Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
BEI DEN TEMPELN UND HÖHLEN VON BHUBANESHWAR
Bhubaneshwar: 20. Februar 1997: Am Morgen war ich wieder dort, bei den Tempeln, ganz früh, etwas oberhalb der Stelle, wo ich gestern zuletzt mit Besichtigungen aufgehört hatte. Es war dies ein Tempel, der auf einem gepflegten, eingezäunten Areal stand, mit kurzgeschnittenem Rasen und einer Reihe sorgsam gestutzter blühender Sträucher. »Under archeological survey of India«, meinte dazu ein Schild wie als Entschuldigung dafür, dass das Umfeld des Tempels nicht ganz so herausgeputzt aussah.
Am Eingang zur Straße saß in einem Häuschen ein Ticketverkäufer. Der Preis, so lächerlich gering er für mich war, dürfte dennoch die meisten Inder davon abgehalten haben, den Tempel zu besuchen, es sei denn, ihr Interesse hätte dem Tempel selbst gegolten und nicht etwa der Bettelei und der Geschäftemacherei, seien es nun Ansichtskarten oder sonstiger Tand, eine Bilderreihe zum Aufklappen etwa, die Stellungen aus dem Kamasutra zeigt. Letztere wurden dem Besucher meist verstohlen unterbreitet und dabei zugeraunt: »Pst, Kamasutra!« Was war so Verwerfliches daran? Und falls es noch kein Wort dafür geben sollte, präge ich es hiermit: »Indischer Neopuritanismus«, ein Erbe aus Britannien, das sich überall breitgemacht hat.
Das Tempelgebäude selbst, Raja Rani mit Namen, barg an seinen Fassaden vollendete Skulpturen, die mit unschuldiger Erotik nicht geizten. Deshalb wurde das Bauwerk oft Liebestempel genannt, ursprünglich jedoch Indreshwara.
Für die Ruhe und die Erhaltung sorgte hier, wie gesagt, der Staat. Leider mussten ausgerechnet jetzt Teile des Haupttempels eingerüstet sein. Ein Gestell aus dicken Bambusrohren, verknotet mit Tauen, nahm eine ganze Seite für sich ein. Aber hey, in meinen Augen war solch ein exotisches Gerüst durchaus fotogen. In europäischen Gefilden hätten sich jeder Bauaufsicht die Nackenhaare gesträubt, außer vielleicht in Griechenland oder in Süditalien.
Gegenwärtig wurde der Tempel von oben bis unten abgeschruppt, die Figuren von Smog und Ruß befreit. Im Zuge dessen wurden auch Flechten und Moose entfernt, die sich in den Nischen eingenistet hatten. Und nicht zuletzt der ätzend aggressive, unablässig den Sandstein zersetzende Vogelkot.
Dennoch waren etliche der erotischen Figuren meinem lüsternen Kameraauge zugänglich. Zwei der Handwerker machten mich sogar eigens auf besonders schöne Exemplare aufmerksam. »Kamasutra«, sagten auch sie dazu und deuteten dabei nach oben, wo es besonders viele Mithunas gab, Liebespaare in Szenen geschlechtlicher Vereinigung, die vielleicht absichtlich dem von unten aufschauen-den Auge ein wenig entrückt waren.
Diese Männer mussten es wissen, wo es die schönsten Szenen gab, schließlich wuschen sie jede Figur einzeln mit ihren Schwämmchen ab, fuhren die Kurven aller erhaltenen Körperteile nach, berührten sanft die erogenen Zonen, strichen den Damen mit ihren Bürsten über den unverhüllten Leib. Vielleicht dachten sie dabei an ihre Ehefrauen. Oder an eine ihrer Nachbarinnen. Oder an die adrette junge Gemüsefrau an der Ecke. Gewiss hatten sie in der Behandlung entblößter weiblicher Körperteile große Übung. Jedenfalls nahm ich das an, nachdem mich einer dabei erwischte, wie ich ihm bei der Arbeit zusah, ausgerechnet als er gerade eine üppige Brust behandelte, sie mehrmals sanft mit dem Schwämmchen umfuhr. Er lächelte zu mir herunter, in einer Weise, als erriete er meine verwerflichen Gedanken und stimme ihnen uneingeschränkt zu. »Mit der Bürste über die Brüste fahren«, dieses Wortspiel aus einem Buchstabendreher konnte ich ihm nicht erklären.
Als er herunterkam, um frisches Wasser zu holen, zeigte er mir die acht Dikpalas, die Schutzgottheiten des Tempels, je zwei für jede Haupthimmelsrichtung. Ich wusste bereits, dass Raja-Rani König-Königin heißt. Da überraschte es, dass der Name nichts mit einem Königspaar zu tun hatte, sondern dieser besondere goldrötliche Sandstein Rajarania genannt wird. Ich lernte außerdem, dass der Tempelturm Shikhara heißt und Himmel und Erde miteinander verbindet, auch symbolisch. Alle vier Tempelteile waren dicht gedrängt ineinander gebaut und organisch zu einer Einheit verschmolzen, als da waren: Mandapa, Maha-Mandapa, Garbha-Griha und Shikhara -, Halle, große Halle, Heiligtum und Turm.
