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"Da haben wir's. Mit euch verfluchten Arschgesichtern." - "Und ich brech dir Arm und Bein entzwei und werf sie zum Fenster hinaus."
Das sind Lenz' Soldaten, die da so fluchen. Derb und laut geht es in dem Drama zu. Schon seit Anfang der 1770er Jahre macht sich ein neuer Ton in Deutschland und auf deutschen Bühnen breit. Da wird geflucht, gelitten und gelebt. Leidenschaften brechen sich Bahn. Das gefällt nicht allen - der sehr kritische Wagner-Biograf Erich Schmidt spricht sogar von dem "Mistbeet des wüsten Geniethums". Und als Genies sehen sich die Schöpfer der neuen Literatur. Das ist arrogant? Das ist echte, wahre Literatur, finden sie. Sie sind jung: Johann Wolfgang Goethe ist gerade vierundzwanzig Jahre alt, Jakob Michael Reinhold Lenz wird in Kürze dreiundzwanzig, Friedrich Maximilian Klinger zweiundzwanzig und Heinrich Leopold Wagner siebenundzwanzig. Lediglich der Journalist Christian Friedrich Daniel Schubart ist mit neununddreißig fast schon alt. Ihre Energie ist so groß, wie ihre Namen lang sind.
Diese "Kerls" - das ist ihr Lieblingswort - und ihre Freunde rebellieren gegen das Althergebrachte, verehren Shakespeare und das Gefühl. Die selbst ernannten Genies sind dabei keineswegs Heilige, aber für Heilige ist die Zeit auch nicht gemacht. Wir werden sie und ihren Kreis, zu dem auch Goethes Freund Johann Heinrich Merck aus Darmstadt, Heinrich Christian Boie aus Göttingen mit seinen Hainbündlern, Johann Gottfried Herder oder der etwas wunderliche Schweizer Theologe Johann Caspar Lavater gehören, ein Jahr lang begleiten, ihre Freiheitssuche beobachten und ihren Leidenschaften, Lieben, Freund- und Feindschaften sowie ihren Blicken auf die Welt folgen. Werden sie erfolgreich sein und ihre Ideen durchsetzen können? 1774 wird für viele von ihnen ein Jahr mit wichtigen Weichenstellungen.
Und nicht nur junge, kraftstrotzende Männer gehören zu dem Kreis, auch einige Frauen - sie sind ihre Musen, die Objekte ihrer Leidenschaften, ihre Ratgeberinnen. Manchmal müssen sie aber ganz prosaisch den Alltag dieser Machos aufräumen. Denn Machos sind sie: Ihr Frauenbild ist sehr konservativ, wenig rebellisch, und wehe die Frauen fügen sich nicht. Wir werden sehen.
Die jungen Rebellen betrachten die Welt mit neuen Augen und möchten sie verändern. Alte Regeln wie die drei Einheiten auf der Bühne werfen sie über Bord. Freundschaft, Genie und Selbsthelfertum sind ihre Schlagworte. Handeln wollen sie, nicht reden. Sie sind auch ohne Smartphone, Whatsapp, SMS oder Facebook gut vernetzt: Briefe über Briefe werden gewechselt, ausgetauscht und einander vorgelesen. Man besucht sich, liest sich seine Schriften vor, kritisiert und kommentiert sie gegenseitig - und dabei geht man keinesfalls immer zimperlich miteinander um. Intrigen werden gesponnen, Scharmützel ausgetragen, Eitelkeiten gepflegt, Leidenschaften ausgelebt - immer geht es um alles oder nichts. So enthusiastisch der eine gefeiert und verehrt wird, so heftig wird auch gestritten, gestänkert und der andere in Grund und Boden geschrieben. Man nimmt kein Blatt vor den Mund, streitet für die freie Entfaltung der Individualität, für Selbstbestimmung und Freiheit. Das alltägliche Leben der Stürmer und Dränger steht nicht selten in Kontrast zu diesen großen Zielen: Viele kämpfen mit Geldnot, Unfreiheit und ungeliebten Stellungen.
Die Aufklärung, die vermeintlich das Licht der Vernunft über Europa ausgeschüttet und die letzten Jahre die europäische Gedankenwelt bestimmt hat, prägt die jungen Stürmer und Dränger; sie sind ein Teil von ihr, und doch kritisieren sie sie, grenzen sich von ihr und den Vätern der Aufklärung ab, wollen anders sein. Zu rational, zu kalt und zu vernunftfixiert ist den wilden Kerls die Epoche der Vernunft, zu sehr ignoriert sie Gefühl und die Sprache des Herzens. Aber auch in Zustimmung und Ablehnung der großen Aufklärungsväter ist man sich nicht einig. Es ist ein kompliziertes und häufig von persönlichen Empfindlichkeiten geknüpftes Netz der Beziehungen.
1774 - erstaunliche Werke erblicken in diesem Jahr das Licht der Öffentlichkeit, die etwas radikal Neues darstellen. Es ist das literarische Skandaljahr, in dem allen voran Goethes Werther erscheint und die Welt auf den Kopf stellt: Gefährlich soll er sein, dieser Roman, und die Jugend zum Selbstmord verleiten, heißt es. Aber auch von Lenz kommt radikal Neues: Sein Hofmeister kritisiert die Erziehungslandschaft - Bildung ist nämlich nur etwas für diejenigen, die es sich leisten können, und die bestimmen auch, was gelernt wird. Lenz' Drama Der neue Menoza ist harte Polemik gegen ein selbstzufriedenes Europa, das im moralischen Morast versinkt. Bezüge zur Gegenwart dürfen gerne gezogen werden! Und am Jahresende schreibt Lenz an seinen Soldaten und nimmt sich der Lage der Frauen an, die auf falsche Versprechungen der Männer hereinfallen. In Straßburg erlebt der junge Dichter das aus nächster Nähe.
