Schweitzer Fachinformationen
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»Zum Kotzen.« Toni, der eigentlich Anatoli hieß, stand vor den Resten eines überdachten Hochsitzes, stemmte seine Hände in die Hüften und schüttelte den grauhaarigen Kopf.
In dem braunen Overall, an dem noch Sägespäne vom Baumfällen hafteten, erinnerte er entfernt an einen gereizten Grizzlybären vor seiner zerstörten Behausung. Den Hochsitz hatte jemand umgeworfen, die Leiter zerbrochen und den Rest in Stücke gehackt. Eine Axt hatte ganze Arbeit geleistet. Da der Hochsitz nicht nur überdacht, sondern verkleidet und für zwei Personen ausgelegt gewesen war, musste das Zerstörungswerk Kraft und Ausdauer gekostet haben. Einen derartigen massiv gebauten Hochsitz nannten sie in der jahrhundertealten Tradition der Jäger eine »Kanzel«, in Anlehnung an die in den Kirchen. Toni spuckte aus.
Försterin Astrid Mechtinger blickte sich suchend um, als könnte sie den Täter noch entdecken, aber außer Toni war niemand zu sehen. »Das ist nicht gegen dich persönlich gerichtet, sondern gegen die Jagd an sich.«
Ihr Revierbereich lag fernab der üblichen Naherholungsgebiete der Stadt. Fichten, deren Stämme wie Säulen einer Kathedrale in den Himmel ragten, prägten den Wald. Nur vereinzelt versuchte eine Buche etwas Sonnenlicht zu ergattern. Generationen von Förstern und Waldbauern hatten hier ihr Erbe hinterlassen. Am anderen Ende des Staatsforstes war sie schon öfter auf Reifenspuren von Lastwagen gestoßen, die dort nichts zu suchen hatten, aber ansonsten ging es in den Wäldern der Forstdienststelle Gleisenau friedlich zu.
Toni blies die Backen auf. »Saubande! Die Brüder, wenn ich die erwisch, gibt's 'nen Satz heiße Ohr'n.«
Astrid Mechtingers Ehemann würde sich für den heutigen Abendansitz auf den alten Rehbock eine Ausweichmöglichkeit suchen müssen. Alte Böcke zu erlegen war reizvoll, denn sie hatten mehr Erfahrung und waren schwieriger zu überlisten als junge. Außerdem verspürte man dabei eine gewisse Macht, fast als habe man dem Tod ein Schnippchen geschlagen.
»Dann bau ich halt 'ne neue Kanzel«, murrte Toni.
»Freilich. Wirst doch dafür bezahlt.«
Toni arbeitete schon lange im Forstdienst, und obwohl Astrid ihn der gelegentlichen Wilderei verdächtigte, zählte sie doch auf seine Erfahrung, wenn es um den Holzeinschlag ging. Ein gefährlicher Job, bei dem trotz Schutzkleidung immer wieder schreckliche Unfälle geschahen. Ihr schauderte bei dem Gedanken an Verletzungen durch Motorsägen, zumal sie die Verantwortung für die Sicherheit der Waldarbeiter trug. Zum Glück war in ihrem Forstabschnitt bislang nichts Dramatisches passiert.
»Wer macht so was?«, fragte Toni.
»Irgendwelche Idioten.« Zerstörungen von Jagdeinrichtungen kamen immer wieder vor, meistens von Tierschützern begangen, die den ihrer Meinung nach schießgeilen Grünröcken die Jagdausübung erschweren wollten. Oder von rachsüchtigen Spaziergängern, weil sie von einem Jäger wegen ihres freilaufenden Hundes zurechtgewiesen worden waren. Oder von Jugendlichen, die nicht wussten, wohin mit ihrer überschüssigen Kraft. Die Liste der möglichen Täter war lang.
Im Herbst waren Angriffe auf Jagdeinrichtungen eher die Ausnahme. Die bunten Farben der einschlafenden Natur schienen die Gemüter zu besänftigen. Jetzt im Frühling sah das anders aus. Die Jagd auf den Rehbock war freigegeben, und in Coburg hielten die Studentenverbindungen ihren Pfingstkongress ab, was nicht nur ihre Gegner, sondern auch militante Tierschützer anzuziehen schien. Jedenfalls meinte Astrid, dass sich die Angriffe auf Jagdeinrichtungen zu dieser Zeit häuften.
Toni hob eines der Bretter an. »Da liegt 'ne Mütze«, rief er.
Tatsächlich - eine grüne Strickmütze, mit einem verschmutzten Logo drauf. Sie wollte sie aufheben, ihre Finger wurden feucht. Das war Blut. Der Vandale musste sich bei seiner Aktion verletzt haben. Sie zog ihre Hand zurück.
»Des g'schieht dem Saukerl recht«, wetterte Toni neben ihr.
Sie sah sich um und hob ein anderes Brett hoch. Oha, ein benutztes Kondom. Angeekelt wendete sie sich ab, während Toni einen kurzen Pfiff ausstieß. »Wahrscheinlich ist dem beim Rammeln die Kanzel auf 'n Kopf g'falln.«
Er starrte sie durchdringend an, auf den schmalen Lippen eine unausgesprochene Frage. Außer ihr und ihrem Ehemann Holger ging hier niemand auf die Jagd. Hatte die Zerstörung der Kanzel vielleicht ihrem Mann gegolten? Immerhin benutzte er sie am häufigsten. Astrid wurde der Mund trocken.
