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Die Blumen in der Vase, von denen er nicht wusste, wer sie neben den großen Stein gestellt hatte, waren bereits verwelkt. Daneben stand ein Grablicht, das unstet hin und her flackerte.
Warmer Sommerregen fiel auf die frisch geharkte Erde und lief in kleinen Rinnsalen unter seinen Füßen auf den feinen Kieselsteinen den Weg hinunter.
In Gedenken an Heinrich August Meyer zu Oldinghaus
Weiter hatte Jan die Inschrift auf dem Grabstein nicht gelesen. Er konnte einfach nicht.
Auf den Tag genau neun Monate waren vergangen, seitdem Jan Oldinghaus die Diele des elterlichen Hofes betreten und seinen Vater regungslos am Boden liegen gesehen hatte. Um ihn herum ein Arzt und mehrere Rettungssanitäter. Und natürlich der Rest seiner Familie. Aber niemand hatte mehr etwas ausrichten können. Sein alter Herr war an diesem Tag verstorben.
Obwohl der Tod nicht ohne Vorankündigung gekommen war, erschien ihm die Tatsache, dass der Patriarch der Familie das Schiff verlassen hatte, noch immer vollkommen surreal. So lange er denken konnte, hatte immer nur sein Vater Heinrich darüber bestimmt, was mit dem Hof und seiner Familie geschah. Immer wieder hatte er sich in Jans Leben eingemischt, selbst als der längst nicht mehr auf dem Hof gelebt hatte. Und sei es nur durch das unterschwellige schlechte Gewissen gewesen, das ihm gemacht wurde, weil er sich nicht ausreichend um seine Eltern kümmere.
Sein Vater war mitten im Zweiten Weltkrieg geboren. Erzogen worden war er von seiner Mutter, weil der Vater kurz nach dem Krieg verstorben war. Er war in Verhältnissen aufgewachsen, die einfach, aber besser als die der meisten anderen Menschen zu dieser Zeit gewesen waren. Von klein auf immer mit dem einen Ziel, den Hof wieder zu dem zu machen, was er vor langer Zeit einmal gewesen war. Er hatte dafür mehr geschuftet, als es gesund für ihn war. Mehr, als es für seine Ehe gut war. Und viel zu viel, um ein guter Vater zu sein.
Neun Monate waren vergangen.
Jan atmete tief durch.
Der Tod seines Vaters hatte ein Neuanfang werden sollen. Das zumindest hatte er gehofft. Vielleicht nicht für das kaputte Verhältnis zu seinem Bruder Cord - die Risse zwischen ihnen würden sich wohl niemals kitten lassen. Aber wenigstens für die Beziehung zu seiner Mutter und natürlich auch zu Isabel, seiner Schwester.
Tatsächlich war Jan zurück auf den elterlichen Hof zwischen Herford und Bielefeld gezogen. Zurück in sein altes Zimmer, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Aber der Neuanfang hatte nicht funktioniert.
Er hatte es bereits nach zwei Wochen gespürt, aber mehr als ein halbes Jahr hatte vergehen müssen, bevor er vor rund einem Monat schließlich den Entschluss gefasst hatte, bald wieder vollständig in seine Herforder Wohnung zu ziehen. Oder sich etwas Neues zu suchen. Diesmal vielleicht in Bielefeld. Näher am Polizeipräsidium. Näher am Leben.
Im Grunde war es nicht verwunderlich. Die tägliche Auseinandersetzung mit seiner Mutter und Cord hatte Jan mehr zugesetzt, als er ohnehin befürchtet hatte. Im Gegensatz zu ihm waren die beiden offenbar zu keiner Zeit bereit gewesen, sich auch auf ihn einzulassen. Cord hatte sich so egoistisch und herablassend verhalten wie schon all die Jahre zuvor. Er kannte ihn nicht anders.
So sehr sich Jan in diesen Monaten auch bemüht hatte, ihr Verhältnis wieder in einigermaßen normale Bahnen zu lenken, musste er sich eingestehen: Cord hatte kein Interesse an ihm, und er letztlich auch nicht an seinem Bruder.
Mit seiner Mutter verhielt es sich weitaus schwieriger. Sie hatten sich zwischendurch immer mal wieder angenähert, um im nächsten Augenblick weiter voneinander entfernt denn je zu sein.
Die unterschwelligen Vorwürfe, dass er seine Familie in den vergangenen Jahren im Stich gelassen habe, waren allgegenwärtig gewesen. Sie hatte keinerlei Zweifel daran gelassen, dass er es sei, der sich bei seiner Familie entschuldigen müsse. Ihr Vorwurf, dass er sogar Schuld am Tod seines Vaters trüge, stand noch immer im Raum.
Und Isabel? Sie war die Einzige aus seiner Familie, der sich Jan eigentlich immer nah gefühlt hatte. Zumindest bis zu dem Tag im letzten Jahr, als er herausgefunden hatte, dass sie mit seinem besten Freund Philipp zusammen war.
Während sie alle gemeinsam mit ihrer Band auf Tour gewesen waren, hatten die beiden ihm verschwiegen, dass sie ein Paar waren. Ganz zu schweigen davon, dass seine Schwester und sein Freund dann auch noch ihn aus der Band geschmissen hatten.
So merkwürdig die Situation auch war, konnte er mit Isabel dennoch einigermaßen normal umgehen. Sie zeigte auch Verständnis dafür, dass er sich auf dem Hof nicht wohlfühlte. Und sie ging dazwischen, wenn Cord oder seine Mutter sich wieder einmal unmöglich verhielten. Doch gestand er sich ein, dass mittlerweile auch zwischen ihnen eine unsichtbare Mauer stand, da das, was vor nicht allzu langer Zeit noch Gültigkeit besessen hatte, mit einem Mal nicht mehr zählte.
