Schweitzer Fachinformationen
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Alle wollen in unserer Gesellschaft gesehen und verstanden werden, aber die wenigsten wollen sehen und verstehen ? ein krasses Missverhältnis. Alle beanspruchen für sich »Einzigartigkeit«, aber der Gesellschaft liegt nicht Selbstverwirklichung, sondern Beziehungsverwirklichung zugrunde.
In seinem neuen Buch geht Wilhelm Schmid daher der Frage nach, welche Werte die Gesellschaft braucht. Was hält sie (halbwegs) zusammen? Bedarf sie einer »Identität« oder besser einer »Integrität«? Einer »Leitkultur«? Wie wichtig ist Wahrheit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und wie wird sie gefunden? Und warum haben Autokratien keine Zukunft, auch wenn sie aktuell auf dem Vormarsch sind?
Die Gesellschaft lebt von Bürgern, denen nicht alles egal ist und die Sorge für sie tragen. Höchste Zeit, das Wort »bürgerlich« zu rehabilitieren, das einst in Verruf gebracht worden ist. Und wie umgehen mit Wutbürgern? Bei Begegnungen mit ihnen entdeckt der Autor, was trotz allem verbindend wirkt: Die kleinen und großen Lebensfragen.
Ein erzählendes Sachbuch, prallvoll mit Einblicken, Hintergründen und überraschenden Begegnungen
Der Zug fährt ein, die Türen öffnen sich, eine junge Frau mit Kinderwagen will aussteigen. Es ist schwierig, den Wagen über die Stufen am Zug hinab zu manövrieren. Sofort sind helfende Hände da. Den zugehörigen Gesichtern nickt die Frau kurz zu, Danke, dann gehen alle weiter. Keine spektakuläre Szene, einfach nur Alltag. Hilfe für jemanden, der sie benötigt. Niemand musste lange überlegen. Niemand fand das Verhalten falsch. Etwas lief richtig, ohne dass es der Rede wert gewesen wäre. Was sagt das über die Gesellschaft aus, in der wir leben? Ist sie besser als ihr Ruf? Wird das Ich eben doch flugs zum Wir, wenn es darauf ankommt?
Augenblicklich ist ein Zusammenhalt entstanden, ohne dass ein Ich sich dafür hätte aufgeben müssen. Ich und Wir, in dieser Reihenfolge: Ein Ich muss bereit sein und die Kraft dafür haben, Anderen zur Seite zu stehen. Die Wahrscheinlichkeit für die Bereitschaft dazu oder gar die Freude daran wird größer, wenn es mit sich selbst gut zurechtkommt. Wer sich auf den Umgang mit sich versteht, kann sich auch eher Anderen zuwenden. Damit ein zugewandtes Ich entsteht, ist allerdings ein vorgängiges Wir hilfreich, eine förderliche soziale Umgebung, eine freundliche Gesellschaft. Deren Entstehen wiederum auf Ichs angewiesen ist??.
Wo anfangen? Manche meinen, das Ich gehöre der Vergangenheit an, Wir statt Ich. Aber das Ich ist eine Errungenschaft, die nicht aufgegeben werden sollte. Es wurde gegen ein dominantes Wir erkämpft, gegen übermächtige Zwangsgemeinschaften mit einem Ober-Ich, Herrscher, Fürst, König, Kirchenführer, Familienpatriarch. Viele Unter-Ichs taten sich zusammen, um eine Gesellschaft frei von solcher Herrschaft zu begründen, die Geburtsstunde der modernen Demokratie. Erkämpft wurde das Recht jedes Einzelnen, ein eigenständiges Wesen zu sein. Das befreite Ich war die treibende Kraft der Moderne, die viele Verbesserungen des Lebens herbeigeführt hat. Begeistert von sich, neigt es jedoch zu Übertreibungen, Ich statt Wir. Es hat zu oft nur noch Selbstverwirklichung im Sinn und beansprucht »Einzigartigkeit« für sich, die es zweifellos auch gibt, aber ist das schon alles?
Einiges spricht dafür, das Ich nicht zu überhöhen, vorweg das kluge Eigeninteresse: Es ist nützlich, nicht nur mich zu sehen. Jedem Ich hilft es, sein Beziehungsgeflecht zu einem Wir zu verdichten: Im Verbund mit Anderen ist das Leben besser zu bewältigen, insbesondere wenn es schwer wird. Ein noch besserer Grund ist das freudige Interesse an Anderen: Es ist schön, nicht nur mich zu sehen. In jeder Art von Wir ist die Vertrautheit und Geborgenheit einer Heimat zu finden, die das Leben bejahenswerter macht. Schon aus diesen Gründen ist die Selbstverwirklichung unvollständig ohne Beziehungsverwirklichung. Beziehung begründet Sinn. Je mehr mir bewusst wird, wie sehr ich trotz unterschiedlicher Tätigkeiten und Sichtweisen mit Anderen zusammenhänge, desto mehr Sinn im Leben sehe ich. Ich und Wir: Das Hin und Her dazwischen ist von Interesse. Im Und liegt der Sinn, der die Ichs umso mehr erfüllt, je vielfältiger ihre Beziehungen sind. Die Sorge für Zusammenhänge zwischen Ich und Wir mündet in den Zusammenhalt, der allen zusammen Halt verleiht und im besten Fall lange hält. Wo aber Zusammenhänge verschwinden, und sei es nur aus den Augen, entschwindet auch der Sinn. Niemand sieht Sinn dort, wo alles auseinanderfliegt.
