Schweitzer Fachinformationen
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»Das Gepäck ist einfach auf Deck liegen geblieben«, sagte Reverend Charles Morrison. »Ich dachte, du hättest darauf aufgepasst, Charlotte.«
Charlotte, seine Schwester, für deren Sommerurlaub er großzügig aufkam (was ihr in diesem Moment überaus bewusst war), sagte: »Aber du hast mich doch nicht darum gebeten.«
»War es nötig, dich zu bitten? Ich nahm an, als du hinauf an Deck gegangen bist, dass du nach dem Gepäck sehen wolltest, weil du wusstest, dass ich anderweitig beschäftigt war.«
Denn er hatte zur Erbauung der Mitreisenden Traktate verteilt. Sie konnte einem Blick auf die schwarze, über seiner Schulter hängende Samttasche nicht widerstehen und wusste das Gefühl von Erleichterung darüber, dass sie leer war, nicht zu unterdrücken. Über das Gepäck sagte sie: »Ich bin überzeugt, dass es recht sicher ist.«
»Im Gegenteil, du hast keinerlei Anlass, irgendeine Sicherheit zu empfinden. Wir sind oft genug vor den Diebstählen auf dem Rhein gewarnt und Zeuge der extremen Pflichtvergessenheit der Schiffseigner geworden. Ich habe dir bereits erklärt, Charlotte, dass der Kapitän mit den Dieben unter einer Decke stecken könnte. Es ist unsere Pflicht, zu allen Zeiten auf die Besitztümer anderer und auch die eigenen aufzupassen.«
Sie liebte ihn, hatte ihn immer schon geliebt, wusste jedoch, dass er nun einmal wie eine Laterne war, die bewusst hier- und dorthin schwenkte, alles absuchend, und gleich noch ein zweites Mal. Wäre es nicht das Gepäck, wäre es etwas anderes. Bald schon würde er auf den Allmächtigen kommen. Rasch ließ sie den Blick von seinem Gesicht auf die näher kommende Stadt Koblenz gleiten. Solide gelbe, in der späten Abendsonne leuchtende Mauern schienen unsicher auf ihren flimmernden Spiegelbildern zu balancieren. Sie wagte jedoch nicht, lange wegzusehen.
»Schließlich sagt uns der Allmächtige, zuallererst uns selbst zu helfen. Erst wenn wir unsere Unfähigkeit zur Gänze bewiesen haben, kommt Er mit Seiner Huld und Gnade zu Hilfe.«
»Aber was«, fragte sie vorsichtig, »soll ich denn jetzt wegen des Gepäcks unternehmen?«
Nichts konnte Mr Morrisons Argumentation beschleunigen. Das Deck krängte ein wenig unter der Last der Passagiere, die sich an die dem Ufer zugewandte Reling drängten. Einige von ihnen winkten, wie sie sah, mit ihren Traktaten zum heranrückenden Land hinüber. Andere benutzten sie als Fächer, war der Abend doch schwül. Wobei viele der Blätter, so sagte sie sich, sorgsam zusammengefaltet in ein Pompadour oder eine Rockschoßtasche gewandert waren, um erst später ernsthaft studiert zu werden. Sie hoffte inständig, dass er die ein oder zwei nicht gesehen hatte, die an ihnen vorbei über das Deck geweht waren. Aber das hatte er nicht.
Er hielt als Einziger der Stadt den Rücken zugewandt. Graue Haarsträhnen wurden unter der Krempe seines Hutes hervorgeblasen. Sein strenges, einfaches Gesicht war wettergegerbt wie die der Feldarbeiter, um die er sich sorgte, der Blick seiner blauen Augen fest auf einen Ort gerichtet, den niemand, soweit Charlotte wusste, je würde betreten dürfen. Er dozierte weiter über die Gnade Gottes, bis ihr der Gedanke kam, dass er sich vor einer weiteren neuen Stadt fürchten mochte und Trost brauchte.
Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und sagte: »Ich werde sehen, ob mit dem Gepäck alles in Ordnung ist. Sag du Marion und Ellie, dass wir angekommen sind.«
Mit einer Aufgabe versehen, ging er gleich los, während sie auf Deck zurückblieb, das zu voll von weiten weißen Röcken der weiblichen Passagiere war, als dass sie sich zu ihrem Gepäck vor dem Mast hätte durchdrängen können. Aber von Natur aus optimistisch und daran gewöhnt, dass Menschen, denen eine Verantwortung übertragen war, sie unfehlbar erfüllten, teilte sie die Bedenken nicht, dass die starken jungen Männer, die mit Stricken um das Gepäck herumstanden, es unsachgemäß an der Bordwand herunterlassen könnten, wo sie es anschließend in Empfang nehmen würden.
Nahe bei ihr wurde ein Platz an der Reling frei. Sie trat vor, legte ihre behandschuhten Hände auf das polierte Holz und sah hinunter auf die Szenerie, die sich ihr dort darbot.
Es war in diesem Moment - als das Pochen und Vibrieren der Maschine verstummte, die Messingglocke ihre Ankunft verkündete und das Dampfschiff gegen den Anleger stieß -, dass Charlotte einen plötzlichen heftigen Schmerz genau da empfand, wo sie, wie man es sie gelehrt hatte, ihr Herz wähnte.
Die Menge an Land starrte herauf zu den Passagieren. Gerade noch waren ihre Gesichter nicht mehr als blasse Umrisse zwischen den weißen Kopftüchern von Landfrauen und einer Ansammlung Pickelhauben gewesen, deren Messingspitzen im letzten Sonnenlicht aufblitzten, schon wurden daraus einzelne nach oben gewandte, suchende Augen und Münder. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, sodass die Szenerie verschwamm und zu zerlaufen begann, als wären unsichtbare Schwaden eines aufflammenden Brandes zwischen sie und das Ufer getreten. All das, weil sie neben dem Bereich, der für die Gangway frei gemacht wurde, zum ersten Mal seit zwanzig Jahren das Gesicht eines Mannes namens Desmond Fermer entdeckt hatte.
