Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
AUF DEM WEG NACH MAROKKO
Malaga: Mittwoch, 31. Mai 1989: Seit Stunden hatte das Bullauge dasselbe langweilige Bild gemalt. Eine fein säuberliche Zweiteilung der Welt in Zartblau und Schmutzig-Weiß. Watte. Ganz Mitteleuropa schien von weicher Watte zugedeckt zu sein. Doch dann, als hätte jemand meine Gedanken erraten, verschoben sich mit einem Mal die Proportionen zugunsten des Weiß. Das geschlagene Blau rückte immer mehr nach oben aus dem Blickfeld.
Was war geschehen? Unser Fluggerät war kopflastig geworden und schickte sich an, seine Nase in die Watte hineinzutunken. Für einen langen Moment ward mir jegliche Sicht genommen. Dann hatten wir die Wolkenschicht durchstoßen, und eine neue Welt kam zum Vorschein. Bestrahlt in eigentümlichem Zwielicht lag unter uns die Sierra Nevada Spaniens.
Die Gipfel sahen tatsächlich wie die Zacken einer groben Säge aus. Wir schaukelten an dem Gebirgszug entlang, um in die tiefe Lücke hineinzuschwenken, die sich hinter dem letzten Berg auftat. Es war der Mulhacen, der sogar eine Kappe aus Schnee trug, einen letzten Abschiedsgruß des vergangenen Winters.
Andalusien präsentierte sich zu dieser Frühsommerzeit Ende Mai in fruchtbarem Gewand. Zartes Grün und erdiges Braun wechselten sich harmonisch ab. Im fernen Dunst verlor sich der Flickenteppich, dort, wo die Küstenlinie erahnbar wurde und die Nachmittagssonne regierte.
Rasant sanken wir dem Erdboden entgegen, trafen kurz vor dem Häusermeer Malagas auf die Betonpiste. Die Landung erlebte ich als ziemlich ungefedert, indes die Lautsprecherstimme des Kapitäns unterkühlt lässig blieb.
Laut klatschten um mich herum die Pauschaltouristen als ein Zeichen dafür, dass sie sich von einer immensen Anspannung befreit fühlten. Vor dem Flughafengebäude sah ich sie wieder, wie sie über den Asphalt hasteten. Koffertragende Bierbäuche mit knappsitzenden Kurzhosen und kunterbunten Hawaii-Hemden. Ihre Vorzeigedamen, oft mit billigstem Parfüm bestäubt und in voller Takelage, hielten mit ihnen nur mühsam Schritt, verfielen mitunter in hektischen Zwischengalopp. Einträchtig steuerten alle auf adrett aussehende spanische Empfangsdamen zu, welche Schilder mit den Namen der jeweiligen Hotelsilos hochhielten, klingende Namen wie den Marbella Beach Palace, für den ich hier keineswegs werben will.
Jeder wusste sich bestens aufgehoben, alleine meine Person blieb zurück, einsam, alleingelassen, vergessen. Nein, keiner erwartete mich, ich war auf mich selbst gestellt, und das hatte ich so gewollt. Ich war 29 Jahre jung, gegenwärtig Zivildienstleistender in einem Obdachlosenasyl und froh über die mir gewährte Freiheit auf Zeit. Ich würde mich durch Marokko bewegen, wie es mir gerade in den Sinn kam und wo es mich hinverschlug. Selbstverständlich hatte ich mich vorab informiert, was in mir Wünsche hatte reifen lassen.
Nun jedoch stahl ich mich in die Richtung, in der der Bahnhof liegen sollte. Eine einzige Seele verlor sich mit mir auf der Plattform. Sie stellte sich als deutsche Ruhrpott-Omi vor. Seit bald zwanzig Jahren saß sie in Andalusien auf ihrem Altenteil, wie sie mir ohne Umschweife ungefragt beichtete. Ihr fetter Koffer brachte bestimmt das doppelte auf die Waage wie mein großer Rucksack, schätzte ich, und diese Erkenntnis war es wohl, die in mir den mitfühlenden Impuls auslöste, an dessen Ende ich mich ihre gesamte Habe die Stufen hinauf in den Gang des Zugabteils wuchten sah. Uff! Wie hatte sie das wuchtige Teil nur bis auf den Bahnsteig bekommen?
Keine Zeit, darüber nachzusinnen. Zischend schlossen sich die Türen, und schon setzte sich unser Zug in Bewegung, schoss wie eine wütende Schlange durch das steinerne Grauweiß der Vorstädte Malagas.
Währenddessen die Omi aus ihrem Nähkästchen plauderte, mich dafür immerhin mit nett gemeinten Tipps fütterte, beispielsweise wie ich nach Algeciras kam. Sie kauderwelschte mit zwei Spaniern mehr schlecht als recht und nicht ganz frei von dem Willen, mir zu imponieren. Da mischte ich mich ein und sonderte einige schnelle Sätze in hiesiger Landessprache ab. Wie das Mütterchen da guckte! Und nun war ich es, der sich vielleicht ein wenig in Eitelkeit sonnte. Wie war das mit dem Einäugigen unter den Blinden?
