Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ich weiß nicht mehr, wie mein Onkel darauf kam, aber es war eine folgenreiche Entscheidung: Zu meinem zwölften Geburtstag schenkte er mir das Album Deluxe Soundsystem der Hamburger Hip-Hop-Crew Dynamite Deluxe. Die Beats von DJ Dynamite und Tropf, aber vor allem die Lyrics von Samy Deluxe auf jedem einzelnen der 16 Songs hauten mich schier um. So lässig, so fresh, so cool konnte Rap auf Deutsch klingen. Und vor allem diese Reime! Was waren das für geniale krumme Reime! Samy reimte »Bildung« auf »Mülltonn'«, »Kniebeugen« auf »Liebäugeln« und »meine Schuld« auf »eingeholt«. Im Deutschunterricht hatte ich eine solche Lyrik noch nie gehört, Samys Texte wären dort wahrscheinlich auch gar nicht als solche anerkannt worden. Und nicht zuletzt aus diesem Grund wollte ich diese Art zu reimen, schreiben und rappen sofort selbst ausprobieren.
Ich tapezierte eine ganze Wand in meinem Kinderzimmer mit weißem Papier und begann, auf den Blättern die Reimbarkeit der deutschen Sprache zu erforschen. Es fing sauber an mit »Haus« auf »Maus« und »Schwein« auf »Bein«, wurde dann aber, verdorben oder inspiriert durch Samy Deluxe, mit »sagen« auf »Namen« und »Computer« auf »super« langsam immer dreckiger. Irgendwann fragte ich mich, erschrocken über meine eigene Verwegenheit, ob sich »Gurkenmaske« auf »Schuldenfalle« noch reimt oder ob das nicht doch etwas zu viel des Guten war. In der Schule hatte ich immer meinen kleinen Notizblock dabei, in dem ich alle Reime notierte, die mir im Laufe des Tages einfielen. Das nahm zwischenzeitlich solche Ausmaße an, dass mich die anderen in der Klasse für einen komischen Nerd hielten, mit dem man sich nicht mehr normal unterhalten konnte. Und sie hatten Gründe. Wenn meine Sitznachbarin mich bat: »Gib mir mal deinen Taschenrechner«, antwortete ich nicht »ja«, sondern »Klassensprecher!«, »Aschenbecher!«, »Flaschenöffner!«. Und wenn meine Freunde fragten: »Kommst du mit auf den Pausenhof?«, sagte ich nicht »gerne«, sondern »Rauchverbot!«, »mausetot«, »Haus und Boot!«.1
Ich reimte wie besessen, aber ich freestylte2 auch obsessiv. Das hieß: Nach der Schule ab nach Hause, ins Kinderzimmer, Tür zu und aus dem Stegreif drauflosrappen. Und da ich keine Instrumentals, das heißt keine Beats ohne Stimme, zum Üben hatte, spielte ich das Album von Dynamite Deluxe und bald auch die Platten von Hip-Hop-Crews wie den Absoluten Beginnern, Fettes Brot und Freundeskreis ab und improvisierte auf den Tracks, während meine Idole selbst ihre Strophen rappten. Stundenlang. Jeden Tag. Über Lehrer:innen, Mitschüler:innen, stressige und schöne Erlebnisse. Später habe ich immer wieder gehört, dass ich beim Freestylen wie der Samy Deluxe der beginnenden Nullerjahre klinge. Das kommt wohl dabei raus, wenn man monatelang gleichzeitig mit seinem Lieblingsrapper rappt. So ging das eine Zeitlang weiter. Das spontane Reimen und Rappen war mir förmlich zur zweiten Natur geworden. Die Notizblöcke und Wandzettel füllten sich. Raptexte schrieb ich auch, aber die Improvisation war meine größte Leidenschaft. Irgendwann brannte mein älterer Bruder mir eine CD mit vernünftigen Instrumentals, sodass ich mich ungestört von Samys, Dendemanns und D-Flames Versen austoben konnte.
Und dann kam 2003 Eminems Film 8 Mile in die Kinos. In dem biografisch angehauchten Drama spielt der amerikanische Rap-Superstar den Rapper B-Rabbit, der davon träumt, einen Plattendeal zu bekommen und mit seiner Musik berühmt zu werden. Im Laufe der Story nimmt B-Rabbit zweimal an einem Freestylebattle-Turnier teil, bei dem sich die Teilnehmenden in der Kunst der mit Musik unterlegten Spontan-Beleidigung messen. Dabei kommt dem Helden der Geschichte beim ersten Mal vor lauter Nervosität kein Wort über die Lippen. Beim zweiten Mal gewinnt er bravourös den gesamten Wettbewerb und geht im Jubel der Crowd unter. Ich war überwältigt von der Energie von B-Rabbits Rap und der aufgeheizten Atmosphäre in dem Club, in dem die Battles stattfanden. Und ich wusste: Genau das wollte ich auch machen. Nicht einfach irgendwie über irgendwelche Alltagsthemen freestylen, sondern mich vor Publikum im direkten Schlagabtausch gegen andere Rapper:innen beweisen. Ich wollte sie souverän wegbattlen, sie mit besseren Reimen übertrumpfen und im tosenden Applaus der Zuschauer:innen untergehen. Eben genau wie Eminem/B-Rabbit in 8 Mile.