Erst im achten Jahrhundert hatte man begonnen, dem Hauptheiligtum, also der Cella beziehungsweise Garbha-Griha mit dem sie überwölbenden Shikhara, auch Deul, eine Halle beizugesellen, eine Mandapa für Musik, Tanz und Versammlung. Aus der Mandapa wurde eine große, eine Maha-Mandapa, als man vor sie eine Vorhalle stellte, eine einfache Mandapa. Die Maha-Mandapa kann auch Nata-Mandir heißen: Tanztempel. Mitunter gab es Nebenhallen, Ardha-Mandapas, nicht zu vergessen zwischen Cella und Maha-Mandapa angedeutet ein Vestibül, das Antarala.
Hier in Bhubaneshwar hieß das noch ein wenig anders. Ich betrat den Tempel durch die Säulenhalle - Bhoga-Mandapa - drang über die Tanzhalle - Nata-Mandir - weiter in die Versammlungshalle - Jagamohan - vor. Wenn ich mich im schummrigen Lichte, das kaum Details erkennen ließ, bis ganz nach hinten vorgetastet hatte, stand ich in der Prasada, im eigentlichen inneren Heiligtum, mitten im Zentrum des Mandalas, wo der Gottheit die geweihte Speise - prasad - dargereicht wurde.
Über diesem und somit über meinem Kopf wölbte sich der Tempelturm in den Himmel, der Shikhara, der Deul. Von innen betrachtet oder besser gesagt der Betrachtung ganz entzogen, war das nichts als ein leerer schwarzer Raum, den ich für mich als das ungeschaffene, nichtmanifestierte Universum interpretierte: Brahman.
Ein Tempel besetzt immer einen heiligen Platz, der zuvor von Astrologen und Yogis exakt ausgemessen und gereinigt wurde. Hier wird die Erschaffung des Universums nachgebildet. Der Deul symbolisiert den Weltenberg Meru, im inneren Heiligtum wohnen die Götter und sind während des religiösen Rituals anwesend.
So, da war ich also anwesend. Und ich war allein, sah kaum meine Hand vor Augen, wusste mich einsam hier drinnen, weil die Tempelgottheit fehlte, schon seit Jahrhunderten abwesend war, vielleicht niemals eingezogen war. Es gab kein Kultbild oder sonst eine symbolische Form oder Darstellung von ihr. Und wenn es sie denn gegeben hätte, so wäre es mir sicherlich untersagt gewesen, den Eindringling zu mimen.
Wieder draußen sah ich zuoberst auf dem Shikhara tonnenschwer den Abschlussstein thronen, den Amalaka. In den Hauptturm eingearbeitet war eine Vielzahl kleinerer Begleittürme, die dasselbe Aussehen wie der Hauptturm hatten. Jeder dieser Urshringa hatte wiederum seinen eigenen Amalaka.
Den Kopf vollgepfropft mit allerhand Sanskrit-Architekturvokabular machte ich mich wieder auf den Weg. Zu Fuß die Straße zurück, bog ich kurzentschlossen in den erstbesten Weg ein. Dieser verschlungene Pfad führte mich durch eine Brache hohen verdorrten Grases, drückte sich an vergessenen Ziegelmauern vorbei und schattenspendenden Bäumen. Bis er mich, - gerade hatte ich gezweifelt und gedacht, falscher könne ich nicht sein -, auf eine belebte Straße zurückbrachte.
Hier wusste ich mich auf der richtigen Fährte. Diese Straße berührte weitere Tempelanlagen, unter ihnen zwei der bedeutendsten, nämlich den Siddheshwara- und den Mukteshwara-Tempel. Ersterer grenzte sogar direkt an die Straße. So strebte ich denn an seiner Außenmauer entlang auf den Haupteingang zu, meinen Blick stets auf die beiden Tempeltürme geheftet, zu denen so perfekt die beiden Brahmanen im Vordergrund passen wollten. Die Männer, die im Schatten eines uralten Baumes standen und sich unterhielten, waren ausgemergelt, mit nicht viel mehr als einem Lendenschurz bekleidet. Ihr graues Haar war lang und struppig, weiße Barken Shivas waren ihnen auf die braune Haut auf Oberarmen und Wangen gemalt. Es war dies das klassische Bild, wie es vor tausend Jahren nicht anders ausgesehen haben mochte. Und hätten nicht Rikschas in meinem Rücken gebimmelt, vielleicht wäre ich durch eine ganz andere Zeit gestapft.
Vor einem der lingam-förmigen Tempeltürme, die den klassischen Bienenkörben vielleicht am ähnlichsten sahen, wartete, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, ein junger muskulöser Brahmane. Sein Haar war schwarz und lang, sein Lächeln breit, seine dunklen Augen leuchtend. Der Brahmane geleitete mich ins Innere des Tempels. Dort war es stickig und düster, bis auf eine Flamme, die schattenhaft den Raum erhellte. Sie flackerte vor einer schwarzen Gottheit, die kaum Details erkennen ließ, weil ich respektvoll Abstand hielt.
Da erhob der Brahmane seine Stimme, sang volltönend lange Sanskrit-Slokas. Dann lauschte ich seinen Erklärungen, die sich mir ob seines schräg akzentuierten, von Sanskrit durchsetzten Englischs, kaum erschlossen....
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.