Schweitzer Fachinformationen
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NACH SÜDEN, SEHR WEIT NACH SÜDEN
Trossingen: Sonntag, 02. Januar 2011: Der Sonntag, der zweite Januar, war ein klirrend kalter Wintertag, den die Sonne mit ihrer Wärme antaute, wo immer kein Schatten das verhinderte.
Mittags ging der Zug, und morgens wurde der Rucksack endgültig gepackt, jedes Utensil gewogen und abgewogen, ob es nicht erlässlich war. Jedes Gramm zu viel wollte später beim Trekken geschleppt sein. Und ich hatte die aberwitzige Idee gegenüber meiner inneren rationalen Instanz durchgesetzt, mit gleich zwei dicken Kameras zu verreisen, einmal digital, um mit der Zeit zu gehen, und einmal analog, um alte Zeiten zu beschwören, vor allem aber, um hinterher Diapositive zu besitzen. Letzteres war ein Luxus, der mir dreieinhalb Extrakilo aufbürdete, und das einem Menschen, der sich trotz seiner inzwischen 50 Jahre fit und agil fühlte wie je, der sich mit insgesamt 24 Kilogramm, Verpflegung nicht mit eingerechnet, jedoch hoffentlich nicht übernahm. Kurz, jeder, der davon wusste, hielt mich für reichlich bekloppt. Und vielleicht war ich das auch. Wahrscheinlich sogar. Zumindest würde ich beim Trekken das eine und das andere Mal leiden müssen. Aber das hatte ich, wie man modern sagt, bereits eingepreist. Zumindest geistig.
Ich war also auf dem Weg nach Süden. Weiter nach Süden. Sehr weit nach Süden. Mit den Pinguinen zu tanzen. Aber alles hat einen Anfang. Und am Anfang blieben drei Gestalten winkend auf dem Bahnsteig zurück: meine Familie. Der Tochter waren bereits kurz zuvor die Tränen in die Augen gestiegen, und der Sohn hatte unglücklich dreingesehen. Beiden war wohl schlagartig bewusst geworden, dass ihr Vater für einen ganzen Monat fehlen würde. Und man weiß im Leben ja nie, ob man sich wiedersehen wird. Jeder Abschied kann ein endgültiger sein. Kurz: Ich hasse Abschiede. Und sie lassen mich nicht unberührt. Dennoch glaubte ich nach zehn Minuten im Zug, die Sache im Griff zu haben, und ich lauschte zwei jungen Amerikanern, die sich über ihre Europareise austauschten, laut genug für eine willkommene Ablenkung. Auch für sie hatte es einen Abschied gegeben. Und wenn wir einmal genauer hinspüren, verabschiedet nicht jeder von uns tagtäglich mehrmals irgendetwas, wenngleich manches auch nur auf Raten? Und das wiegt am schwersten. Vielleicht weil man es zu lange glaubte, noch zu besitzen.
Der Zug war pünktlich eingetroffen und würde nach weniger als zwei Stunden sogar vor der Zeit in Zürichs Hauptbahnhof ankommen. Das war nicht selbstverständlich, und ich hatte gewisse Befürchtungen gehegt. In den Tagen und Wochen davor waren Züge liegengeblieben, waren ganz ausgefallen oder hatten viele Stunden Verspätung aufgesammelt. Zur selben Zeit wurde wegen eines arktischen Kälteeinbruchs in Europa das Enteisungsmittel knapp. Selbst mit dem Taumittel hatte es zahlreiche Flugausfälle gegeben. Tausende Reisende saßen auf den Flughäfen fest. Manchmal kampierten sie tagelang auf Sesseln, die sie mit Verbündeten dann wacker gegen andere Leidensgenossen verteidigten, auch zu den Zeiten, wenn sie zwischendurch kurz einen anderen Ort aufsuchen mussten. Ein Umstand, den uns die funktionelle Morphologie ganz genau erklärt.
Während Frankfurt sogar heute Flugausfälle meldete, kletterte in Zürich das Thermometer bis auf minus ein Grad. Diese Schmuddelzone um den Gefrierpunkt herum war völlig problemlos. Kurz, das Glück würde auf meiner Seite sein, zumindest bis Madrid, wo am Vortag ebenfalls Flugzeuge am Boden geblieben waren.
Der Zug mied die großen Siedlungen oder es gab sie zu selten. Wir zuckelten entlang der Schwäbischen Alb durch eine Winterlandschaft mit dick verschneiten Wäldern, beleuchtet sogar hier und da von dem Sonnenball, der sich, als verschwommen feurige Scheibe durch den Hochnebel brechend, auf das ansonsten hellgraue Himmelsparkett gewagt hatte.
Bald hinter der Stadt Tuttlingen kamen wir durch ein einsames Tal. Über die tief heruntergezogenen Dächer abgelegener Bauernhöfe kräuselte der Rauch der Kaminöfen, ein Bild wie anno 1900, wenn zottige Pferde Atemwolken durch ihre Nüstern bliesen.
Dann und wann erschienen einsame Bahnhöfe, mit Bahnsteigen, auf denen niemand wartete. Wir durchfuhren sie im Eiltempo, als hätten sie nie existiert. Die Hegau-Vulkane zeigten ihre sie krönenden Burgen in seltener Pracht, weil der winterkahle Wald sie nicht versteckte.
