Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Nach einem unangenehmen Rippenstoß und einigen zurechtweisenden Blicken verlasse ich fluchtartig das Kleidergeschäft. Ich war nicht lange drin, wollte nur kurz ein Hemd und ein Paar Jeans kaufen, doch ich habe es kaum bis zu den Hemden geschafft. Irgendwie sind alle an diesem dreiundzwanzigsten Dezember verrückt geworden und benehmen sich so, als würde morgen das Kleiderkaufen verboten. Auf dem gefrorenen Asphalt der Friedrichstrasse sitzt ein Bettler und streckt mir einen zerknautschten Pappbecher entgegen. Es ist halb fünf und schon dunkel. Auch der Hund auf der rotkarierten Decke neben ihm scheint zu frieren. Die Menschen gehen vorbei, schauen weg. Auch ich gehe vorbei, schaue weg. Ich will zum Wasser, muss herausfinden, was aus diesem Tag noch werden soll, muss meinen Kopf frei kriegen, muss endlich die rennende Zeit aufhalten. Habe heute noch nicht viel geschafft, ein Buch gekauft, sonst nichts. In meinem Kopf rennt einer immer weiter zum nächsten und von da zum nächsten und kaum ist er da, wieder zum nächsten und wenn es kein nächstes gibt, wächst die innere Unruhe und er sucht hektisch nach dem Übernächsten, als ob es ohne ein Ziel kein Leben gäbe. Ich schaue mir kurz zu, werde dann vom Strudel mitgerissen und hetze durch die Läden, um zu kaufen ohne zu wissen was und warum. Die Menschen auf dem Gehsteig vor und hinter mir hasten, drängeln, versuchen zu überholen.
Ich weiche drei Asiatinnen aus, die in ihre leuchtenden Handys starren, als hofften sie dort das zu finden, was es hier nirgends gibt. Lichter, Gesichter, Tragtaschen, Hausfassaden, Wintermäntel. Ich navigiere in die einzige Richtung, die Ruhe verspricht. Zum Wasser. Am Ufer der Spree hoffe ich endlich mir selber oder zumindest dem, was von mir übriggeblieben ist, zu begegnen. Jeder flüchtig hingeworfene Blick, jede kleine Rempelei, jede abweisende Geste nimmt etwas vom Vorrat an Selbstgefühl mit, das der Morgen mir großzügig zugeteilt hatte. Ich schaue zurück zum bärtigen Mann am Boden, lasse mich von seiner flehenden Gebärde berühren. In seiner zerschlissenen Daunenjacke und den schmutzen Hosen ist er mir für einen kurzen Moment näher als ich mir selber bin, gleichwohl gehe ich nicht zu ihm zurück. Ich rede mir ein, dass der Aufwand des Grabens im Rucksack, die paar Schritte zurück zu viel Zeit verbrauchen würden. Passanten kurven an mir vorbei und scheinen sich über mich, den nutzlos Herumstehenden, zu ärgern. Soll ich mich nicht doch neben den Bettler setzen, das Einkaufsvirus sitzend ertragen? Der Zerlumpte am Boden würde aber wahrscheinlich mein Sitzen als Konkurrenz zu seinem Sitzen empfinden, würde mich wegscheuchen, meine Solidarität falsch verstehen. Ich wende mich ab, spaziere weiter Richtung Spree. Wasser, endlich eine Fläche ohne Menschen, auf der sich meine Augen eine Weile ausruhen werden. Im Grunde genommen ist es zu kalt für Wasser und zu dunkel dort drüben, doch etwas zieht mich weiter. Wo soll ich sonst hin? Ich kurve um einen Mann mit Drehorgel herum, werde von einem in Lederjacke angerempelt, wende mich wütend um. Trottel, murmle ich, doch die Lederjacke ist bereits in der Menschenmenge verschwunden.
Hast du kurz Zeit? Etwas Blaues steht unerwartet vor mir, bremst mich geschmeidig aus. Das erste freundliche Gesicht seit Stunden, blaue Jacke. Die Stimme gefällt mir. Warm irgendwie und zugewandt. Ich bleibe stehen, scanne blitzschnell von den mit Lammfell gefütterten Winterschuhen über das weiße Logo auf der blauen Jacke hoch bis zum Gesicht. Sie lächelt, scheint auf mich gewartet zu haben. Schönes Gesicht, gerötete Nasenspitze, braune Augen, schulterlange Haare unter einer knallroten Wollmütze. Nein, selbstverständlich hat sie nicht auf mich gewartet und, nein, ich habe keine Zeit und nein, ich gebe heute nichts mehr für Wohltätigkeitsvereine, die in diesen Tagen an jeder Ecke herumstehen. Mein Blick hetzt um die junge Frau herum, will weg, keine Ahnung mehr wohin, bloß weg. Ich kann die Welt auch nicht retten und heute in diesem Konsumwahnsinn schon gar nicht. Warum macht sie so was? Sie ist zu schön, zu verletzlich für diese Straße, für diese achtlosen Gestalten, die aus dem U-Bahnschacht strömen und an uns vorbeiziehen als ginge es in den Kampf. Ich bleibe stehen, weiß nicht warum, schaue weg, stammle verwirrt, dass ich keine Zeit hätte und zu beschäftigt sei, doch die gemurmelten Worte haben keine Kraft. Eigentlich ist sie doch ganz nett.
