Schweitzer Fachinformationen
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»Ich schaff das! Das sind doch nur ein paar Steine. Und sie müssen ja bloß in den zweiten Stock.« Immer wieder sagte ich mir das. Die »paar Backsteine« wogen allerdings locker mehr als eine Tonne. Und ich buckelte sie mit meinen sechs Jahren allein die Treppe hinauf, damit wir den Schornstein im neuen Haus wieder aufmauern konnten. Ich musste das nicht tun, aber ich wollte es unbedingt, wollte ein Großer sein und Stärke zeigen. Als mein Vater an diesem Abend nach Hause kam, lagen alle Steine bereits oben. Ich lag auch. Im Bett. Alles tat mir weh, aber ich hatte meinem Vater unbedingt beweisen wollen, was ich konnte.
Endlich waren wir in unsere neue Wohnung gezogen. Hier waren die Wände nicht nass, aber es gab jede Menge Arbeit. Wir hatten das Haus von einer verstorbenen Tante geerbt. Hausbesitz war in der DDR allerdings nichts Erstrebenswertes: Der Zustand von Immobilien war in der Regel bescheiden und an Material zum Renovieren kam man genauso wenig heran wie an Handwerker. Zum Glück konnte mein Vater das meiste selbst erledigen und seine Arbeit an der Tankstelle machte sich jetzt bezahlt: Er kannte jeden und jeder kannte ihn - so bekamen wir durch Vitamin B vieles an Baumaterial, was wir sonst nie erhalten hätten.
Mit dem Umzug musste ich leider die Schule wechseln - und damit begann meine persönliche Katastrophe. Ich hatte keinen guten Start und es wurde im Laufe der Zeit nicht besser. Heute wird man als Neuer ja oft in die Klasse hineinbegleitet, vorgestellt und begrüßt. Ich musste von Anfang an allein klarkommen. Die ganzen anderen Zweitklässler kannten sich schon ein Jahr, Freundschaften und Cliquen standen bereits und niemand hatte auf mich gewartet. Daraus entwickelte sich in kürzester Zeit etwas, das man heute Mobbing nennen würde - damals fehlten mir die Worte dafür, aber es fühlte sich übel an.
Es ging damit los, dass ich schnell einen Spitznamen weghatte. Mein Kopf war nicht besonders klein, deshalb rief irgendwann ein Mitschüler: »Du hast ja einen Kopf wie eine Melone, Titus.« »Melone, Melone .«, sangen die anderen und machten sich immer wieder über mich lustig.
Doch damit nicht genug. Ich weiß nicht, wie oft es Milchanschläge auf mich gab. Was Osten und Westen zu dieser Zeit verband, war die Schulmilch. Bei uns war sie Teil der Schulspeisung, während es in der Bundesrepublik hieß: »Milch macht müde Männer munter.«
Jeden Tag vor dem Unterricht gingen zwei aus der Klasse, die gerade Milchdienst hatten, beim Hausmeister vorbei und holten die bestellten Milchflaschen ab. Für fünfzig Pfennige pro Woche gab es täglich eine Flasche Milch, Kakao oder Erdbeermilch. So stand bis zur ersten großen Pause auf fast jedem Tisch eine Glasflasche mit Zellophandeckel. Meine Milch trank ich regelmäßig aus und fast genauso regelmäßig fand ich eine weitere Flasche in meinem Ranzen - mit durchstochenem Deckel, kopfunter und ausgeleert. Es war jedes Mal eine Mordssauerei. Und ich schämte mich, weil ich schon wieder neue Hefte brauchte oder sie über der Heizung trocknen musste, wobei die ganze Umgebung nach Käse stank.
Meine lieben Klassenkameraden achteten allerdings peinlich genau darauf, die Milch immer nur ins vordere Fach meines Ranzens auszuleeren. Im hinteren befanden sich nämlich die Bücher, und wenn die etwas abbekommen hätten, wäre das Beschädigung von Staatseigentum gewesen. Ich weiß gar nicht, wie viel Geld ich in neue Schulhefte investiert habe. Jedes Mal, wenn ich in den Laden gegenüber der Schule kam, fragte die Verkäuferin: »Na, brauchst du wieder ein paar Hefte?«
Es sagt sich so leicht: Kinder können grausam sein. Aber es fühlt sich nicht gut an, wenn sie es sind. Und wenn man selbst das Opfer ist. Fast mein ganzer Schultag bestand aus Hänseleien, Prügeln, Milchattacken und so lustigen Streichen, wie in der Schultoilette aufs Pissoir gesetzt zu werden. Nein, die Schule machte mir keinen Spaß. Viele Jahre lang nicht.
In der DDR an einer Schule zu sein, hieß durchaus, praxisorientierten Unterricht zu bekommen. Wir waren draußen in der Natur oder im Schulgarten, probierten Sauerampfer und sammelten Kartoffelkäfer. Wir rechneten und forschten. Aber wir mussten auch zu Schulappellen antreten. Die Sahnschule in Crimmitschau bot sich hierzu besonders an, denn hinter dem L-förmigen Gebäude war ein riesiger Platz.