Das befreite Ich, das kein Und und somit kein Wir mehr kennt, driftet in die Sinnlosigkeit. Seine Freiheit erschöpft sich im Freisein von Anderen. Es verfehlt die gesteigerte Freiheit, das Freisein zu Anderen, um sie zu sehen, mit ihnen zu denken, zu fühlen und zu handeln. Ein veraltetes, verkürztes Verständnis von Autonomie ist das Problem. Es liegt aber am Ich selbst, daran etwas zu ändern. Nicht nur ich will gesehen werden, sondern auch Andere wollen das. Ich schaffe ein Wir schon durch das gelegentliche Entgegenkommen, das Andere erfreut. So wird das solitäre Ich in Situationen wie der geschilderten, erst recht in weit schwierigeren, zum solidarischen Wir. Das Streben danach wird erkennbar im Bemühen vor allem jüngerer Menschen, alles Mögliche zu teilen, to share, und auf jede Weise zu kooperieren, Co-Working, Co-Living, Co-Creation. Das neu entstehende Wir aber sollte nicht wieder in Zwangsverhältnisse zurückfallen. Nachdem das alte, unterjochende Wir in moderner Zeit überwunden wurde, sollte es möglich sein, zu einem neuen, freien Wir zu kommen, ohne die Ichs zu negieren, die in der endlosen Kette der Existenzen, der Blockchain des Lebens, die unverzichtbaren Bindeglieder sind.
Freies Wir, ja, aber wie? Wie kommt das Zusammenwirken von Menschen zustande, durch das Gesellschaft entsteht? Nicht nur von Mal zu Mal, sondern anhaltend? Das ist bereits seit Sokrates, Platon und Aristoteles eine philosophische Frage. Sie wird wieder virulent in Zeiten, in denen die bestehende Gesellschaft zu zerbrechen droht. Aber wir Ichs sind keine Monaden mehr, also abgeschlossene Einheiten ohne Fenster und Türen, wie Gottfried Wilhelm Leibniz noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts meinte. Uns verbinden Lebensfragen, die sich nicht nur mir stellen. Wir sind auch nicht die Atome einer atomisierten Gesellschaft, die zu Molekülen keine Kraft mehr haben. Vielmehr sind wir mit Neuronen vergleichbar, die mit Synapsen für die Vernetzung untereinander sorgen. Eine gesteigerte individuelle und gesellschaftliche Intelligenz wird dadurch möglich. Die Gesellschaft ist ein Megabrain, ein großes Gehirn, für das nicht die Zahl der Neuronen, sondern die Vernetzung entscheidend ist, ein Wir im Kleinen und großen Ganzen, bei dem jedes Ich sich mit vielen anderen Ichs verbinden kann.
Dass die Neuronen ohne Synapsen auskommen wollen: Das ist die Gefahr der Auflösung des Zusammenhalts. Das Problem der modernen Gesellschaft sind dabei nicht nur fehlende und zerbrechende Beziehungen, sondern auch - unsichtbare Menschen. Viele klagen darüber, nicht gesehen zu werden, aber nicht viele bemühen sich darum, Andere zu sehen, ein krasses Missverhältnis. Ich will mit diesem Buch gegensteuern und mich auf eine Reise durch die Gesellschaft begeben, um so viele Andere wie möglich zu sehen. Mich interessiert, was es heißt, in Gesellschaft zu leben. Wie kommt sie zustande? Wer kümmert sich um sie? Welche Bedeutung hat etwa die Wirtschaft für sie? Welchen Gefahren ist sie ausgesetzt? Was hält sie (halbwegs) zusammen und stärkt sie? Weniger in einer Analyse der Gesellschaft sehe ich meine Aufgabe, mehr in einer Synthese, einer Zusammenfügung ihrer Bestandteile. Neben der punktuellen Vertiefung geht es mir um das größere Bild, das die Gesellschaft konkret sichtbar macht und sie näher an das Ich heranrückt, statt nur eine abstrakte Größe zu sein.
Den Anfang soll hier, wie auch sonst, die Phänomenologie machen, die Wahrnehmung der Phänomene und das Nachdenken darüber. Wem begegne ich und was erlebe ich, wenn ich mich »in Gesellschaft begebe«? Gesellschaft entsteht täglich neu in den Begegnungen, die gewohnt oder überraschend sind, in den Geschichten, die dabei erzählt werden, in den Auseinandersetzungen, die durchzustehen sind. Ich berichte von Gesprächen etwa mit einem philosophisch interessierten Busfahrer, einem ökologisch desinteressierten Unternehmer, einem wütenden Gelegenheitsarbeiter. Ich erinnere mich an eigene Erfahrungen in der Politik und wie ich ins Visier des Staatsschutzes geriet, besuche ein Klärwerk, interessiere mich für die Arbeit des Ordnungsamts, sammle Erfahrungen in der Wirtschaft, gründe ein Café, mache mir Gedanken zur Volksmusik und absolviere mit der 12. Klasse eines Gymnasiums eine Schulstunde, aus der Überlegungen zu einer »Schule der Lebenskunst« hervorgehen.
Und was hält die Gesellschaft nun zusammen? Die Antwort finde ich bei sorgenden Ichs, denen das Wir nicht egal ist. Wir brauchen Sorgende, jedes Wir braucht sie. Sie erneuern und erweitern das Verständnis von Autonomie. Sie sorgen auf allen Ebenen und in allen Bereichen dafür, dass eine vertraute Heimat für möglichst viele in der Gesellschaft entsteht. Nach einer längeren Zeit größerer Sorglosigkeit nehmen sie die neue Zeit der Sorge ernst, die in der Geschichte angebrochen ist. Für mehr Zusammenhalt ist sicherlich eine äußere Verfassung mit garantierten ...
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