Gleich hinter Schaffhausen tauchte als nächstes Glanzlicht der Rheinfall auf, an dem sich unser Zug unmittelbar entlangtastete. Bislang war dieser Winter schneearm gewesen, und das große Tauwetter lag in weiter Ferne. Ungewohnt müde ließ der große Fluss sein Niedrigwasser über die Felsen fallen. Dennoch spektakulär, zumindest für diejenigen, die ihn nicht kannten, wenn er Normal- oder gar Hochwasser führte. Dann, wenn die Luft vom Brausen vibrierte, und auf der ganzen Breite der feine Tropfenschleier wie weißer Staub über dem Wasser in der Luft hing.
Dass wir nun in der Schweiz waren, bemerkte ich an den Grenzpolizisten in Blau. Begleitet von einem Schäferhund, kontrollierten sie zu dritt und stichprobenhaft, wer immer ihrem geschulten Blick warum auch immer auffiel. Mich ließen sie in Ruhe, ebenso die Schweizerin, die mir seit Schaffhausen gegenüber saß.
Mitte dreißig war sie, hatte lockiges, schulterlanges Haar und etwas Schlampiges, Flippiges an sich, ein Eindruck, der wohl ihrem enormen Zigarettenkonsum geschuldet war, auf den sie im Zug allerdings verzichten musste. Aber der Geruch ihrer Kleidung und ihrer Haut und die vergilbten Fingerkuppen verrieten sie. Sie roch wie zehn Aschenbecher zusammen, und sie war das Grab von wenigstens 30 bis 40 Zigaretten täglich, von der Sorte stark und ungefiltert.
Ihre große Dose Bier hatte sie gleich zu Beginn auf dem Klapptischchen geparkt, und es sollte nicht lange bis zur Öffnung dauern. Bestätigten sich hier nicht alle Vorurteile zwangsläufig?
Das Attribut »schlampig« nahm ich trotz dieser Offensichtlichkeiten nach einer Weile vorsichtig zurück. Ich hatte sie kommunizieren hören, mit ihrem drei mal zehn Zentimeter großen mobilen »Tor zur Welt«. Sprachniveau und Inhalt passten wohl schon lange nicht mehr zu ihrem Äußeren, beziehungsweise Letzeres hatte die Schritte ihrer inneren Entwicklung bislang nicht nachvollzogen. Vielleicht war ihr das gar nicht bewusst. Womöglich gab sie sich betont anders, weil sie früher einmal so gewesen war und das Umfeld sie nicht aus dieser Rolle entließ. Oder weil sie vermeintlichen Erwartungen zuvorkam.
Wenn sie sprach, benutzte sie für hochdeutsche Ohren niedliche Kraftausdrücke, ein Jargon, der durch und durch sympathisch war. Sie verabschiedete sich gerne mit »Tschüssli! Ciao ciao!«
Sie rief alle möglichen Leute an. Wenn sie das einmal für zwei Minuten nicht tat, und ich gerade dachte, Ruhe sei eingekehrt, dann wurde sie prompt angerufen. Währenddessen versuchte ihr Umfeld hier im Zug, sich aus den Gesprächsteilen ein Gesamtbild zu erschließen, über das, was sie nach Zürich trieb, das, was sie zurückgelassen hatte und natürlich über sie als Charakter selbst. Wenn du Zeit im Zug absitzt, nimmst du eben ganz automatisch teil. Es ist schwer wegzuhören, sofern du das willst. Ich wollte das nicht.
Es ergab sich in etwa das folgende Szenario. Ihre Firma, wohl eine größere Werbeagentur, hatte ihr sehr kurzfristig den Montag freigegeben, und heute war Sonntag, und sie musste alles für ihre morgige Abwesenheit regeln. Anscheinend war sie das Mädchen für alles, ohne das nichts lief. Oder sie leitete eine Kampagne, für die viele Kundenabsprachen notwendig waren.
Ihre Kolleginnen holten sich Rat. Sie gab ihre Anweisungen. »Ihr schafft das schon auch ohne mich. Das muss einfach mal gehen. Ich bin ja telefonisch erreichbar, falls .«
Koordinieren konnte sie jedenfalls gut. Wenn sie nicht mit Kollegen kommunizierte, tat sie sich telefonisch im Bekanntenkreis nach einer Unterkunft für eine Nacht in Zürich um. Sie kannte viele Leute, aber erfolgreich war sie lange nicht. Und jedes Mal endete sie mit ihrem »Tschüssli! Ciao ciao!« manchmal auch nur mit »Tschüssli!«.
Nicht einmal ihr Gepäck würde sie auf ein paar Stunden loswerden können. Entweder war zu der Zeit gerade jemand nicht da oder nicht lange genug, oder es war niemand da, wenn sie es wieder abholen würde. Allmählich zeigte die Frau Nerven. Ab etwa dem siebten Mal erklärte sie sogar die Gründe, und hatte um das dreizehnte Mal herum endlich Erfolg.
Sie hatte vor, im Kantonsspital das Krankenbett eines Todgeweihten zu besuchen: Krebs im Stadium der Hoffnungslosigkeit. Ein Abschiedsbesuch. Es würde ein schwerer Besuch werden. Der Mann war erst 45. Er nahm sein Schicksal zumindest nach außen offenbar gelassen hin, mit einem sonderbaren Galgenhumor. Sein Umfeld kam damit weniger zurecht, und es war er, der trösten musste, nicht umgekehrt.
Kurz vor Zürich war telefonisch alles geregelt, und die Frau entschuldigte sich bei...
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