Keineswegs geht es in diesen Werken nur um gute Unterhaltung der Leserschaft und des Bühnenpublikums. Die Werke stellen vielmehr Fragen, die ans Innerste der Gesellschaft rühren und die unser Denken und Handeln bis ins 21. Jahrhundert prägen: Welchen Einfluss hat die Gesellschaft auf das Individuum? Wie verantwortlich ist der Einzelne für seine Taten? Wie wollen wir unsere Kinder erziehen? Sind wir frei? Haben wir die volle Verfügungsgewalt über unser Leben? Haben bestimmte Menschen Vorrechte gegenüber anderen? Wollen wir nur verkopft und vernunftgesteuert handeln oder auch unsere Leidenschaften ausleben? Das sind in der Tat komplizierte Fragen, die hier aufgeworfen und diskutiert werden. Und manchmal schießen die jungen Kraftgenies über das Ziel hinaus und treten dabei anderen, bewusst oder unbewusst, auf die Füße. Das hat dann Auswirkungen.
Auch sonst ist die Welt 1774 kompliziert - wie immer. In Russland regiert Katharina die Große mit eiserner Hand: Es herrscht mal wieder Krieg zwischen Russen und Türken, einer von insgesamt elf. Seit 1768 geht das schon so, doch 1774 wird es ein Ende finden. In Lenz' Hofmeister ist davon die Rede: Der Major von Berg plant hier, nach Königsberg zu gehen und sich freiwillig für den russisch-türkischen Krieg zu melden, um darin zu sterben. Eine verschollene Tochter und eine unausstehliche Ehefrau treiben ihn dazu. Doch letztlich bleibt er wohlbehalten zu Hause. Auch Schubarts Chronik berichtet immer wieder von den Kriegsereignissen - aber später mehr dazu.
In Polen rumort es ebenfalls: König Stanislav ist ein Günstling Zarin Katharinas. Als sich der polnische Adel gegen ihn erhebt, unterstützen die Türken die Aufständischen. Polen und sein trauriges Schicksal überhaupt: Preußen, Österreich und Russland werfen alle drei seit Jahren begehrliche Blicke auf das Nachbarland. Für die russische Herrscherin ist Polen ein beliebiger Spielball. Um sich die Nachbarn vom Leib zu halten und in Ruhe ihren Krieg mit den Türken führen zu können, teilt sie 1772 mit Preußen und Österreich Polen einfach auf. Jeder der drei erhält ein Stück vom Kuchen. Nur die Polen haben jetzt kein eigenes Land mehr. Unsere Stürmer und Dränger sympathisieren mit den bedrängten Polen, vor allem Schubart.
In Österreich ist derweil ebenfalls eine starke Frau am Ruder: Maria Theresia. Friedrich der Große, der Preuße, mag sie gar nicht. Sie ihn umgekehrt auch nicht. In Frankreich regiert vorerst noch Ludwig XV., allerdings wird er bald das Zeitliche segnen. Die Franzosen sind nicht besonders traurig darüber: Zu viele Mätressen hat er verbraucht, zu pompös gelebt und zu viele Schulden lässt er zurück. Frankreich ist innerlich zerrüttet, es gärt. Sein Nachfolger Ludwig XVI. ist gerade neunzehn Jahre alt und mit Marie Antoinette, der Tochter der Österreicherin Maria Theresia, verheiratet. Das Paar wird traurige Berühmtheit erlangen, da es auf dem Schafott endet. Die Französische Revolution wird es hinwegfegen.
Auf deutschem Boden ist die Lage verwirrend: Über dreihundert Kleinstaaten gibt es - Hochstifte, Fürstpropsteien, Herzogtümer, Königreiche, Pfalzgrafschaften, Markgrafschaften, Abteien, Erzstifte, weltliche und geistliche Reichsfürsten. Sie bilden zusammen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation; die Kaiserkrone trägt der unglücklich agierende Kaiser Joseph II., der Sohn Maria Theresias.
Auch in der Schweiz, die seit dem Westfälischen Frieden nicht mehr zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehört, sieht es nicht viel besser aus: Viele absolutistisch regierte Kleinstaaten existieren nebeneinander und bilden einen losen Staatenbund. Ein Flickenteppich wie in deutschen Landen. Zürich, die Heimatstadt Lavaters, ist zum Beispiel ebenso wie Basel Stadtrepublik.
Selbst der Vatikan bleibt 1774 von Veränderungen nicht verschont. Im September 1774 stirbt Papst Clemens XIV., und bis Jahresende wird kein neuer Papst gefunden.
Sogar die gekrönten Häupter hat das Zeitalter der Aufklärung nicht kalt gelassen. "Aufgeklärten Absolutismus" nennt man ihren Herrschaftsstil heute, auch wenn der Begriff durchaus umstritten ist. Friedrich der Große ist mit dem französischen Aufklärungsphilosophen Voltaire befreundet. Den wiederum mögen unsere Stürmer und Dränger weniger. Beim Herrschen soll jedenfalls die Vernunft das Zepter führen, was trotz mancher Reformversuche nicht immer gelingt.
Nicht nur das alte Europa wird von Krisen erschüttert - auch in Übersee überschlagen sich die Ereignisse. Die dreizehn amerikanischen Kolonien...
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