füllte Kohlen auf die brennenden Scheite und erhöhte die Luftzufuhr, damit alles gut durchglühen konnte.
»Otto Stargard ist .«, setzte Adele an.
». ein überaus wichtiger Mann für das Teehaus Winterfeld«, vollendete Clara auch diesen Satz. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und sah ihre Mutter prüfend an.
Adele Winterfeld war noch immer eine prachtvolle, üppige und lebhafte Frau. Von ihr hatte Netty das honigblonde Haar. Mutters braune Augen leuchteten für gewöhnlich warm und herzlich. Clara bedauerte manchmal, dass sie selbst mehr nach ihrem Vater kam, schmal und dunkelhaarig, mit dunkelblauen Augen, das Gesicht ein wenig eckig und im Charakter gelegentlich auffahrend, was allgemein an einer jungen Frau nicht gern gesehen wurde. Adele hingegen ruhte stets ganz in sich und ihrer Freundlichkeit. Heute jedoch wirkten ihre Nerven angegriffen.
»Wir werden Otto Stargard wie immer herzlichst empfangen«, sagte Clara. Sie gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und ging in den links angrenzenden kleinen Salon, um auch dort anzuheizen. »Er besucht uns, seit ich denken kann«, rief sie. »Er ist ein guter Geschäftspartner. Und er ist ein Freund. Warum bist du so nervös?«
Adele tauchte in der Doppelflügeltür zum kleinen Salon auf und seufzte. »Wenn ich das wüsste, Kind. Es ist nur ein Gefühl. Ich .« Sie horchte in sich hinein und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Sie wendete sich mit dem Lappen den restlichen Tischen zu. »Und zieh dich ordentlich an, Herrgott nochmal!«
Clara zuckte zusammen, sagte aber nichts. Sie wollte keinen Streit vom Zaun brechen. Schnell ging sie durch den großen Salon zurück und über den Flur in die Salonküche. Im Kaminzimmer, das rechts vom großen Salon abging, hatte Olga bereits für ein prasselndes Holzfeuer gesorgt. Bestimmt wartete sie jetzt auf die Kohlen für den Herd, und sie würde Clara mit mildem Tadel daran erinnern, dass sie heißes Teewasser brauchten. Clara lächelte bei dem Gedanken. Olga war als Bedienstete in ihrer Familie, seit sie denken konnte, aber sie hatte ihren russischen Akzent niemals ganz abgelegt.
Gegen Mittag herrschte im Teehaus Winterfeld wie immer Hochbetrieb. Der große und der kleine Salon in der Beletage des Hauses waren von sanftem Stimmengemurmel erfüllt, und gelegentlich drang Nettys helles Gelächter von unten aus dem Laden herauf. Das Kaminzimmer hatten sie heute für das Publikum geschlossen; es war für Otto Stargards Besuch reserviert. Der Duft nach frisch gebrühtem Tee und Berliner Pfannkuchen erfüllte die Luft, die Wasserkessel in der Küche kochten um die Wette, und Clara beeilte sich, einem älteren Offizier aus Augusts Kaserne ein Tablett mit einer Kanne Ceylon-Tee zu servieren.
»Zitrone, Herr Oberst?«
»Ich bitte darum, Fräulein Winterfeld.«
Wenn man dem Tee in der Tasse nur ein wenig frischen Zitronensaft hinzufügte, verwandelte sich seine kräftig dunkle Farbe in ein leuchtendes Rotorange.
»Wie geht es meinem Bruder, Herr Oberst? Wie macht er sich?«
»Wie immer aufrecht und wacker. Er wird einmal ein guter Offizier, wenn Sie mich fragen.«
Clara nickte, hörte aber nur mit halbem Ohr zu. Das Geplänkel war eigentlich immer dasselbe und wenig interessant. Das Farbschauspiel in der Tasse jedoch begeisterte sie stets aufs Neue. Als würde an einem verhangenen Abend plötzlich ein letztes Mal die Sonne durch die Wolken brechen, bevor sie hinter dem Horizont verschwand.
Sie lächelte und wandte sich dem Tisch unter dem linken der drei hohen Fenster des Salons zu, wo soeben eine junge Dame Platz genommen hatte.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte sie.
Von unten drang Nettys Stimme herauf: »Sie kommen!«
Clara schaute nach unten auf die Straße. Der neue Schnee taute bereits wieder, und in der Mitte der Straße, wo die Schienen der Pferdebahn verliefen, war nur schmutziger Matsch geblieben.
»Ein Kännchen englischen Frühstückstee bitte. Und haben Sie heute Scones?«
Clara nickte. »Sicher, kommt sofort.«
Ein Pritschenwagen hielt vor dem Haus, der Atem der beiden Pferde stob dampfend in die Luft. Auf der Ladefläche zählte Clara vier große, hölzerne Teekisten und eine kleinere Kiste, die vielleicht zehn Kilogramm fassen mochte. Auf den Seiten der Kisten prangte der Stempel des Hamburger Teekontors Stargard - ein stilisierter Klipper, umrahmt von zwei Teezweigen.
Der Kutscher und ein Gehilfe stiegen vom Bock. Aus der Durchfahrt zum Hof trat Claras Vater auf die Straße. Er schob die Sackkarre vor sich her. Ein Lieferschein wurde übergeben, der...
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