Schweitzer Fachinformationen
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Sterben
Mein Tod war nicht vorauszusehen gewesen. Er kam wie aus dem Nichts. Am Tag zuvor war ich noch ganz ich selbst gewesen. Wir hatten zu Silvester Gäste eingeladen und verbrachten den Abend mit Gesprächen, Gesang, Musik und gutem Essen. Als es auf das Jahr 2013 zuging, standen wir mit Sektgläsern in der Hand rund um den Fernseher und verfolgten auf der Uhr am Kopenhagener Rathausturm den Countdown bis Mitternacht. Ich liebte den magischen Augenblick zwischen der letzten Sekunde des alten Jahres und der ersten des neuen: ein kurzes Innehalten zwischen Vergangenheit und Zukunft, voller Versprechungen und Erwartungen. Später fiel ich überglücklich und von der Feier erfüllt ins Bett.
Am nächsten Morgen waren wir noch immer in Festtagsstimmung. Es war ein wunderschöner Tag - ein kalter, klarer Wintertag mit gerade genug Schnee, dass der Boden bedeckt war, und einer Eisschicht auf den Pfützen, die nur darauf wartete, vom ausgelassenen Sprung eines Kindes geknackt zu werden. Unser Spaziergang führte uns am Fluss in der Nähe unseres Hauses entlang. Wir lebten in einer großen dänischen Stadt, einem schönen, etwas verschlafenen Ort. Das Haus hatten wir einige Jahre zuvor gekauft, kurz bevor unser jüngster Sohn Daniel zur Welt kam. Damals waren wir aus einer größeren Universitätsstadt weiter im Süden hergezogen, weil wir mehr Platz und einen Garten für unsere drei Kinder wollten.
Im Lauf der Jahre hatten wir viel Arbeit in das Haus gesteckt, Wände eingerissen, neue hochgezogen, Fußböden verlegt und alles in hellen Farben gestrichen. Wir hatten noch nie zuvor in einem Haus gewohnt, das uns gehörte, und machten es zu unserem Zuhause. Als uns die Arbeit mehrere Jahre ins Ausland verschlug, behielten wir das Haus und kehrten stets in den Sommerferien dorthin zurück, was Daniel zu der Annahme verleitete, in Dänemark sei immer Sommer. Ich liebte unser Haus. In schweren Zeiten, wenn wir schlechte Nachrichten verdauen oder stressige Phasen durchstehen mussten, diente es uns als Rückzugsort. Es war unser sicherer Hafen. Ein Ort, an dem nichts Schlimmes passieren konnte.
Der Fluss, an dem wir entlangspazierten, führte zum Meer. Die Kinder rannten auf dem Pfad hin und her: Johan, gerade achtzehn, für die Feiertage vom Auslandsstudium in Hongkong heimgekehrt, und die vier Jahre jüngere Victoria - zwei Teenager, die ihrem kleinen Bruder hinterherjagten und darüber ganz vergaßen, dass sie ja eigentlich gerade erwachsen wurden. Mein Mann Peter war in ein Gespräch mit einem alten Freund und Kollegen aus England vertieft, der bei uns übernachtet hatte. Ich konnte aus der Entfernung sehen, wie Peter mit den Armen gestikulierte, eine Bewegung, die mir so vertraut war, dass sie mir fast wie meine eigene vorkam. Ich hatte sie schon unzählige Male gesehen, wenn er eine Aussage unterstreichen oder ein ernstes Thema durch einen unterhaltsamen Kommentar auflockern wollte.
Peter hat ein einnehmendes Wesen, er ist wortgewandt und charismatisch. Schon als ich ihm zum ersten Mal begegnete, bewunderte ich seine Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen und ihnen das Gefühl zu geben, sie seien etwas Besonderes. Wir hatten uns auf einer Weihnachtsfeier in der Universität kennengelernt, wo wir bei einem Wissenschaftsquiz zu einem Zweierteam zusammengelost worden waren. Purer Zufall. Wir gewannen. »Du und ich, wir sind ein tolles Team, oder?«, hatte er gesagt.
Wie ich nun am Flussufer entlanglief, fröstelte ich, die Kälte drang mir bis in die Knochen. Meine Glieder fühlten sich bleischwer an. Niemandem fiel auf, dass ich zurückfiel. Ich versuchte, die anderen einzuholen, schaffte es aber nicht. Als ich Peter rufen wollte, fehlte mir die Luft dazu. Doch ich dachte nicht weiter darüber nach. An Neujahr ist schließlich jeder müde. Kurz darauf kam Daniel, unser fröhlicher, sorgloser achtjähriger Sohn, angelaufen, um sich hinter mir zu verstecken, damit die anderen ihn nicht fingen. Als Victoria ihren Vater erwischte und sie alle lachend um mich herumliefen, blieb ich einfach stehen und lächelte über das ausgelassene Treiben.
Wieder zu Hause, war mir immer noch kalt. Während die anderen sich auf verschiedene Zimmer verteilten, ließ ich mir direkt ein Bad ein, legte mich in das heiße Wasser und fragte mich, warum mir nicht wieder warm wurde. Es war nie gut für mich, wenn meine Körpertemperatur schnell stieg oder fiel, und ich wollte sicherstellen, dass sie sich stabilisierte.
Mit zwanzig war bei mir SLE - Systemischer Lupus erythematodes - diagnostiziert worden, eine chronische Autoimmunkrankheit, bei der das Immunsystem irrtümlich gesundes Gewebe angreift. Wer an SLE leidet, neigt dazu, schneller krank zu werden, und obwohl ich mittlerweile nicht mehr deswegen in Behandlung war, lebte ich seit vielen Jahren mit den Risiken und den notwendigen vorbeugenden Maßnahmen und hatte immer noch Angst vor Rückfällen und einem schweren Wiederaufflammen der Krankheit. Es war wichtig, dass meine Körpertemperatur niemals über 38 Grad stieg; selbst wenn sie diesen Wert nur geringfügig überschritt, musste ich einen Arzt rufen.
