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Sie hatten die Revolution 1905 scheitern sehen und rechneten mit der russischen Intelligenzija ab, der sie selbst angehörten. In der Niederlage sahen sie die Chance einer radikalen Selbstbesinnung. So beschrieb der Historiker Karl Schlögel das Vorhaben von Autoren wie Pjotr Struwe, einem frühen Weggefährten und späteren Gegenspieler Lenins, der 1909 zusammen mit Nikolaj Berdjajew, Semjon Frank und Sergej Bulgakow den legendären Essayband Wegzeichen zur Krise der russischen Intelligenz herausbrachte. Sie und die anderen Autoren, unter ihnen Juristen, Nationalökonomen, Sozialtheoretiker und Religionsphilosophen, setzten ihre Hoffnung auf die Liberalisierung und begrüßten die Februarrevolution 1917.
Das Schicksal mancher Bücher gleicht dem einer Flaschenpost: dem Meer übergeben, meist von Schiffbrüchigen, in der Hoffnung, dass die Botschaft irgendwann und irgendwo doch in die Hände von jemandem gerät, der in der Lage ist, sie zu entziffern oder doch wenigstens weiterzugeben an jene, für die die Botschaft bestimmt war. De profundis aus dem Jahre 1918 ist eine solche Flaschenpost. Von wenigen Exemplaren abgesehen, die 1921 von den Druckern der Typographie Kuschnerew in Moskau unter die Leute gebracht worden waren, hat sie ihren Adressaten erst ein halbes Jahrhundert später erreicht, als die Aufsatzsammlung im Pariser Exilverlag YMCA-Press 1967 veröffentlicht wurde und von dort aus auch ihren Weg zurückfand in das Ursprungsland, wo sie verfasst worden war: nach Russland. Als der Band nach langer Odyssee ankam, war die Sowjetunion bereits in das Stadium der »Stagnation« eingetreten; im Untergrund entstanden Gegenöffentlichkeiten, die ein Jahrzehnt später mit der »Perestroika« die Erosion des Imperiums einleiteten. Unter den Schollen hervor, eine Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1974, mit so prominenten Beiträgern wie Alexander Solschenizyn, oder Boris Schragins Widerstand des Geistes von 1977 waren schon vom Titel her eine Art Kontaktaufnahme mit der Generation der vorrevolutionären Intelligenzija. Ein halbes Jahrhundert nach den Ausweisungsaktionen des Jahres 1922 war die Intelligenzija »wieder zu Atem gekommen«, gezwungen, sich erneut mit ihrem Selbstverständnis und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Sie nahm damit eine Debatte wieder auf, die mit der spektakulären Selbstkritik der russischen Intelligenz nach der ersten Revolution von 1905, dokumentiert in dem Band Wegzeichen von 1909, eingesetzt hatte, mit der Unterdrückung des Bandes De profundis zur Einschätzung der russischen Revolution 1918 abgebrochen wurde und allenfalls im Exil - mit dem Band Wechsel der Wegzeichen von 1921 - weitergeführt werden konnte.1 Als mit dem Ende der Sowjetunion 1991 auch die Zensur gefallen war, erschienen die lange verbotenen Texte, die bis dahin nur einem winzigen Kreis bekannt gewesen waren, wissenschaftlich kommentiert in großen Auflagen. Dies geschah jedoch bereits zu einem Zeitpunkt, da das Publikum den Geschmack an den lange verbotenen Früchten schon zu verlieren begann und ganz und gar von anderen Themen - Bewältigung des Alltags, Eintauchen in die Welt des Konsums, Auslandsreisen - beansprucht war. Die Flaschenpost war angekommen, aber nun schien ihr der Empfänger abhandengekommen zu sein, auch war ungewiss, in wessen Hände im nachsowjetischen Russland die Botschaft »de profundis« geraten war und wer mit ihr etwas anfangen konnte.
Die Veröffentlichung des Bandes nun auch in deutscher Sprache bedeutet mehr, als eine »Forschungslücke« zu schließen, und sie will mehr, als nur Autoren Gerechtigkeit widerfahren lassen, deren Texte im geschichtlichen Tumult des 20. Jahrhunderts untergegangen sind. Wenn Jahrzehnte vergehen mussten, bis sie den Lesern zugänglich wurden, so besagt dies etwas über das Jahrhundert, die Zeit, die Umstände, in denen das freie Wort untersagt war, in denen Bücher wie Konterbande über die Grenzen geschmuggelt werden mussten, und über ein »System«, das solche Wortmeldungen nicht ausgehalten hat. Der Wert von Manuskripten bemaß sich in dieser Umgebung nicht nach kritischen Rezensionen und Auflagenstärke, sondern nach der Strafe, die man sich für den Besitz des Texte und dessen Lektüre einhandeln konnte. Es ist daher zunächst die schlichte Pflicht der Nachgeborenen, Stimmen, die zum Schweigen verurteilt waren, Autoren, die aus dem Verkehr gezogen wurden, zurückzuholen, ihre Namen, die nicht mehr genannt und aus den Enzyklopädien getilgt worden waren, zu rehabilitieren, eine durch Verbannung und Zensur erzeugte Leerstelle zu füllen.