Erstaunt über den Schmerz, klammerte sie sich an die Reling. In den letzten Jahren hatte sie in Momenten des Selbstmitleids ob ihres gebrochenen Herzens kaum noch etwas für ihn empfunden, und jetzt wurden ohne Vorwarnung all die langjährig über die Wunde gebreiteten Verbände angesichts des schwarzen Rocks, des hohen Hutes und des schweren, gut aussehenden Gesichts, das, wie es schien, zu ihr heraufsah, aufs Grausamste heruntergerissen.
Natürlich war er es nicht. Das wusste sie gleich. Der Mann dort unten war in ihrem Alter, höchstens Mitte vierzig. Desmond Fermer musste jetzt sechzig sein, alt, beleibt, grau, vielleicht war er sogar schon tot. Da er es nicht war, wusste sie, dass der Mann dort unten auch nicht zu ihr hinaufsah. Dass er, als er den Hut lüftete, lächelte, Dinge rief, die unter den Rufen der die Gangway sichernden Männer verloren gingen, den Blick nur scheinbar auf sie gerichtet hielt, dass es nicht sein konnte, dass er sie ansah.
Schon antwortete eine Frauenstimme direkt neben ihr auf Englisch: »Hier, Edward, hier«, und als Charlotte den Kopf wandte, sah sie eine kräftige, hübsche Person mit zwei großen Söhnen, die ebenfalls winkten. Ihr Mann. Andere Leute. Egal.
Beine bewegten sich auf Kommando, erinnerten sich an die erhöhte Schwelle der Kabinentür, »Oh, entschuldigen Sie bitte«, zu einer Französin, die sie streifte. In der übervollen Kabine beugte sich eine Reihe Damen dem langen Wandspiegel entgegen, der den Raum einfasste. Ihre Röcke hoben sich hinten, und obwohl sie miteinander redeten, waren ihre Gesichter konzentriert, und ihre Hände bemühten sich um unmerkliche Korrekturen. Charlotte trat zwischen sie, und vor ihr im Spiegel erschien, was sie als ihr Gesicht zu akzeptieren gelernt hatte. Sie betrachtete es leidenschaftslos und fragte sich, ob es bereits etwas von der Zerrüttung zeigte, die sie innerlich verspürte. Offenbar nicht. Offenbar sandte sie das gleiche Signal an die Welt, das sie schon an all den letzten Tagen ausgesandt hatte - die dunklen Augen, das glatte Haar, die gerade Nase und die ordentliche Haube sagten faktisch: »Respektiert mich und lasst mich durch.«
Als nun plötzlich das Gesicht ihrer Schwägerin neben ihr im Spiegel erschien, kam es ihr vertrauter als das eigene vor, eingehender betrachtet über all die Jahre.
»Da bist du ja«, sagte Marions Stimme, und Charlotte, sich selbst der geringsten Betonung bewusst, antwortete, ohne ihr den Kopf zuzuwenden: »Ja, ich habe unsere Ankunft beobachtet.«
Sie beobachtete, wie Marion sich musterte, aufmerksam, das Kinn sanft zurückgezogen, während sie automatisch all die sinnlosen Dinge tat (die sich überall um sie herum wiederholten), mit denen man sich auf das Betreten eines neuen Ortes vorbereitete. Ein Zupfen an beiden Seiten des Kragens, das Haar unter dem Rand der Haube glatt streichen, ein schnelles Ziehen an den Fingerenden der Handschuhe, und die ganze Zeit über arbeitete ihr kleiner Mund in ihrem weichen, runden Gesicht.
Die Hotelfassade wirkte recht ansehnlich. Aber war es vielleicht nicht zu laut so nah am Fluss? Und wenn das Haus auch sauber und ordentlich aussah, musste es drinnen nicht unbedingt ebenfalls so sein, oder? Solange es nur nicht wie in Heidelberg war. Sie zog das faltige Kinn ein, wandte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Sie glaubte nicht, dass Charles eine solche Tortur nervlich noch einmal durchstehen würde. Charlotte fühlte sich in ihren Gewissheiten bestärkt. Wie albern von mir, dachte sie und sagte mit weicher Stimme: »Und du, meine Liebe, wie fühlst du dich? Ich hatte noch keine Gelegenheit, dich heute zu fragen.«
»Müde natürlich«, sagte Marion auf ihre reizend resignierte Art. Sie fing Charlottes Blick im Spiegel auf, und ihr kleiner Mund sandte ein strenges kleines Lächeln aus. »Aber es gibt im Moment so viel Wichtigeres als meine Gefühle.«
Darauf gab es natürlich keine Antwort, nur das Bedürfnis weiterzukommen. Auf Reisen muss alles Punkt für Punkt durchgegangen werden. Handschuhe, Schultertuch, Pompadour, Marions karierte Reisedecke, ihr roter Reiseführer, der nicht auf dem roten Plüschsitz liegen bleiben sollte. Sie folgte Marion durch die Kabine. »Denk an die Schwelle«, sagte sie und hob die Hand, um sie leicht an der Schulter zu fassen.
Die ersten Passagiere schoben sich bereits langsam die Gangway hinunter. Gepäck hing an Seilen. Angesichts der Aussicht auf so viel Neues war es unmöglich, nicht zu hoffen und den Hals zu recken, um die großen Buchstaben des Hotels...
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