Abgesehen von gelegentlichen Gelenkschmerzen und Müdigkeitsphasen setzte mir die Krankheit nicht übermäßig zu. Sie hatte im Grunde kaum Auswirkungen auf mein Leben. Die Gelenkbeschwerden oder ein leichter schmetterlingsförmiger Ausschlag auf den Wangen und auf dem Nasenrücken waren Zeichen von Erschöpfung und mangelnder Ruhe und ein Indikator, dass die Krankheit sich regte. Ich wusste, dass ich diese Warnsignale ernst nehmen musste, und legte dann eine Ruhepause ein. Schon kurz nach Erhalt der Diagnose hatte ich beschlossen, mein Leben nicht von der Krankheit bestimmen zu lassen, es trotzdem in vollen Zügen zu genießen.
Doch jetzt machte es mich ein wenig nervös, dass ich es nicht schaffte, wieder warm zu werden. Als ich aus der Badewanne stieg, bibberte ich vor Kälte. Meine Muskulatur arbeitete hart, sie zog sich rasend schnell zusammen und lockerte sich wieder, aber mein Körper schien keinerlei Wärme zu produzieren. Ich legte mich ins Bett und rief Peter.
»Könntest du mir ein paar Decken bringen?«, bat ich ihn.
»Geht es dir gut?«
Ich entschied, dass ich ihm nicht antworten musste.
Als Peter die Decken über mir ausbreitete, sah er besorgt aus. So schaute er immer, wenn etwas nicht stimmte.
»Ich friere immer noch.« Meine Zähne klapperten und meine Glieder zitterten.
Peter wies Johan an, ein paar Daunendecken zu holen, die sie gemeinsam über mir auftürmten. Ich brachte es nicht über mich, ihnen zu gestehen, dass mir immer noch war, als läge ich in einem Bett aus Eis.
In Skandinavien wird es im Winter früh dunkel. Um vier Uhr nachmittags brannte das Licht im Schlafzimmer, und die Helligkeit stach mir wie kleine Eiszapfen in die Augen. Ich bat Peter, das Licht auszuschalten, und schaffte es, ihm zu sagen, dass ich ihn rufen würde, wenn ich etwas bräuchte.
»Okay. Dann lass ich dich jetzt allein, damit du dich ausruhen kannst.« Aber als er rausging, ließ er die Tür offen.
Meine Temperatur sank weiter, und die Stunden, die verstrichen, kamen mir vor wie Tage. Im Haus war es ruhig, die Stimmung gedämpft, als bemühte man sich meinetwegen, leise zu sein. Vielleicht waren nach der Silvesterfeier aber auch alle müde. Daniel spielte wahrscheinlich mit Lego, Victoria las und Johan und Peter bereiteten das Abendessen zu. Ich beschloss, dass auch ich einfach erschöpft war und mir eine normale Erkältung eingefangen hatte. Nichts Ernstes.
Doch dann kam das Fieber. Im einen Augenblick lag ich frierend und zitternd da, im nächsten glühte ich vor Hitze. Meine Temperatur schnellte rauf und runter. Meine Gedanken wurden wirr und laut. Mussten die Kinder morgen zur Schule? Was brauchten sie dafür? Ich wollte aufstehen und ihre Schultaschen packen.
Ich bekam nur vage mit, wie die Kinder mir gute Nacht sagten und Peter ins Bett kam. Einen kurzen Augenblick lang nahm ich wahr, dass er etwas sagte, aber dann überwältigte mich der unaufhaltsame Drang, meinen Darm zu entleeren, und machte jedes Zuhören unmöglich. Victoria kam aus ihrem Zimmer und stand im Flur, als ihr Vater mich, unterstützt von Johan, ins Bad bugsierte. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung, das war zu spüren. Ich wollte ihnen sagen, dass alles gleich wieder gut wäre, doch die Krämpfe, die meinen Körper schüttelten, hielten mich davon ab. Peter schob die Tür hinter mir zu und verschaffte mir so die Privatsphäre, die mir in meinem Zustand völlig egal war.
Erbrochenes und Durchfall schossen förmlich aus meinem Körper. Ich versank im Fieberwahn, und in meinen wenigen klaren Momenten versuchte ich Peter zu sagen, dass ich schon zurechtkäme, wenn er mich eine Weile in Ruhe ließe, und ob er bitte aufhören könne, solchen Lärm zu veranstalten, denn dann ginge es mir besser. Aber Peter war ganz still. Die Geräusche waren mein Würgen und das Ächzen meines schmerzgeplagten Körpers.
Plötzlich fühlte ich mich für einen Augenblick besser. »Ich brauche keinen Arzt«, sagte ich. »Nur ein bisschen Ruhe. Gönn dir ein bisschen Schlaf. Ich rufe dich, wenn ich dich brauche.« Doch noch bevor Peter antworten konnte, schoss es wieder aus mir heraus, noch schlimmer als zuvor.
»Rikke, ich rufe den Arzt«, erklärte er entschieden.
Ich bekam nicht mit, was er am Telefon sagte, aber anscheinend reichte seine Beschreibung aus. Der Arzt, der Notdienst hatte, erklärte sich zu einem Hausbesuch bereit.
Er kam durchs Haus getrampelt, ohne seine schlammverkrusteten Schuhe auszuziehen, und...
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