Schweitzer Fachinformationen
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Erster Akt
Ein Luftschiff mit Konsequenzen
9. bis 12. September 1913
Alin Vasilescu, Oberleutnant bei den Achter-Ulanen, sagte »Nein« und stürzte damit die Hochzeitsgesellschaft, die sich in freudiger Erwartung eines Skandals in der spätbarocken Düsternis der Dominikanerkirche zu Wien eingefunden hatte, in erhebliche Verwirrung. Man war erschienen, den alten Vasilescu, dem man sein Vermögen, oder seinen Einfluss bei Hofe, vielleicht auch beides zusammen, neidete, gedemütigt zu sehen, wenn sein ältester Sohn den Bund der Ehe mit einem kleinen, ehemaligen Dienstmädchen schloss, das - so den Gerüchten zu trauen war - obendrein von illegitimer Geburt und in einem Waisenhaus aufgewachsen war. Dass nun der Initiator dieser Posse sich im letzten Moment eines Besseren besinnen sollte, stellte die versammelten Gäste vor die Herausforderung, diese noch viel unglaublichere Wendung der Ereignisse angemessen zu zelebrieren.
»Recht so, Alter!«, rief ein junger Leutnant, allen Vorurteilen über den Mangel an geistiger Wendigkeit des Offiziersstandes zu Ehren gereichend aus, und wurde augenblicklich von seinen Kameraden zum Schweigen gemahnt. Der Dominikanerpater im feierlichen Talar begann eine wenig aufschlussreiche Rede, die sich vornehmlich aus »aber, gnädiger Herr, aber, na, so was« zusammensetzte, eine Brautjungfer brach in Tränen aus, und die Trauzeugen stürzten sich auf Vasilescu, um wild gestikulierend auf ihn einzureden.
Überhaupt, so schien es mir, die ich in einer der hintersten Bankreihen kauerte, auf der einen Seite von einem Herrn von wahrhaft titanischer Kubatur, auf der anderen von Katalins ebenso altmodischem wie umfangreichem Ridikül bedrängt, hatten mittlerweile alle Anwesenden beschlossen, ihre Meinung über die Geschehnisse gleichzeitig und im Bühnenflüsterton kundzutun. Die Kakophonie der geraunten Mutmaßungen und gezischten Abfälligkeiten schwoll bis zu jenem Punkt an, da die verschmähte Braut, die ihr missliches Schicksal bisher mit bewundernswerter Ruhe hingenommen hatte, dem Trubel ein Ende setzte, indem sie mit einem Seufzen in die leidlich passable Imitation einer Ohnmacht sank.
Wenngleich ich die Vermutung hegte, dass ihre Vorstellung nicht einmal bei dem anspruchslosen Publikum einer galizischen Provinzbühne Anklang gefunden hätte, die beiden Trauzeugen konnte sie doch überzeugen; säbelrasselnd ging man neben der kleinen, weiß verschleierten Gestalt in die Knie, rief nach Wasser, Cognac, einem Arzt. Den Mangel an Aufmerksamkeit, der ihm darob zuteilwurde, nutzte Oberleutnant Vasilescu, um sich mit großer Geste den Hut vom Kopf zu fegen, seinen Degen aus dem Gürtel zu reißen und über dem Schenkel zu zerbrechen, was einen Choral an Verwunderungslauten aus den Reihen seiner Regimentskameraden zur Folge hatte.
Neben mir hatte Katalin eine Rosenknospe aus den Girlanden, die die Bankreihen schmückten, gepflückt und begann die Blätter zwischen behandschuhten Fingern zu zerreiben; eine Geste äußerster Unruhe, die ich ihr nicht verdenken konnte. Vermutlich erinnerte sie sich an jenen unglücklichen Tag, sicher begraben im fernen Land der Vergangenheit, da Vasilescu der Ältere sie zwar nicht vor dem Altar, jedoch unmittelbar nach der Verlobungsfeier verlassen hatte, um sein Glück bei einer Jüngeren, Schöneren zu suchen.
Alin Vasilescu hatte indessen die beiden Degenstücke sorgfältig auf dem Altartisch abgelegt und war an dem Pater vorbei die beiden Stufen hinab ins Kirchenschiff getreten, ohne auch nur einen Blick auf das unglückliche Mädchen, das bis vor wenigen Minuten seine Braut gewesen war, zu werfen.
»Ich bin«, erklärte er mit volltönender Tenorstimme, »eine Schande. Eine Schande für meine Familie, meinen Namen, mein Regiment«, und klang dabei unbestreitbar zufrieden.
»Ja, das bist du allerdings«, murmelte der Gigant zu meiner Rechten. Schweißperlen standen ihm auf der breiten Stirn.
»Ich bin eine Schande«, wiederholte Oberleutnant Vasilescu. »Und das Spektakel hier erkläre ich für beendet.« Mit diesen Worten wirbelte er auf dem Absatz herum und stürzte ins Freie, gefolgt von einem der Trauzeugen und einigen anderen Kameraden, die wohl berechtigterweise fürchten mochten, die Schande des Regiments wolle sich Unheil antun.
»Stella, meine Liebe! Wie furchtbar!« Katalin hatte sich der entblätterten Rose entledigt und umklammerte jetzt meine Hand. »Das arme Mädchen, denk doch nur!« Sie seufzte. »Und er ist nicht einmal hergekommen.«
Mit ihm, so schloss ich, konnte nur Freiherr Marian Vasilescu gemeint sein. Seinetwegen hatte Katalin weder Falschheit noch Mühe gescheut, um sich in den Besitz einer Einladung zu der zweifelhaften Hochzeit, die allgemein als etwas kindische Rache des Sohnes an seinem übergroßen Vater gesehen ward, zu bringen. Die verschmähte Liebe, diese alte, böse Macht.
