1. KAPITEL:
SKI IST AUA!
Deutsche Meisterschaften der Alpinen in Balderschwang. Tiefster Winter. Der Riedbergpass ist mal wieder gesperrt. Diese steile Bergstraße ist die Verbindung vom Tal (Fischen/Obermaiselstein) in das allseits bekannte "Bayerisch Sibirien". Diese kleine Gemeinde Balderschwang mit ihren nur etwa 200 Einwohnern steht für maximale Schneesicherheit. Und zwar vom Spätherbst bis weit in den Frühling hinein. Zumindest zu dieser Zeit damals. Wie geschaffen eigentlich als Heimat des Bergschauers. Ein Hochtal in den Alpen, nur ein paar Meter von der Grenze nach Österreich. Auf den Bergschauer kommen wir erst etwas später zu sprechen. Er sei an dieser Stelle aber schon mal erwähnt. Der Zeitgenosse Bergschauer.
Auch an diesem Wochenende hat es extrem stark geschneit. Meterhohe Schneewände rechts und links der schmalen Straße. Der Ü-Wagen, das ist eine Art Lkw, in dem sich die Technik für die Übertragung der Beiträge befindet, kommt deshalb zu spät. Die Nervosität steigt von Minute zu Minute. Schließlich ist alles neu für mich, total neu. Ich darf zum ersten Mal für den Bayerischen Rundfunk (BR) live vor Ort berichten. Warum lässt man mich? Ganz einfach, ich bin in ebendiesem Balderschwang groß geworden. Geboren bin ich im Flachland, in Dortmund, weit weg von allen Skipisten. Wir zogen später ins Allgäu, als ich noch ein Kind war, Anfang der Siebzigerjahre. Ich bin dann in Fischen (Grundschule) und Oberstdorf (Gymnasium) zur Schule gegangen. Heißt: jeden Tag mit dem Schulbus über diesen ominösen Riedbergpass gefahren. Gerade im Winter war das immer eine sehr spezielle Geschichte. Es hat häufig richtig lange gedauert. Der Bus (obwohl mit Allradantrieb ausgestattet) musste aufgrund der Schneefälle Ketten aufziehen. Wir kamen prinzipiell IMMER zu spät in den Unterricht. "Ach, die Balderschwanger", hieß es dann nach dem Öffnen der Klassenzimmertür. Für die "Qualifikation" zur Berichterstattung über die Deutschen Meisterschaften der Alpinen hat das zwei unschlagbare Vorteile. Erstens: kurze Anreise. Zweitens: gute Ortskenntnisse. Das ist schon mal was. Und Ski fahren kann er auch ein wenig, haben sie in der Sportredaktion damals gesagt. Also: ran an die Arbeit!
Tatsächlich erledige ich meine Aufgaben an diesem Wochenende offenbar ganz ordentlich. Die Rennen können trotz wirklich widriger Verhältnisse, wegen des permanenten Schneefalls, abgewickelt werden. Ich sammle diverse Interviews ein, die Beiträge werden anschließend im Ü-Wagen zusammengeschnitten und vertont und am Ende dann nach München überspielt. Im BR-Hörfunk finden sich damals viele Abnehmer für Sportbeiträge. Und zwar auf allen möglichen Wellen. Von Bayern 1 bis Bayern 3. Der Wintersport hat zudem einen sehr hohen Stellenwert. Genau wie die regionale Berichterstattung. Es ist also einiges zu tun, im Rahmen dieser Deutschen Meisterschaften.
AAAAALBERTOOOO
Im Januar 1992 erfahre ich, dass mich der Bayerische Rundfunk erstmals bei einem Weltcuprennen einsetzen will. Klingt super. Zumal im Alpinbereich zu der damaligen Zeit DIE Reporterlegenden schlechthin unterwegs sind und aus den verschiedenen Weltcup-Orten berichten. Ich sage nur: Gerd Rubenbauer, Kurt Schneider, Dieter Czermak und natürlich Franz Muxeneder. Später der Hörfunk-Sportchef, der Nachfolger des berühmten Fritz Hausmann. Muxeneder nimmt mich mit nach Kitzbühel, das ist das Mekka der Alpinen. Und ich darf mit auf die Pilgerreise zur heiligen Skipiste. Was für eine Geschichte. Dass ich diese Chance bekomme, ist einmalig. Ein enormer Vertrauensbeweis. Schließlich bin ich ja noch nicht sooo lange in der Sportredaktion. Die Wege in Kitzbühel sind allerdings weit, vom Zielraum bis zum Ü-Wagen-Stellplatz. Das Aufnahmegerät ist schwer. Sehr sogar. Du musst es durch die Menschenmassen schleppen.
