Schweitzer Fachinformationen
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von Kaddi Kestler
»Wenn es so weiterregnet, sollten wir uns vielleicht dieses Boot mitnehmen«, sage ich zu Toni und Lisa. Die beiden lachen. Trotzdem sehe ich ihnen die Sorgen an. Die Sorgen, die ich mir auch mache. Dass der Regen nicht aufhört und es unsere anstehende Fernwanderung komplett verregnet. Wir drücken uns gegen die staubige Schaufensterscheibe, wie Kinder vor einem Spielzeugladen, um vor dem Regen geschützt zu sein und um zu erkennen, was das Sortiment des Outdoorladens hergibt. Ein großes Motorboot nimmt die komplette Breite des Fensters ein, weiter hinten an der Wand entdecken wir ein paar Kanus und Kajaks. Aber ob wir hier das Campinggas bekommen, das wir brauchen, um uns die nächsten elf Tage in der Wildnis zu verpflegen?
Mir rinnen Regentropfen von meiner patschnassen Cap ins Gesicht, ich senke den Kopf und blicke auf meine Trekkingschuhe hinunter. Nach unserem kurzen Sightseeing-Bummel durch die kosovarische Hauptstadt Pristina sind sie komplett durchweicht und nicht mehr hellrosa, sondern matschbraun. Ob es eine gute Idee war, diese leichten Sommerwanderschuhe auf unsere elftägige Balkan-Wanderung mitzunehmen? Ein paar Meter entfernt steht das schwarze Taxi, das uns hierhergebracht hat, mit laufendem Motor. Ein VW, in dessen Cockpit alle drei Minuten das deutsche Wort »Kühlflüssigkeit« neben einem kleinen roten Warndreieck aufblinkt, begleitet von einem schrillen Ton - offenbar ist der Wagen genau wie wir der Landessprache nicht mächtig. Auf Englisch und mit zehn ausgestreckten Fingern herumfuchtelnd hat Lisa den Fahrer gebeten, einige Minuten zu warten, bis wir unsere Einkäufe erledigt haben. Laut Google sollte der Laden eigentlich geöffnet haben - hat er aber nicht. Laut Google sollte aber der andere Laden, in dem wir vor einer halben Stunde waren, ebenfalls ein Outdoorladen sein. Doch vor Ort hat er sich als Skateshop entpuppt. Google ist offenbar keine verlässliche Quelle in Pristina. Schon im Taxi hat Lisa deshalb sicherheitshalber die Nummer angerufen, die im Internet für diesen Laden hier angegeben war. Der Mann am anderen Ende der Leitung hat ihr erklärt, der Laden habe zwar nicht geöffnet, aber er wohne nebenan und komme gern extra für uns vorbei. In fünf Minuten sei er da. Die fünf Minuten sind mittlerweile vergangen, da ist er nicht. Auch nach zehn Minuten nicht. Wir fangen an, darüber zu diskutieren, ob er uns veräppelt haben könnte. Da kommt eine Nachricht: »Five minutes please, it's a little traffic.« Wohnt er etwa doch nicht gleich nebenan?! Na ja, wir warten weiter. Nach einer Viertelstunde kommt dann nicht der Mann vom Telefon, sondern die Frau, die eben noch vom Balkon des Hauses gegenüber zu uns hinübergeblickt hat, und sperrt uns wortlos den Laden auf. Wir schauen uns verwirrt an, dann huschen wir hinter der Frau mit dem Schlüssel in den dunklen Laden hinein. Schon jetzt, am ersten Tag unseres Abenteuers, denke ich mir: »Auf dem Balkan, da läuft scheinbar alles ein bissl anders als daheim.«
Der Balkan. Noch vor Kurzem stand er bei keiner von uns drei Bergfreundinnen ganz oben auf der Bucket List. Wie wohl bei den meisten Bergmenschen stehen dort aber Orte, an denen man mit dem Berg möglichst allein ist. Regionen, wo der Berg noch ein echter Berg ist - auch im übertragenen Sinne: ohne Seilbahn, ohne Schnellrestaurants mit Currywurst und Pommes, ohne Hulapalu, ohne geschotterte Wanderwege, breit wie Landstraßen, und auch - und vielleicht sogar vor allem - ohne Touristenmassen. Solche Regionen versprechen echte Abenteuer in einer rohen und ursprünglichen Natur, in der Wildnis.
Na, was passiert jetzt bei dir im Kopf, wenn du das Wort Wildnis liest? Dringt der Schrei eines exotischen Vogels im dicht bewachsenen, dampfigen Dschungel an dein gefühlt mit fünfzig Mückenstichen verziertes Ohr, während du versuchst, auf keine Schlange zu treten? Oder zerrt ein Sandsturm an dem Tuch, das du dir ums Gesicht gewickelt hast, um nicht von den Sandkörnern weggepeelt zu werden, während deine Füße bei jedem Schritt in den Dünen versinken? Oder klebt dir die Zunge am Gaumen, während du auf dem Rücken am Strand einer einsamen Insel liegst und auf ein Flugzeug am Himmel hoffst, das dich retten wird? Oder drehst du dich gerade einmal um die eigene Achse auf einem einsamen Berggipfel, rings um dich herum nur andere Gipfel, tief unten Wälder in sämtlichen Grünschattierungen und spiegelnde Seen, gespeist von haushohen Wasserfällen - keine Straße, keine Schornsteine, keine Dächer weit und breit?