Schön, dass du dir kurz Zeit nimmst trotz dem Weihnachtsstress. Sie scheint sich von meinem Wegschauen nicht beeindrucken zu lassen. Herrgott ist dieses Mädchen schön und viel zu jung für diesen Knochenjob auf der Straße. Wahrscheinlich macht sie das heute zum ersten Mal, denn aus dem Augenwinkel sehe ich eine etwas ältere Frau in derselben Jacke, die einige Schritte hinter ihr zur Unterstützung bereitsteht.
Ich weiß was jetzt kommen wird, will mir dieses Verkaufsgedöns nicht anhören, nicht von dieser blutjungen und unschuldigen Schönheit, die meine Enkelin sein könnte. Ich muss weiter zum Wasser, fühle mich gleichzeitig von der Aufseherin im Hintergrund beobachtet. Geld für einen guten Zweck in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten droht. Ich habe nichts, gebe nichts, will nichts und brauche nichts. Lasst mich bloß in Ruhe, verdammt noch mal. Die gerötete Nasenspitze und die freundlichen Augen vor mir lassen meiner Empörung keine Chance. Obwohl mir ein eisiger Wind in den Nacken bläst, bleibe ich auf diesem kalten Gehsteig stehen wie bestellt und nicht abgeholt.
Darf ich dir kurz etwas zeigen? Sie rennt weg, zieht zwischen Thermoskannen und Rucksäcken ein Tablet hervor und kommt mit schnellen Schritten zurück. Schön, dass du noch da bist. Es dauert bestimmt nicht lange. Sie aktiviert den Bildschirm, berührt einige Symbole, Seiten tauchen auf und vergehen wieder. Auf der blauen Jacke steht UNO Flüchtlingshilfe. Ich möchte dir etwas zeigen. Sie lächelt, schaut mich an. Sicher kennst du diese Bilder. Dann wird sie wieder ernst, scrollt rasend schnell durch einen Text, den ich ohne Brille eh nicht lesen kann. Selbstverständlich kenne ich diese Bilder, schon hunderttausendmal gesehen. Sie hält inne, schaut irritiert auf den Bildschirm, scrollt weiter. Wahrscheinlich sollten die neuen Bilder schneller erscheinen oder etwas anderes stimmt nicht. Ich spüre meinen Herzschlag schneller werden, schaue wie gebannt auf den eingefrorenen Bildschirm.
Sie ist neu, macht das vielleicht zum ersten Mal. Ich schaue mir zu wie mein Blick gebannt am Bildschirm hängt und hoffe, dass diese Präsentation nicht abstürzen möge. Meine Hände in den Jackentaschen werden kalt. Ich sollte mich bewegen. Ihr Blick fliegt über den Bildschirm. Die Bilder sind verschwunden. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Tief durchatmen. Mein Herzschlag beschleunigt sich weiter. Ich möchte sie ermuntern. Kein Problem. Zusammen schaffen wir das, doch die Betreuerin ist schon da, tippt kurz auf ein kleines Symbol unten rechts. Ein, zwei Klicks und auf dem Bildschirm erscheinen die gewünschten Bilder. Ich hoffe, dass die andere bald wieder geht, wünsche mir die unbeholfene Leichtigkeit zurück. Unsichere Menschen erlauben auch mir, unsicher zu sein.
Endlich ein Mensch, denke ich, lasse mir Flüchtlingscamps im Jemen zeigen, eine Stadt aus Zelten, die sich wie eine riesige Herde zusammendrängen. Siebenhunderttausend, siebzigtausend, siebentausend? Ich kann mich nicht mehr an die Zahl erinnern, die sie eben erwähnt hat. Du hast sicher schon gehört, dass es im Jemen ganz schlimm ist. Der Bürgerkrieg, seit Jahren. Sie hat ihre Stimme wiedergefunden. Diese Zelte, diese Menschen, dieses Elend und plötzlich sitzt mir dieser Kloss im Hals. Furchtbar, sage ich, wende mich ab. Und sicher weißt du auch, dass das UNHCR die einzige Hilfsorganisation ist, die noch im Jemen arbeiten darf. Wir stellen Zelte und Nahrungsmittel für die Soforthilfe zur Verfügung.
Was kostet das, murmle ich und endlich löst sich auch der Kloß in meinem Hals. Eine leichte Übelkeit bleibt. Diese Menschen ohne Heimat, die mich normalerweise kaum berühren, scheinen für einen Moment fast greifbar nah. Ein bisschen Geld für ein bisschen mehr Menschlichkeit. Sie spricht von Nähmaschinen für Frauen, die mit meinem Geld eine Existenz aufbauen und ihre Familien ernähren könnten. Zehn Euro im Monat, also Minimum hundertzwanzig im Jahr. Normalerweise macht man das ein Leben lang. Sie sagt das so selbstverständlich. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand wischt über weitere Flüchtlingscamps, von lachenden Kindern zu Überschwemmungen, über dürre Felder zu Ladeflächen voller Nahrungsmittel. Der blaue Ärmel der zu großen Jacke rutscht über ihr Handgelenk, während sie über den Bildschirm wischt. Ich möchte nächstes Jahr mit einer Freundin nach Asien reisen und dort in einem Kinderheim oder einem Flüchtlingslager arbeiten und dann werde ich Kulturkontakt und Kommunikation studieren. Ihre Augen sprühen vor Begeisterung.
Ich doziere etwas von kolonialer Vergangenheit und Rechnungen, die die reichen Länder nun zahlen müssten, von Kontakt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.