Nur hatte ich bis dahin noch nie in meinem Leben auf einer Bühne gestanden. Und wo beziehungsweise ob es in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main überhaupt Freestylebattle-Turniere gab, das wusste ich auch nicht. In vielen Frankfurter U-Bahnhöfen wurden damals (und werden heute noch) an den Bahnsteigen auf Wandplakaten anstehende Kulturevents annonciert. Eines Tages fiel mein suchender Blick beim Scannen eines dieser Plakate auf folgende Ankündigung: »Open-Mic-Session. Jeden ersten Mittwoch im Monat ab 20 Uhr. Wo: Funkadelic, Bleichstraße 46«. Da stand sie schwarz auf weiß: eine, nein, meine Möglichkeit, mich auf einer Bühne auszuprobieren! Das war zwar noch kein Turnier wie in 8 Mile. Aber ein Open-Mic-Event bot als Einstieg genau den richtigen Rahmen für mich. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hatte keine Ausreden, die mich vor dieser Bühne in dem Kellerclub in der Frankfurter Innenstadt würden bewahren können. Mein erster Auftritt als Freestyler, bei dem mehr als meine Zimmerwände zuhörten, stand kurz bevor. Es gab nur ein, oder genau genommen zwei Probleme: Ich war erst 15 und meine Mutter wollte mitkommen. Für meine Credibility als angehender Rapper war das natürlich existenzgefährdend. Was, wenn sich im Publikum und unter den anderen Teilnehmenden der Session herumsprach, dass ich meine Mama mitgebracht hatte? Wie uncool war das denn bitte? Aber ich konnte diskutieren, wie ich wollte: Mit Verweis auf mein zartes Alter ließ sich meine besorgt-fürsorgliche Mutter nicht von ihrem Vorhaben abbringen, mich ins Funkadelic zu begleiten. Und so musste ich mich in mein Schicksal fügen.
Der nächste Mittwoch näherte sich mit großen Schritten. Ich übte jeden Tag meine Freestyle-Verse und legte mir für den Einstieg schon einmal ein paar Reime zurecht (»Open-Mic-Session« auf »live rappen«, »Kellerclub« auf »Welpenschutz«, und für den Notfall »Mama dabei« auf »Frankfurt am Main«). Dann kam der große Tag. Mittwoch um Punkt acht standen wir vor der Clubtür. Ein paar Meter weiter standen ein paar Typen in weiten Hip-Hop-Klamotten, eingehüllt in einen verdächtig süßlichen Nebel. Meine Mutter und ich stiegen die Treppe Richtung Club hinunter und fanden uns in einem nahezu leeren schummrigen Gewölbe wieder. An einem Ende des langgezogenen Kellergewölbes befand sich die Bar. Dort nippten ein paar Gestalten an ihren Biergläsern und unterhielten sich leise. Am anderen Ende sah ich die kleine Bühne, in helles Scheinwerferlicht getaucht. Ein Hip-Hop-Song dröhnte durch die Clubanlage. Wir holten uns etwas zu trinken und setzten uns an einen der freien Tische im hinteren Teil des Raums. Mangels Gästen hatten wir auch von dort freien Blick auf die Bühne, auf der weit und breit niemand zu sehen war, der oder die ins Mikrofon gerappt hätte. Hier war ja überhaupt nichts los! Und für diesen leeren Schuppen hatte ich mich tagelang vorbereitet? Zur Aufregung, die mich ohnehin schon den ganzen Tag fest im Griff hatte, kam die Nervosität hinzu, dass das Ganze hier schlicht und einfach ins Wasser fallen würde.
Nach einer halben Ewigkeit voll peinlichen Schweigens, schiefer Blicke zu den Leuten an der Bar und »Gleich geht's los«-Beschwichtigungen in Richtung meiner ratlosen Mutter betrat schließlich die Gruppe, die wir oben am Eingang gesehen hatten, den Laden. Die fünf Typen liefen geradewegs zur Bühne und bestiegen die leicht erhöhten Bretter, die mir in dem Moment die Welt bedeuteten. Ein Dude mit Sonnenbrille, Ziegenbart und Dreadlocks unter einer Bob-Marley-Mütze nahm eines der beiden bereitliegenden Kabelmikrofone in die Hand und forderte den DJ auf, die Musik zu unterbrechen. Dann begrüßte er die zehn Leute an der Bar und eröffnete die Session, indem er auf einem Beat zu freestylen begann. Nach ein paar Minuten übernahm einer der anderen das Mikro und dann der Nächste und dann der Nächste.
Sie konnten alle akzeptabel freestylen. Und ich wusste, ich konnte das genauso gut. Trotzdem war ich höllisch nervös. Meine Mutter raunte mir durch die laute Musik zu: »Auf, Rafi, trau dich!« Mit klopfendem Herzen erhob ich mich, ging nach vorn und stellte mich zu den anderen auf die Bühne. Während ein Rapper mit aggressiver Stimme und pelzigem Hip-Hop-Anzug samt passendem Hut am vorderen Bühnenrand flexte, als stünde er vor mindestens 100 und nicht vor 10 Leuten, reichte mir ein großer blonder Typ mit aufmunterndem Blick das zweite Mikro. Der modisch auffällige Vollblut-Hip-Hopper war nach einigen Minuten fertig und drehte sich zu mir um. Nur der stampfende Beat war jetzt zu hören. Auch die anderen schauten mich an. Und ich legte los. Von der beleuchteten Bühne aus erschien das Gewölbe so dunkel, dass ich die wenigen Personen im Raum gar nicht sah. Worüber ich rappte, weiß ich nicht mehr. Aber als ich nach zwei Minuten das Mikro von den...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.