Das Wort Wildnis malt bei jeder und jedem von uns andere Bilder im Kopf, geprägt von Daniel Defoes Robinson Crusoe, Filmen wie Cast Away oder Into the Wild oder der Reality-Survival-Show 7 vs. Wild. Das Etymologische Wörterbuch des Deutschen beschreibt die Wildnis nüchtern als »unbebaute, unkultivierte Gegend mit üppigem Pflanzenwuchs und ungezähmten Tieren«.
In unseren Köpfen kommt die Wildnis aber selten mit dem Nüchternheitsgrad einer Definition daher. Meist gesellt sich noch eine Prise Romantik dazu, die dafür sorgt, dass wir sofort ein bisschen Sehnsucht verspüren. Sehnsucht danach, von der bequemen, völlig gefahrenfreien und damit auch ein wenig langweiligen Couch, auf der du vielleicht gerade dieses Buch liest, aufzustehen. Und dich mit roten Backen vor nervöser Vorfreude auf ein echtes Abenteuer hinauszuwagen in die ungezähmte und raue Wildnis.
So wie wir drei im September 2024 hier in diesem eigentlich geschlossenen Outdoorladen in Pristina. Mit einer Verkäuferin, die eigentlich keine ist und die kaum ein Wort Englisch spricht. Eigentlich auf der Suche nach den Gaskartuschen mit Drehmechanismus für unseren Campingkocher, aber mit irgendeiner anderen Dose in Tonis Hand. Ihren Verwendungszweck können wir uns allerdings nicht erklären, weil wir die Sprache auf der Verpackung nicht verstehen. Wir steuern planlos durch den finsteren Laden, bis die Frau mit dem Schlüssel den Lichtschalter findet. »Ah!«, entfährt es Lisa, Toni und mir zeitgleich, und wir stöbern weiter.
Zu Hause in Deutschland arbeiten wir als Journalistinnen. Unser gemeinsames Baby ist Bergfreundinnen, der Podcast für dein Leben mit den Bergen, beim Bayerischen Rundfunk. Seit fünf Jahren treffen Toni und ich für diesen Podcast bereits inspirierende Bergfrauen, teilen unsere eigenen Erfahrungen und sprechen über die großen Themen rund um die Berge - von Angst über Notfälle und Freundschaft bis Sexismus. Lisa ist neu bei uns und kam erst kurz vor unserem Balkan-Trip ins Bergfreundinnen-Team. Sie folgt auf Bergfreundin Cathi, die uns aus beruflichen Gründen verlassen hat, genau wie Anna, die vor Cathi uns Bergfreundinnen komplett gemacht hat. Für die ARD Mediathek lassen wir uns außerdem bei unseren Bergabenteuern von Kameras begleiten. Egal, ob wir mit Anna auf einer selbst geplanten Route von Oberstdorf an den Comer See über die Alpen laufen, oder mit Cathi in Bikepacking-Manier auf den Spuren der Tour de France nach Paris radeln, ein Praktikum auf einer Alm und einer Alpenvereinshütte machen oder auf einem Pferd vom Chiemgau nach Südtirol reiten. Auch jetzt, im Outdoorladen in Pristina, sind die Kameramänner Max, Louis und Paale mit ihren Kameras dabei und erleichtert, dass das Licht mittlerweile eingeschaltet wurde.
Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als wir vor neun Monaten auf olivgrünen Stühlen an einem überdimensionierten ovalen Holztisch in einem biederen Besprechungsraum des Bayerischen Rundfunks zusammen saßen und überlegten, dass wir für unser nächstes Abenteuer die Wildnis in den Bergen suchen wollen. Schnell waren wir uns einig: Wir möchten nicht in die hinterletzte Ecke Sibiriens oder an den nördlichsten Zipfel Alaskas. Wir wollen nicht weit reisen, sondern in Europa bleiben und am liebsten ganz entspannt mit dem Zug in Richtung Wildnis tuckern. Doch die Wildnis ist mittlerweile ein rares Gut, nicht nur im dicht besiedelten Europa, sondern weltweit. Tourismus, Forstwirtschaft, Landwirtschaft, Abholzung, Bergbau, Klimawandel - das sind die großen Gegenspieler der letzten Wildnisse unseres Planeten. Und mit dem Erstgenannten, dem Tourismus, sind wir schon bei unserer nächsten großen Herausforderung, auf der Suche nach der Wildnis. Selbst wenn wir eine Region finden, die uns wild genug erscheint, sollten wir drei dann überhaupt dorthin reisen? Und nicht nur das, sollten wir dorthin und ein Buch darüber schreiben, eine Doku-Serie drehen, in unseren Podcasts davon erzählen? Und damit auch andere, zum Beispiel dich, inspirieren und motivieren, ebenfalls Zelt, Campingkocher und Regenjacke in den Rucksack zu werfen und dich auf den Weg zu machen? Oder wäre es nicht besser und wichtig, die letzten verbliebenen wilden Gebiete dieser Welt zu schützen - und unbekannt und unentdeckt vor sich hin wildern zu lassen? Wo finden wir Wildnis, und wie können wir verantwortungsbewusst davon berichten? Wie können wir die Faszination Wildnis selbst erleben, teilen und zugänglicher machen für alle, ohne sie zu zerstören?
Diese Fragen ließen uns keine Ruhe. Am Ende landeten wir schließlich gedanklich und mit dem Finger auf der Landkarte auf dem Balkan. Ehrlich gesagt wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht viel über die Region.
Zwar begleiteten die Tagesschau-Bilder der Jugoslawienkriege (1991 - 2001), einschließlich des Kosovo-Krieges (1998 - 1999) und des Mazedonien-Konflikts (2001), mein gesamtes Erwachsenwerden - die Konflikte der Region prägten schließlich zehn Jahre das politische Geschehen in Europa. Aber sehr viel näher als...
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