Es handelte sich um Autoren, die einen Namen gehabt hatten, Repräsentanten des Geisteslebens Russlands vor der Revolution, sie waren Referenzpersonen in einer geistigen Welt und in einer schon einmal erkämpften und gewachsenen Öffentlichkeit, die in den Umbrüchen nach 1917 zerstört wurde. Jeder dieser Namen steht für eine eigenständige Leistung, ein spezifisches Profil, doch sie alle gehören einer Generation an, die um die 1870er Jahre herum geboren, die intellektuellen Gärungsprozesse und revolutionären Strömungen des späten Zarenreiches mitbekommen und ihren Anteil am Silbernen Zeitalter gehabt hatte, an Russlands Beitrag zur europäischen Moderne. Sie standen für unterschiedliche Disziplinen und Sphären. Unter ihnen waren Philosophen wie Sergej Askoldow, Nikolaj Berdjajew, Sergej Bulgakow, Semjon Frank und Walerian Murawjow; sie hatten ihre Universitätskarrieren wie Pawel Nowgorodzew, Sergej Kotljarewski und Iossif Pokrowski; darunter war eine Kultfigur der Petersburger literarischen Szene wie Wjatscheslaw Iwanow, ein brillanter Analytiker und Publizist wie Alexander Isgojew und ein aus einer Gelehrtendynastie stammender Politiker wie Pjotr Struve, der Mitverfasser des ersten Parteiprogramms der russischen Sozialdemokratie. Sie teilen eine an Windungen reiche Generationserfahrung, da das Russische Reich zum Zentrum nicht nur einer politischen Revolution, sondern einer sozialen Umwälzung wurde; viele von ihnen kannten sich aus Kontroversen, die bis heute als Marksteine in der Geschichte des kulturellen und intellektuellen Lebens Russlands gelten - so die Publikation der Probleme des Idealismus von 1902, die Wegzeichen von 1909. So auch De profundis von 1918. Es gehört zu den Paradoxien der russischen Kulturentwicklung im 20. Jahrhundert, dass Flucht und Exil viele der betroffenen Autoren vor einem Schicksal bewahrten, das andere ihrer Generationsgenossen und Weggefährten, die im Land geblieben waren, ereilte: der Tod durch Erschießen, der Untergang in den Säuberungen der Stalinzeit.
Indes handelt es sich bei der Veröffentlichung nicht bloß um eine späte Pflichtübung und allzu späte Wiedergutmachung, um eine der vielen Ungerechtigkeiten in der Geschichte des europäischen Geistes zu korrigieren. Jenseits eines um Rekonstruktion unterbrochener Traditionslinien bemühten editorischen Projekts und jenseits eines bloß antiquarischen Interesses bietet die Textsammlung von De profundis noch einmal, ein Jahrhundert nach den »Zehn Tagen, die die Welt erschütterten«, einen Zugang, sich mit Ereignissen auseinanderzusetzen, über die alles schon gesagt zu sein scheint. Diese Lektüre ist alles andere als einfach, und man mag sich sogar fragen, ob sich die Mühe lohnt, Texte zu lesen, die uns so fern gerückt sind wie die Ereignisse, von denen sie handeln.
In hundert Jahren historischer Rekonstruktionsarbeit und soziologischer Aufklärung haben wir uns ein Bild von der russischen Revolution verschafft, das die Begriffe, die Terminologie, die analytischen Koordinaten, die von den Autoren des vorliegenden Bandes verwendet werden, weit hinter sich gelassen zu haben scheint. Es liegt nicht nur am Erkenntnisprivileg, das allen Nachgeborenen - ohne eigenes Zutun - zugefallen ist: mit der zeitlichen Distanz zum Geschehen aus dem Tumult und der Unübersichtlichkeit heraus zu sein, Details, die andere im Getümmel übersehen oder vergessen haben, im Archiv nachgeprüft zu haben, in den Genuss gekommen zu sein, leidenschaftslos - »sine ira et studio« - urteilen zu dürfen und eine Klarheit gewonnen zu haben, die schlüssige Narrative möglich macht.
Mit den Texten von De profundis tauchen wir noch mal in eine, wie es scheint, längst bekannte und durcherzählte Geschichte ein. Wer sich darauf einlässt, bekommt es zunächst mit einer Sprache zu tun, die zu verstehen einer Leserschaft, die durch soziologische Aufklärung und Historisierung hindurchgegangen ist, nicht leichtfällt. Ideologiekritisch geschult, in historischer Reflexion versiert, hat sie ihre Schwierigkeiten, wenn über geschichtliche Prozesse in der Terminologie von Schuld, Sühne, Lüge, Verbrechen, Verrat gesprochen wird. Wo der zeitgenössische Leser eine Erzählung, die Darstellung eines Ablaufs erwartet, kommen einem Passagen aus der Apokalypse und biblische Gleichnisse entgegen. Wo er gewöhnt ist, politische Programme und Parteien zu analysieren, wird hier von psychologischen und mentalen Dispositionen von Akteuren - Rasputin, Kerenski, Lenin - geredet; wo die Geschichtswissenschaft von politischen Institutionen oder Entscheidungsprozessen spricht, weht durch die Texte der De profundis-Autoren der Geist religiöser Bekenntnisse. Umbrüche und tektonische Verschiebungen, die eigentlich das Feld sozialhistorischer oder ethnographischer Forschung sind, werden in den Kategorien von Sünde und Buße verhandelt. Darüber, so sollte man meinen, sind wir mit grandiosen Gesamtdarstellungen und dramatischen Erzählungen zum »Großen Oktober« oder zur »Tragödie eines Volkes« längst hinaus, alles scheint erforscht, minutiös erzählt, und es fällt uns schwer, auch nur jenen Seufzer, jenen Verzweiflungsschrei - »Aus tiefer Not schrei ich zu Dir« - wahr- und vor allem: ernst zu nehmen. Manche Begriffe - »Volksgeist« oder »Russische Seele« - scheinen überholt, wie aus den fernen Zeiten der Völkerpsychologie. Die Metaphorik von der Revolution als »Krankheit«, »Zerfall der...
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