Die Küstenstadt Fuengirola war die Endstation des Bummelbähnchens. Selbstverständlich war ich ein zweites Mal nett und hievte die Bürde der alten Dame unzählige Treppenstufen hinauf bis zu einem Taxi. Mit solch einem Gepäckmonstrum war die Alte zwangsläufig auf mich angewiesen. Bestimmt vermochte sie ihren Koffer keinen Zentimeter von der Stelle bewegen. Sie schien das genau zu wissen und bedankte sich dementsprechend überschwänglich lang und breit.
Dann erinnerte sie sich urplötzlich, » dat de Jung ja nach Algeciras am Reisen war«. Und sie teilte mir gnädigerweise mit, wo mein Bus zu suchen sei. Es waren nur drei Blocks.
Unbedingt heute noch wollte ich nach Algeciras reisen und Afrika, wo es Europa am nächsten kam, ins Auge sehen. Und gleich morgen früh den Sprung hinüber wagen, wo das Königreich Marokko wartete. Drei Wochen hatte ich vor, mich mit dem Rucksack durch das Land zu schlagen: Bus, Bahn, Taxi oder mit dem Daumen. Warum war ich nicht gleich direkt nach Marokko geflogen? Ich hatte keinen billigen Flug aufgetan. Als ziemlich mittelloser Zivildienstleistender war ich froh gewesen, »in letzter Minute« günstig von München nach Malaga zu fliegen. Nach Malaga musste ich am Ende auch wieder zurück, um den Flug zurück nach München anzutreten. Von München würde ich dann heim nach Stuttgart trampen.
Was hatte ich in Marokko vor? Die Königsstädte mit ihren Souks zu erleben, im hohen Atlas den höchsten Berg zu erklimmen, die Hamada hinter dem hohen Atlas mit ihren Oasen kennenzulernen. Das eine würde sich ergeben, das andere eben nicht. Ich wollte alles auf mich zukommen lassen. Aber Mierda! Jetzt hatte ich meinen Direktbus nach Algeciras gerade um drei Minuten verfehlt. Und gleich ein zweites Mal Mierda! Es war nämlich der letzte heute gewesen. Ausgerechnet.
»Nichts zu machen«, bedauerte der Mann am Ticketschalter. War das etwa jetzt die Belohnung dafür, dass man jemandem half? Mitnichten, nie sollte man Dinge in Zusammenhang bringen, die nichts miteinander zu tun haben. Aber Hartnäckigkeit würde helfen. Ergo fragte ich mich durch, und siehe da, es eröffnete sich mir eine weitere Möglichkeit, allerdings eine, die Geduld erforderte. Ich bestieg den Lokalbus, der sich an der Küste entlanghangelte, Stadt für Stadt, Dorf für Dorf, Strand für Strand.
Während die Sonne vier Stunden weiterrückte, machte ich satte 60 Kilometer Boden gut und wurde obendrein von allen Seiten kräftig eingequalmt. Von wegen milde Sorte! Auf die Rauchverbotsschilder hinzuweisen, schien mir von vornherein aussichtslos, wenn selbst der Fahrer einen glimmenden Stängel in seinem Mundwinkel stecken hatte, den er nicht müde ward, von Zeit zu Zeit zu ersetzen.
In Estepoña hatte die Nacht endgültig den Tag besiegt. Ihrem Triumph war ein zähes Ringen vorausgegangen; in dessen Verlauf sich das Blut des sterbenden Tages über das westliche Firmament ergossen hatte und weiter zum Horizont hinabgetroffen war, wo es sogar das wellige Meer verfärbte. Welches sich obdessen jedoch ungerührt zeigte und weiter in seiner unermüdlichen Regelmäßigkeit über das Ufer schwappte.
In den Touristenorten brannten bereits die Leuchtreklamen der Hotels, Restaurants und Nachtclubs. Wie staunte ich, wie flächendeckend doch die Sonnenküste in den 1980er-Jahren zubetoniert worden war: mit immer denselben weißen, ineinandergeschachtelten Hotelbauten und Feriensiedlungen. Dabei war jede einzelne Anlage für sich genommen durchaus gelungen. Vorsprünge, Nischen und Bögelchen: Zum Teil besaßen die ihren andalusisch-maurischen Vorbildern nachempfundenen Bauwerke sogar durchaus Anflüge von deren architektonischer Leichtigkeit. In dieser großen Zahl jedoch wirkten die Bauten in ihrer geballten Gesamtheit schlichtweg abstoßend. Es war, als hätte man ein Original zu Tode kopiert.
Als nächstes stolperte ich durch die Randbezirke von Estepoña auf der Suche nach einem Quartier für die Nacht. Einen Campingplatz gab es leider nicht, zumindest fand ich keinen.
Jenseits einer Neubausiedlung, einer von so vielen, war ein mit verdorrtem Gras und Buschwerk überzogener Hügel bislang relativ unbebaut geblieben. Der Hang war zu steil, um mich dort einzurichten. Zuoberst jedoch, wo die Kuppe in Flachheit auslief, wartete einsam ein Hotelbunker, in dem die erleuchteten Fenster acht Stockwerke hoch in Reih und Glied standen. Eine neue Straße führte bequem hinauf, und ich hatte längst den Flecken Urbewuchs mit Gestrüpp und beinahe 17 Bäumen darin ausgemacht. Aus welchem Grund auch immer hatte man ihn vor der Abholzung bewahrt, verschont, vergessen oder absichtlich stehenlassen. Jedenfalls war ich dort drinnen sicher und geschützt, und ich fand meine ebene Stelle für...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.