Schweitzer Fachinformationen
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Ich gehe einen schummrigen Pfad entlang. Rund um mich herum wellen sich dicht mit Moos bewachsene Hügel. Ich blicke in den Himmel und fühle mich winzig klein angesichts der Säulen aus schleimig feuchten Stämmen. Der Boden unter mir ist nass und gibt nach. Ein Schild am Weg warnt vor einem aggressiven Elch. Ich sehe keinen Elch und gehe weiter. Farnwedel tauchen auf, Schwertfarne mit ihren eingerollten Triebspitzen von der Größe einer Babyfaust, bedeckt mit samtbraunen Härchen, unerwartete Vorboten der geschwungenen Wedel, die wie Pfauenfedern dort heraussprießen werden. Von den Zweigen über mir hängt in langen Fingern Moos herab. Auf einem umgestürzten Baumstamm drängen Pilze himmelwärts. Alles scheint zugleich nach oben, nach unten und zur Seite zu streben.
Ich dringe in all das ein, aber niemand scheint davon Notiz zu nehmen. Alle Dinge hier sind derart in ihr eigenes Leben vertieft, dass ich mir wie eine Ameise vorkomme, die unbemerkt über einen Baumschwamm läuft. Die an den Baumstämmen hinaufkletternden Flechten kräuseln die Ränder ihrer scheibenförmigen Körper nach oben und fangen Wassertropfen ein, während sie einen neuen Tag und eine weitere Chance zu wachsen begrüßen.
Ich befinde mich im Hoh-Regenwald im Pacific Northwest der USA, und alles hat etwas Geheimnisvolles an sich. Aus gutem Grund. Denn trotz allem, was die Wissenschaft über das biologische Geschehen hier weiß, bleibt doch noch so viel, was sie nicht zu erklären vermag. Ich befinde mich inmitten unzähliger komplexer adaptiver Systeme. Jedes Geschöpf ist in Schichten wechselseitiger Beziehungen mit anderen Geschöpfen in der Umgebung verbunden, die von den kleinsten bis zu den höchsten Größenordnungen reichen. Die Pflanzen mit dem Boden, der Boden mit den Mikroben, die Mikroben mit den Pflanzen, die Pflanzen mit den Pilzen, die Pilze mit dem Boden. Die Pflanzen mit den Tieren, die sich von ihnen ernähren und sie bestäuben. Die Pflanzen mit anderen Pflanzen. Das ganze wunderschöne Wirrwarr entzieht sich jeglicher Kategorisierung.
Beim Nachdenken darüber kommt mir das Konzept des Yang und Yin, die Philosophie der gegensätzlichen Kräfte, in den Sinn. Wir wissen, dass die Kräfte, die das Leben formen, sich in beständigem Fluss befinden. Die Motte, die jetzt die Blüte einer Pflanze bestäubt, gehört zur selben Spezies wie das Lebewesen, das in seinem Raupenstadium die Blätter dieser Pflanze frisst. Es liegt also nicht im Interesse der Pflanze, die fressenden Raupen vollkommen zu vernichten, denn sie werden sich in jene Geschöpfe verwandeln, auf die sie zur Verbreitung ihrer Pollen angewiesen ist. Andererseits kann die Pflanze keine vollständige Vernichtung ihrer Blätter dulden. Ohne Blätter vermag sie kein Licht zu essen und stirbt. Deshalb beginnt die Pflanze, nachdem sie einige Gliedmaßen verloren hat und Zeichen einer beträchtlichen Schädigung zeigt, ihre Blätter voll Bedacht mit unappetitlichen chemischen Stoffen zu füllen. Die meisten Raupen dürften inzwischen genug gefressen haben, um überleben, ihre Metamorphose durchmachen und ihren Beitrag zur Bestäubung leisten zu können. Alle Beteiligten geraten um Haaresbreite an den Rand des Todes, um dann letztlich doch zu gedeihen. Das ist der Zug und Druck der wechselseitigen Abhängigkeit und des Wettbewerbs. In großem Rahmen betrachtet, scheint niemand den Sieg davongetragen zu haben. Alle sind noch da: Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien. Am Ende stellt sich ein in ständigem Fluss befindliches Gleichgewicht ein. Mir wird klar, dass dieses ganze Drücken und Ziehen und Zusammenfließen von einer gewaltigen biologischen Kreativität zeugt.
Wie wir diese ganze Komplexität geistig zu erfassen vermögen, ist das gemeinsame berufliche Problem der Wissenschaft und der Philosophie, aber auch jedes Menschen, der staunend innehält. All dieses wuchernde Leben, das nicht lange genug stillhält, damit wir es in Ruhe anschauen können. Den Fokus auf die Pflanzen zu verengen, mag daher zunächst sinnvoll erscheinen. Das wäre einfacher, da wir es nur mit einer Sache zu tun hätten. Doch das erweist sich rasch als naiv, denn diese Komplexität herrscht in allen Größenordnungen.