Vertrauen.
Isabel und er waren merklich auf Distanz zueinander gegangen. Und er tat auch nicht so, als freue er sich darüber, dass sie mit Philipp zusammen war. Dem war nämlich nicht so. Genau gesagt kotzte es ihn sogar an.
Sein bester Freund seit Kindheitstagen. Er konnte sich nicht erinnern, dass Philipp und er sich jemals etwas verschwiegen hätten. Schon gar nicht, wenn es um die Liebe gegangen war.
Sie hatten gesprochen. Zumindest hatten sie es versucht. Philipp und er. Manchmal auch zu dritt, gemeinsam mit Isabel. Aber die Gespräche waren nicht zufriedenstellend gewesen. Die beiden hatten ihm keine befriedigende Erklärung für ihr Verhalten geben können. Wahrscheinlich, weil es keine Erklärung gab. Manchmal hatte er sich gefragt, ob er zu empfindlich war. Ob er übertrieb, wenn er das Gefühl hatte, den beiden nicht mehr vertrauen zu können, wenn er nicht einmal mehr ertrug, in ihrer Nähe zu sein. Wenn er sich als Fremdkörper im elterlichen Haus fühlte.
Neun Monate. Und nichts hatte sich verändert. Die Familie war entgegen seiner Hoffnung nicht wieder zusammengewachsen.
Dass er hier heute am Grab seines Vaters stand, war auch keine Selbstverständlichkeit. Es war nämlich das erste Mal seit der Beerdigung.
Seit Tagen hatte er Angst vor diesem Moment verspürt, vor den Gefühlen, die ihn womöglich übermannen würden. Aber, und das machte ihm in diesem Augenblick mindestens genauso zu schaffen, die Gefühle waren vollständig ausgeblieben.
Da war kein bisschen Trauer, während er hier stand und auf die Familiengrabstätte auf dem Friedhof Hermannstraße blickte. Ein beklemmendes Gefühl - offenbar gelang es ihm nicht einmal nach dem Tod seines Vaters, Frieden mit ihm zu schließen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Dafür hatte er sich viel zu lange von ihm als Sohn nicht geachtet gefühlt.
Jan versuchte die trüben Gedanken beiseitezuschieben, als er das Vibrieren seines Handys in der Jackentasche spürte. Er zögerte nicht und zog das Telefon hervor.
Es war Ben Kregel. Er leitete seit etwas mehr als einem halben Jahr die Bielefelder Mordkommission. Ein waschechter Ostwestfale, der vor über zehn Jahren in den hohen Norden nach Lübeck gewechselt und vor einigen Monaten zurückgekehrt war, um die Stelle von Vera Jesse zu übernehmen, die sich mit einigem Geschick und so manchen Machtspielchen, die Jan übel aufgestoßen waren, weiter nach oben gearbeitet hatte und nun die komplette Kriminalinspektion leitete.
Jan meldete sich mit einem knappen »Ben, was gibt's?«.
»Bist du schon auf dem Weg ins Präsidium?«
»Es ist Samstag, was sollte ich denn da im -«
»Schon gut«, unterbrach Kregel ihn. »Hätte ja sein können, dass du von den anderen schon etwas gehört hast. Jedenfalls brauchst du gar nicht erst ins Präsidium zu kommen.«
Jan sagte nichts. Er ahnte bereits, was kommen würde.
»Vor einer Viertelstunde sind wir verständigt worden, dass drei Leichen auf dem Gipfel des Velmerstot im Eggegebirge gefunden wurden. Was genau dort geschehen ist, weiß ich aber selbst noch nicht. Allerdings soll der Anblick wohl nicht gerade schön sein.«
»Was heißt das?«
»Zwei Wanderinnen haben die Leichen entdeckt. Sie sprachen bei ihrem Anruf davon, dass die Opfer enthauptet wurden und alles voller Blut sei.«
Wieder sagte Jan nichts. Es gehörte zu seinem Job, solche Nachrichten entgegenzunehmen, aber hier auf dem Friedhof, die letzte Ruhestätte seines Vaters vor Augen, ging es ihm nahe. Sein Magen verkrampfte sich.
»Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Ich habe oben an der Ostsee in den letzten Jahren verdammt viele harte Ermittlungen erlebt«, redete Kregel weiter. »Und hier haben wir es ziemlich sicher mit einer Sache zu tun, die uns an unsere Grenzen bringen wird.«
»Wenn wir es tatsächlich mit Enthauptungen zu tun haben, ist das keine allzu überraschende These«, entgegnete Jan. Er spürte sofort, dass das unverhältnismäßig barsch klang. Es hatte nicht direkt mit Kregel zu tun, er mochte den groß gewachsenen, erfahrenen Kriminalhauptkommissar nämlich. Aber seit dem letzten großen Fall im vergangenen Jahr und Veras plötzlicher Metamorphose von einer guten Freundin zu einer kühl agierenden Karrierefrau hatte er genug von Vorgesetzten, die ihn mit klugen Ratschlägen bevormunden oder sich zumindest wichtigmachen wollten.
»Schließ dich bitte mit Stahlhut und Cengiz kurz.« Kregel ignorierte Jans Kommentar ganz einfach. »Ich will, dass ihr in spätestens einer Stunde vor Ort seid. Ich verständige die anderen. Nolte und sein Team sind schon unterwegs. Und denk dran: Kein Wort über die Sache gegenüber den Medien, bevor...
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