»No ja, fad war's wenigstens nicht«, sah ich mich bemüßigt, meine Meinung kundzutun.
Tatsächlich hatte ich im Vorfeld wenig unversucht gelassen, um Katalin zum Verzicht auf meine Gesellschaft bei der Trauungszeremonie zu bewegen. Ich hatte in den vergangenen zwei Jahren, seit Katalin und ich unseren höchst zweckmäßigen Pakt geschlossen hatten, zu viele Nachmittage meines Lebens auf fremden Hochzeiten verbracht. Unbarmherzig hinterließen sie ihre Spuren, diese Inszenierungen von Glück und Hoffnung; nach einer jeden blieb ich ein bisschen älter, ein bisschen matter zurück, erlaubte mir gar, mich ein paar Stunden lang dem Traum einer geordneten Existenz hinzugeben.
Der Großteil der verhinderten Hochzeitsgesellschaft hatte indes die Kirche verlassen, unzweifelhaft erleichtert, dem Schauplatz des Debakels den Rücken zukehren zu können, vielleicht gar ein wenig enttäuscht, statt des versprochenen Skandals nur eine Peinlichkeit serviert bekommen zu haben.
»Schade drum.« Auch Katalin hatte sich erhoben. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung in Richtung Tor gab sie mir zu verstehen, dass auch sie unsere Anwesenheit in der Kirche nicht mehr für weiter erforderlich hielt.
»Bitte, einen Augenblick noch.« Zu meiner Schande musste ich mir eingestehen, dass mein Interesse an den Hintergründen dieser beschämenden Posse geweckt war. Und eingedenk der Tatsache, dass mir kaum vierundzwanzig Stunden bis Redaktionsschluss blieben, fügte ich hinzu: »Das könnte eine Geschichte werden.«
»Das hier?« Katalin rümpfte die Nase. Seit ich ihr als Gesellschafterin zur Verfügung stand, war sie meiner Nebenerwerbsquelle mit höchstem Misstrauen sowie gelegentlicher Feindseligkeit begegnet, obgleich sie niemals offen von mir verlangt hatte, selbige aufzugeben. Ihre Ressentiments konnte ich ihr freilich nicht anlasten, handelte es sich doch um eine Kolumne (immerhin zweispaltig!), die einmal wöchentlich in einem Gesellschaftsblatt mindester Qualität publiziert wurde, zu allem Überfluss auch noch einfallsreich mit »Wiener G'schichten« betitelt und gewissermaßen als Krönung der Originalität von mir als Mizzi Schinagl unterzeichnet.
»Selbstverständlich, das hier.« Mizzi, mein schreibendes alter Ego liebte Skandale und Sentimentalitäten, dekoratives Herzeleid und unschickliche Liaisons, Schurken und Helden und gebrochene Schönheiten, Demi-Mondänes, die ihr Glück fanden, und schneidige Offiziere, die das ihre in einer einzigen kühnen Geste verspielten.
Abgesehen davon regte sich in mir der Verdacht, dass es hier das eine oder andere Geheimnis zu enträtseln gab: Die Braut - mittlerweile hatte sie sich entschlossen, wieder aus ihrer gespielten Ohnmacht zu erwachen - nahm Fürsorge und Aufmerksamkeit, die ihr Pater, Messdiener und Trauzeuge entgegenbrachten, mit stoischem Gleichmut hin. Einer reifen, lebenserfahrenen Dame der Gesellschaft hätte ich vielleicht abgenommen, dass sie Schmerz und Trauer hinter einer Pose kühler Indifferenz verbarg; bei einem blutjungen Mädchen hingegen drängte sich mir die Vermutung auf, dass tatsächlich keine allzu tiefen Gefühle im Spiel waren. Schon im Begriff, mir die eine oder andere Theorie zurechtzuspinnen, was Oberleutnant Vasilescu ihr angetan haben konnte, dass nicht einmal der Verlust des in Aussicht gestellten Reichtums sie zu Tränen rührte, blickte ich noch einmal zu dem Mädchen hinüber: Lediglich die Mutlosigkeit ihrer Haltung, wie sie da mit hängenden Schultern, den Schleier im Schoß, auf der Büßerbank seitlich vor dem Hauptaltar kauerte, schien mir beinahe echt. Beinahe. Und doch nicht aufrichtig genug, um die Ereignisse als die billige, offensichtliche Tragödie zu akzeptieren, als die sie sich uns darboten.
»Schön. Sollst halt den Nachmittag freibekommen«, verkündete Katalin zuletzt. Bei all ihren Kaprizen konnte sie eine außerordentlich großherzige Dienstherrin sein, wenn sie nur daran dachte. Verstohlen sah ich ihr über die Schulter nach, wie sie sich vor dem Portal noch auf den zur Kirche führenden Stufen einer Gruppe anschloss, die - soweit ich vernehmen konnte - lebhaft debattierte, ob es schon zu spät in der Saison sei, im Parkcafé im Volksgarten die Sensation in Champagner zu ertränken.
Ich holte das Fläschchen mit Riechsalz aus meinem Ridikül; ich selbst mochte von geradezu obszön robuster Kondition sein, doch in meinem schmutzigen Metier hatte mir dieses kleine Hilfsmittel schon unschätzbare Dienste im Schließen neuer Bekanntschaften geleistet.
So wie heute.
»Mir scheint, das könnt Ihnen guttun«, bot ich dem Mädchen voll argloser Hilfsbereitschaft die Riechsalzflasche an, was die drei Herren umgehend zum Anlass...
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