An diesem Wochenende ist der Aufmarsch der Fans und der Medien besonders groß. Alberto Tomba zieht Radio-, TV- und Printjournalisten an wie die Erde die Schneeflocken. Der Italiener ist der Superstar der Szene. Beim finalen Slalom am Sonntag interviewe ich gerade Markus Wasmeier im Zielraum nach seinem Lauf. Der ist wichtig für die Kombinationswertung aus Abfahrt und Slalom. Der Wasi ist wie immer gut drauf und plaudert locker vom Hocker. Doch plötzlich bricht er ab. "Ich geh jetzt, da kommt der Alberto", sagt er und rauscht von dannen. Als Jungspund im Weltcup bin ich verdutzt. Was hat er nur? Sekunden später weiß ich es, da ist das Chaos perfekt. "Aaaalbertoooooooo!", schreien sie aus allen Ecken, vor, hinter und neben mir. Und dann sind sie da, die Italiener. Ich stehe ganz vorne am Holzzaun, hinter dem die Sportler vorbeilaufen. Von hinten schieben und drücken sie. Alle wollen zu Aaaaaalbertoooo. Irgendwie. Ein, zwei robben über die Schultern aller anderen nach vorne, also auch über meine. Keine Chance zu entkommen. Ich werde gegen den Zaun gedrückt, der Druck wird immer größer. Meine Hüfte und einer der Zaunpfosten sind längst organisch zu einer Einheit geworden. Das Aufnahmegerät liegt im Schnee. Auch ich reiße das Mikro nach oben und schreie: "Aaaalbertooooo!", denn auch ich will ihn ans Mikrofon holen. Das klappt: "Grüße nach Deutschland und Bussi für Freundin", ruft er hinein.
Nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei. Immerhin habe ich einen Satz von Tomba auf Band, denke ich. Was dann auch sehr positiv in der Redaktion ankommt. Franz Muxeneder bastelt noch die letzten Beiträge zusammen. Einige Teile aus den Interviews werden da integriert. Dann geht es am Nachmittag wieder Richtung München. Die Rückfahrt ist eine Qual. Mein Treffen mit dem Zaun hat Spuren hinterlassen. Sitzen ist kaum möglich, Stehen im Auto erst recht nicht. Zugeben will ich die Pein natürlich nicht. Auf anfängliche Fragen nach meiner etwas unrunden Gangart Richtung Parkplatz antworte ich immer mit voller Überzeugung: "Geht schon, kein Problem." In meiner Studentenbude suche ich später nach einer Salbe. Die Hüfte schmerzt fürchterlich. Bei meinem ersten Einsatz in Kitzbühel lerne ich: Ski ist aua! Das gilt nicht nur für Fahrer, sondern auch für Reporter. Am nächsten Morgen ist meine Haut um die Hüfte dunkelblau. Laufen ist nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Ich brauche nun doch Hilfe. Der Hausarzt diagnostiziert eine schwere Prellung. "Wohl die Treppe heruntergestürzt?", fragt er. "Nein, Interview mit Tomba", sage ich. "Na logisch", antwortet er und lacht. Der Mann glaubt mir offenbar nicht. Was soll er auch mit dem Begriff "Tomba" anfangen. Ist nur allzu verständlich. Aber: Kitzbühel hat bei mir von Anfang an einen bleibenden Eindruck hinterlassen, was körperliche Anstrengungen, außergewöhnliche Leistungen, Spektakel auf Ski und damit sehr besondere Momente für einen Ski-Reporter bedeuten.
WASSER MARSCH
Ein paar Jahre später ist es dann der Rücken. Passiert in Alta Badia in den Dolomiten, mitten in der Nacht. Ich arbeite inzwischen auch für das BR Fernsehen. Um 2.30 Uhr rücken wir mit dem Kamerateam aus. Die Piste soll rennfertig gemacht werden. Das wollen wir den Fernsehzuschauern natürlich auch zeigen. Die warmen Temperaturen haben der Strecke zugesetzt. Die geeignetste Maßnahme, das Rennen zu sichern, ist es, mit Wasser und Schneebinder die Unterlage auszuhärten. Ein aufwendiges Unterfangen. Erst wird gewässert mit einem Feuerwehrschlauch. Dann kommt das Tretkommando und stampft mit Skischuhen die Piste von oben bis unten durch. Dazwischen wird der sogenannte Schneezement gestreut. Heutzutage verwenden die Veranstalter teilweise auch ganz simples Brezn-Salz. Ist wirklich so. Arbeitsintensiv, aber es funktioniert. Auf die Piste dürfen wir nur mit Stirnlampen, es ist ja noch stockfinster um diese Zeit. Renndirektor Günter Hujara mahnt zur Vorsicht. "Aufpassen, da vorne ist es ziemlich ruppig. Da sind die Pistenraupen auch noch reingefahren." Kein Problem, denke ich noch - und Sekunden später ist es schon passiert. Hängen geblieben in einem größeren Schneeloch. Und ab geht die Post, den ganzen Steilhang hinunter. Es rumpelt, schlägt, kopfüber, rücklings. Bis es endlich aufhört. Immerhin: Mir ist nichts passiert. Patschnass, aber einigermaßen unversehrt, geht es weiter mit den Dreharbeiten.
Hujara grinst, als er mich später wiedersieht. "Spektakulär, hoffentlich haben es deine Kollegen gefilmt!", lacht er. Haben sie nicht. Glücklicherweise. Der Hausarzt, der zwei Tage später die blauen Flecken am Rücken untersucht, fragt, ob ich wieder Tomba interviewt hätte. Viele Jahre nach dem ersten Vorfall. Inzwischen weiß er, wer ich bin.
WEN JUCKT´S
Aua muss natürlich aber nicht zwangsweise etwas mit Brüchen oder größeren Verletzungen zu tun haben. Aua geht auch anders. Juckt mich nicht, werden Sie denken. Doch, doch. Auch Jucken kann aua sein. Irgendwann. Passiert im Januar 2004. In Megève....