Praktisch jeden Samstag bei gutem Wetter mussten wir uns dort als Schüler versammeln - und gutes Wetter bedeutete schon, dass es nicht schüttete. Vorne wurde ein Pult mit Mikrofon aufgebaut und der Direktor las irgendwelche Statuten der SED-Regierung vor. Dabei mussten wir klassenweise antreten und stillstehen. Jedenfalls die anderen, denn ich war ja nicht bei den Jungpionieren. Wie ein Aussätziger musste ich mit den wenigen anderen, die nicht in der kommunistischen Jugendarbeit organisiert waren, vorne neben dem Pult stehen. Wir fühlten uns wie Freiwild und waren verletzt - und genau das sollte diese Extrabehandlung erreichen, ebenso wie die seltsame Regelung, dass diejenigen, die nicht bei den Pionieren waren, nie aufs Klassenfoto durften. Es war ein Signal für mich: Offiziell gehöre ich gar nicht dazu.
Nun gab es an unserer Schule Lehrer, die waren geradeaus und in Ordnung, und andere, die waren einfach übel. Leider waren diejenigen, die sonntags bei uns in der Kirche im Chor sangen, nicht unbedingt die besseren Lehrer - im Gegenteil. Die Sahnschule hatte ihren Eingang auf der einen Seite. Beim Hineingehen war nicht nur Zeit, die Schulmilch abzuholen, sondern auch, um den Hausmeister zu begrüßen. Wenn die Schule zu Ende war, wurde die Ausgangstür auf der anderen Seite des Gebäudes geöffnet. Und wieder ging es am Hausmeister vorbei und an dem Lehrer, der gerade Schließdienst hatte. Man kann sich das etwa so vorstellen wie in der »Feuerzangenbowle«, dem Filmklassiker mit Heinz Rühmann.
Einmal - es war ein Samstag im Winter und ich hatte schon den Appell überlebt - ließ ich dummerweise meine Mütze am Haken vor dem Klassenzimmer hängen. Am Ausgang rannte ich los, um dem Trupp Klassenkameraden zu entkommen, die gern an der nächsten Ecke auf mich warteten, um mich zu verdreschen. Das passierte besonders samstags, denn da hatten wir keine Hausaufgaben auf und sie hatten Zeit. Ich sprintete also aus dem Schultor, wollte mir die Mütze aufsetzen und merkte, dass ich sie vergessen hatte. Schnell drehte ich mich um. Am Tor stand der Hausmeister neben Herrn Heiliger - der trug nicht nur einen frommen Namen, sondern war auch im Kirchenvorstand der Lutherkirche.
»Entschuldigung, ich habe meine Mütze vergessen. Ich müsste nur mal eben kurz .«, begann ich, doch Heiliger blaffte mich an: »Ist das vielleicht der Eingang?«
»Aber wie soll ich denn meine Mütze holen?«
»Stell dich gefälligst an die Eingangstür und warte, bis wir dir öffnen.«
Wie ein geprügelter Hund schlich ich mich ums Schulgebäude herum und wartete, bis der Letzte gegangen war und die beiden den Ausgang abgeschlossen hatten. Dann kamen sie zu mir, ließen mich noch einmal hinein und zeigten mir deutlich, was sie davon hielten, dass ich ihr wertvolles Wochenende verkürzte. Schnell fand ich meine Mütze, ging natürlich durch den Ausgang hinaus und verfluchte in Gedanken Heiliger, der sonntags immer besonders fromm lächelte und mich jetzt meinen Klassenkameraden ausgeliefert hatte. Die warteten natürlich schon auf mich und verpassten mir eine gehörige Abreibung.
Das Verprügeltwerden hörte einfach nicht auf. Nur ein einziges Mal ergriff jemand für mich Partei. Als ich schon am Boden lag, trat Manuela aus meiner Klasse vor mich und funkelte die Jungs an, die mich bearbeiteten: »Jetzt lasst ihn doch endlich mal in Ruhe.« Ich bewundere sie heute noch für ihren Mut.
Tatsächlich war es meine Mutter, die dann für Abhilfe sorgte. Ich war inzwischen in der siebten Klasse und sie seufzte nur noch, wenn ich wieder mit einem blauen Auge oder zerrissener Hose nach Hause kam. Jahrelang hatte sie gepredigt: »Denk daran, Titus, vielleicht hast du ja auch etwas gemacht, was sie geärgert hat. Außerdem hält man immer die andere Wange hin .« Doch eines Tages schaute sie mich an und sagte: »Weißt du was, mir reicht das jetzt. Du bist groß und kräftig - dann wehr dich doch einmal.«
Schon am nächsten Samstag war ich wieder auf der Flucht. Die Schule war vorbei, und die übliche Meute verfolgte mich auf dem Weg nach Hause. Ich rannte den Schulberg hinunter und sagte mir dabei: »Ich will nicht mehr wegrennen. Nie mehr.« Also feuerte ich meinen Ranzen den Berg hinunter und drehte mich um. Da waren sie schon. »Na, kannst du nicht mehr?«, ätzte einer von ihnen und kam auf mich zu. Er wusste die anderen hinter sich und fühlte sich stark. Außerdem hatte ich mich ja noch nie gewehrt.
»Lasst mich endlich in Ruhe«, schrie ich ihn an.
Er war etwas verunsichert, doch dann stichelte er weiter: »Und wenn nicht? Weinst du dann?«
In diesem Moment schlug ich zu. Einmal nur, aber das war genug. Er ging sofort zu Boden. Dann lief ich zum Nächsten. Auch er ging direkt in die Knie. Die anderen wollten nicht warten, bis sie an der Reihe waren. Diesmal rannten sie und nicht ich. Und dabei blieb es.
Ich weiß im Rückblick nicht, was ich hätte anders machen sollen. Aber was an jenem Tag mit mir passierte, war nicht gut für mich. Es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Zwar legte sich ab diesem Moment so schnell keiner mehr mit mir an, doch ich wurde richtig herzlos.
Wie...
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