Journalistinnen und Journalisten meiner Sparte neigen dazu, sich auf den Tod zu konzentrieren. Oder auf dessen Vorboten: Krankheit, Katastrophen, Niedergang. So spricht der Klimajournalismus über die ablaufende Zeit, während die Erde auf ihrem Weg in die absehbare Krise unerbittlich einen Orientierungswert nach dem anderen überschreitet. Davon kann ein Mensch nur ein gewisses Maß ertragen. Vielleicht war meine Toleranz nach Jahren der Beschäftigung mit Dürren und Überschwemmungen auch irgendwann erschöpft und aufgebraucht. In den letzten Jahren hatte ich begonnen, mich taub und leer zu fühlen. Ich brauchte etwas, das einen Ausgleich bieten konnte. Ich fragte mich, was das Gegenteil von Tod ist. Vielleicht Schöpfung? Das Gefühl, dass etwas beginnt, statt zu enden. Pflanzen sind genau das, wenn man bedenkt, dass sie ständig wachsen. Sie hatten mir auch in meinem bisherigen Leben immer schon Ruhe geschenkt, lange bevor Studien bestätigten, was wir längst wussten: dass mit Pflanzen verbrachte Zeit uns stärker zur Ruhe kommen lässt als ein langer Schlaf. Als ich in einer dichtbesiedelten Stadt lebte, ging ich gerne in den Park und machte einen Spaziergang unter dem Blätterdach der Ulmen und Eiben, wenn ich meinen Kopf freibekommen wollte. Minutenlang betrachtete ich die neuen Blätter, die sich an meinen Topfphilodendren bildeten, wenn ich mit meinen Nerven am Ende war. Pflanzen sind das Urbild schöpferischen Werdens. Sie sind in ständiger, wenngleich langsamer Bewegung und suchen Luft und Boden unablässig nach einer lebensfähigen Zukunft ab.
In der Stadt schienen sie die denkbar ungeeignetsten Orte zu ihrem Lebensraum zu machen. Sie brachen durch Spalten in zerfallendem Pflaster. Sie überwucherten die Maschendrahtzäune an den Rändern vermüllter Grundstücke. Ich freute mich heimlich über einen Götterbaum - im Nordosten der USA als invasive Art verschrien -, der aus einem Riss in meinem Treppenaufgang hervorwuchs und in einer einzigen Wachstumsperiode fast die Höhe eines zweistöckigen Gebäudes erreichte. Heimlich, weil ich wusste, dass er in New York als teuflische Spezies galt - und das zum Teil deshalb, weil er den Boden im Umkreis seiner Wurzeln mit Giften verseucht, so dass andere Pflanzen dort nicht gedeihen können und er sich sein Stückchen Sonne zu sichern vermag. Ich freute mich, weil mir das teuflisch brillant erschien. Als mein Nachbar den Baum im Herbst mit einer Machete zerhackte, hatte ich durchaus Verständnis dafür. Dennoch betrachtete ich den Stumpf jeden Morgen, wenn ich das Haus verließ, mit Bewunderung. Ich konnte bereits neue grüne Triebspitzen erkennen. Solcher Einsatz verdient Respekt.
So schienen denn die Pflanzen der rechte Ort zu sein, um meine erschöpfte apokalyptische Aufmerksamkeit zu wecken. Sicher konnten sie mich erfrischen. Bald erfuhr ich jedoch, dass sie noch viel mehr taten. Im Laufe einer jahrelangen obsessiven Beschäftigung veränderten die Pflanzen mein Verständnis dessen, was Leben bedeutet und welche Möglichkeiten es bietet. Wenn ich mich nun im Hoh-Regenwald umschaue, sehe ich mehr als nur beruhigendes Grün. Ich erlebe eine Lehrstunde in der Kunst, das eigene Potenzial in der vollsten, absonderlichsten und einfallsreichsten Weise zu entfalten.
Zunächst einmal stellt ein Leben, das in ständigem Wachstum an einer einzigen Stelle verbracht wird, eine gewaltige Herausforderung dar. Um diese Herausforderung zu bewältigen, haben Pflanzen einige der kreativsten Überlebensfähigkeiten aller Lebewesen entwickelt - einschließlich des Menschen. Viele sind derart genial, dass sie fast unmöglich erscheinen für eine biologische Ordnung, die wir weitgehend an die Grenzen unseres Lebens verdrängt haben und für eine bloße dekorative Rahmung des Schauspiels der Tierwelt halten. Aber das ändert nichts an den unglaublichen Fähigkeiten der Pflanzen, die unseren blutleeren Erwartungen Hohn sprechen. Wie ich bald erfahren sollte, ist ihre Lebensweise so erstaunlich, dass bis jetzt noch niemand die Grenzen dessen kennt, was Pflanzen in der Lage sind zu tun. Tatsächlich weiß offenbar noch niemand genau, was eine Pflanze überhaupt ist.
Natürlich ist das ein Problem für die Botanik. Oder das Aufregendste, was diesem Fachgebiet in einer einzigen Generation passiert ist - je nachdem, wie wohl Sie sich damit fühlen, wenn sich das Wissen, das Sie einmal für wahr hielten, grundlegend verändert. Nun war ich hoffnungslos fasziniert. Kontroversen in einem wissenschaftlichen Fachgebiet sind oft Vorboten gänzlich neuer Entwicklungen, eines neuen Verständnisses seines Gegenstandes. In diesem Fall war der Gegenstand das gesamte grüne Leben schlechthin. Ich begann, mein wachsendes Interesse ganz auf das aufkommende neue Denken in der Wissenschaft der Pflanzen zu richten. Je mehr die Botanikerinnen und Botaniker die Komplexität der Formen und Verhaltensweisen der Pflanzen entdeckten, desto weniger schienen die überkommenen Annahmen zum Pflanzenleben zuzutreffen. Mit diesen Widersprüchen fraß das Fachgebiet sich selbst auf. Die strittigen Punkte vervielfachten sich ebenso rasch wie die Mysterien. Irgendetwas an diesem Fehlen klarer Antworten zog mich an, und ich denke, dass es vielen von uns so ergeht. Wer fände das Unbekannte auch nicht zugleich anziehend und abstoßend?
Dieses Buch greift diese neuen Epiphanien in der Pflanzenwissenschaft auf und befasst sich mit dem Kampf um die Frage, wie neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden. Nur selten...
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