»Dann rufen wir mal die Polizei an«, krächzte sie und holte ihr Handy aus der Jackentasche. Die Nummer der Polizeiinspektion war einprogrammiert, damit sie bei Verkehrsunfällen mit Wildbeteiligung nicht erst lange suchen musste. Unter Tonis aufmerksamen Blicken meldete sie den Vorfall. Sie steckte das Handy weg. »Dauert eine Weile, bis jemand vorbeikommt.«
»Was machst'n, wennste hier jetzt nimmer ansitzen kannst?«
»Dann muss der alte Hochsitz drüben am Waldrand noch mal herhalten.«
»Pass bloß auf, dass du dem Kerl mit der Axt net übern Weg läufst.«
»Keine Angst, Toni. Kaliber 7x64 sticht Hackebeil.« Sie machte eine Bewegung mit ihrem Zeigefinger, als zöge sie den Abzug eines Gewehrs durch. Ob sie das könnte? Auf einen Rehbock zu schießen war etwas ganz anderes als auf einen Menschen.
»Des wär wenigstens a g'scheiter Abgang für uns«, sagte Toni.
»Wie meinst du das?«
»Na, die Bayreuther wollen uns doch die Forstdienststelle dichtmachen.«
»Quatsch, eine zerstörte Kanzel juckt die Herren in Bayreuth nicht die Bohne.«
»Und was is mit der Leiche von vor sechs Wochen?«
»Du meinst, sie werden es müde, von uns in der Presse zu lesen? Erstens lag die im Nachbarrevier und zweitens ist der alte Mann ohne Fremdeinwirkung gestorben«. Der Unbekannte war vom Hund eines Spaziergängers gefunden worden. Vermutlich hatte er sich verirrt und war in der Nacht erfroren. »Ich sehe da keinen Zusammenhang zu unserem Holzhackerbuam.«
»Trotzdem is es .«
»Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand. Wenn die uns den Laden schließen, dann nicht wegen eines toten Wanderers, sondern als Einsparungsmaßnahme.« Für die Polizei legte sie die Mütze zurück auf den Boden.
»Ich mach des scho mit der Polizei«, sagte Toni.
Sein Angebot kam ihr gelegen, denn Zuhause wartete die Auswertung des Verbissgutachtens auf sie, das den jährlichen Rehwildabschuss bestimmte. Jedes Jahr wurden Bäume auf Schäden durch hungriges Rehwild untersucht, das sich im Winter an jungen Zweigen oder Baumrinden in Ermangelung anderer Futterquellen gütlich hielt. Überschritten diese Schäden ein gewisses Maß, schloss man auf eine zu hohe Rehwilddichte. Da man keine Horde verhungerter Rehe den Wald auffressen lassen wollte, musste der Mensch als Regulator eingreifen. »Ruf mich an, wenn sie eintreffen.«
Bei Astrid zu Hause war es still, ihre zwei Kinder weilten bei den Schwiegereltern. In ihrem Büro sahen ihr weiße Blätter mit unzähligen schwarzen Buchstaben darauf aufdringlich entgegen. Manchmal fragte sie sich, ob sie auch Försterin geworden wäre, wenn sie gewusst hätte, wie viel Papierkram damit verbunden war. Sie überflog das Gutachten und legte es zur Seite. Tonis Worte hallten in ihr nach: »Die Bayreuther wollen uns doch die Forstdienststelle dichtmachen.«
Bloß nicht daran denken. Was sollte dann aus ihr und den Kindern werden? Timmy hatte in diesem Schuljahr aufs Gymnasium gewechselt und Susanne ging in die zweite Klasse. Würde sie die beiden einfach so aus ihrer gewohnten Umgebung reißen können? Und Holger, ihr Mann? Er war Oberstudienrat am Victoria-Gymnasium in Coburg. Er würde nicht wegziehen wollen; weder wegen ihr noch wegen jemand anders.
Langsam fuhr sie sich durch das kurze Haar und übers Gesicht. Die Zahlen auf dem Papier verschwammen vor ihren Augen. Sie schob den Stapel zur Seite, sah auf die Uhr. Bald würde Holger heimkommen, sich umziehen und auf den alten Rehbock ansitzen, hinter dem er schon seit einem Jahr her war. Bockjagd war etwas Aufregendes, aber die Pflicht, möglichst viel Rehwild zu schießen, um den Wald zu schützen, verdarb ihr die Freude daran. Früher konnte man eine gewisse Anzahl Rehwild aus dem Bestand nehmen, konnte auswählen. Kranke und schwache Tiere wurden erlöst. Im Winter wurde gefüttert. Das Erlegen eines alten oder starken Bocks war etwas Besonderes, die Belohnung für die Mühen. Heute wurde von oben vorgeschrieben, wie viele Rehe auf einem Hektar leben durften, und es waren weit weniger als früher, daher musste geschossen werden, was vor die Flinte kam. Dabei wurde es immer schwieriger, denn die Rehe trauten sich kaum mehr bei Tageslicht aus ihrer Deckung zu treten, und weil sie Hunger hatten, hielten sie sich an Bäume. Ein Teufelskreis. Während ein privater Jagdpächter sich vielleicht noch herausmogeln konnte - wer wusste schon, wie viele Tiere sich tatsächlich zwischen zwei Revieren hin und her bewegten -, stand sie als Forstbeamtin für die Erfüllung des Abschusses gerade - der Unterschied zwischen dürfen und müssen.
Auch bevorzugte sie eher das Pflanzen von Bäumen als das Fällen. Aber der Staatsforst war nun mal ein Wirtschaftsbetrieb, in dem für Sentimentalitäten wenig Raum blieb.
Toni rief an und erklärte, die Polizei sei jetzt da, um den Tatbestand aufzunehmen. Gefasst wurden die Vandalen selten. Normalerweise ging es nur um umgestoßene Hochsitze - ein Schaden, der relativ leicht zu reparieren war -, aber dieses Mal war zerstörerische Gewalt mit im Spiel gewesen. Seltsam, das...
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