Schweitzer Fachinformationen
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Auf dem Weg in die Eingangshalle hinunter hörte Jonathan, wie der Gesundheitsminister mit Dr. Marram scherzte, dem ärztlichen Leiter des Krankenhauses. Dieser wies auf die erst vor kurzem angebrachte Tafel mit dem Schriftzug »Private Hospital Swiss House in Sana'a«. Auf Arabisch waren die drei Ministerien angeführt, die den Erhalt des Krankenhauses mitfinanzierten. Das war die dritte Tafel ihrer Art. Was bei den beiden vorangegangenen nicht gepasst hatte, war Jonathan nach wie vor ein Rätsel.
Sie begrüßten einander freundlich. Der Gesundheitsminister war ein legerer Mann, der es mit seinen Kollegen aus dem Innen- und Außenministerium oft nicht leicht hatte, wie Dr. Marram ihm ein paar Mal anvertraut hatte. Er kam immer selbst, schickte nie einen Vertreter. Sie wechselten ein paar Worte, dann bat Dr. Marram sie in den Festsaal.
Es galt, die Ankunft eines deutschen Chirurgen zu feiern, der Jonathan endlich entlasten würde. Eine mächtige Torte in Form eines Rechtecks nahm die gesamte Länge des Tisches ein, gut anderthalb Meter. An den Außenseiten wurde die Torte von einer dicken weißen Cremeschicht befestigt, die Verzierung obenauf war in den Landesfarben des Jemen gehalten, rot-weiß-schwarz. Jamal, der Staatssekretär des Innenministers, stand bereit. Jonathan stellte sich mit dem Direktor und dem Gesundheitsminister dazu.
Vor ihnen lag ein Messer mit langer Klinge und vergoldetem Griff. Eine Geste Jamals zu Jonathan, der gab die Geste zurück, er wollte dem Politiker diese Ehre nicht nehmen. Der Staatssekretär griff nach dem Messer, den anderen Arm hielt er vor seinen Magen, um sein Sakko zu schützen, während er sich hinunterbeugte. Seine Hand zitterte. Das würde kein glatter Schnitt werden, kein gerader feierlicher Schnitt scharf durch die weiße Sahne, das rote Marzipan, die schwarze Lakritze. Jonathan legte seinen Arm auf die Manschette des Staatssekretärs. Mit einem Finger berührte er dessen Handrücken und führte ihm die Hand.
Den Handrücken eines Fremden zu berühren hatte etwas Väterliches, das konnte eine Beleidigung für den Älteren sein. Aber jemenitische Männer mochten angeblich die Berührung. Die Haare auf dem Handrücken waren intim. Das Messer drang tief in den mittleren Teil des Tortenkörpers ein und kam auf den Untergrund, kein besonderes Geräusch, keine Kratzer. Langsam zogen sie das Messer zurück und endeten in der Lakritze. Jonathans Arm entfernte sich.
Ein Küchenjunge mit hoher Mütze schlich seitlich heran, nahm das verschmierte Messer entgegen. Nicht mit der Zunge abschlecken, sagte Jonathan im Geist. Stille umschloss ihn, obwohl geredet wurde, wie er an den Gesichtern und Lippen sah. Jamal blitzte ihn mit seinen schwarzen Augen an, die Haare mit Sicherheit gefärbt. Dr. Marram, hocherfreut, verwundert, besorgt.
Alles in Ordnung?
Jonathan hatte es ihm von den Lippen abgelesen. Was war das, ein - das Wort fiel ihm nicht ein. Keine schwarzen Flecken, nur dieses Entferntsein. Jonathans Mund zuckte. Er wusste nicht, ob das als Lächeln auf seinem Gesicht erschien. Eine Nervenlähmung? Bitte sprechen Sie lauter.
Alles in Ordnung. Entschuldigen Sie. Ein kleiner Aussetzer. - Jonathan griff sich an die Schläfe. Jemand hielt ihm ein Glas Wasser hin, der Staatssekretär bot ihm ein Stück Torte an. Aha, so hatte er es herausgeschnitten, quadratisch.
Vielen Dank. Später vielleicht. - Er trank hastig das Wasser aus, stellte den Teller ab.
Da ist ja unser neuer Kollege. - Er war froh, das Gespräch erstmal Christian Malte hinzuschieben, dem neuen Chirurgen.
Jonathan schaute an den Männern vorbei zum Tortentisch zurück. Er sah, dass die Kanten vorne Schrunden und Kerben trugen. Ein ausrangierter Tisch, aus einem Keller geholt, einem minderen Aufenthaltsraum in diesem gerade mal ein Jahr alten Krankenhaus. An der Wand darüber der missbilligende Blick von Präsident Saleh. Auf dem Porträt war der Präsident zwanzig Jahre jünger als heute.
Jonathan ging zur Herrentoilette, filmte sich dabei, wie er die Tür öffnete, wie er sich im Spiegel sah. Er drehte den Hahn auf und wusch sich mit beiden Händen das Gesicht. Das kalte Wasser kühlte ihm die Stirn, er strich die vergangenen Minuten links und rechts weg. Er zählte seinen Puls, viel zu niedrig. Hielt das Gesicht schräg unter das kalte Wasser und trank, trank, vergaß, dass er abgefülltes Wasser trinken sollte. Ihm war übel geworden, etwas hatte ihn befallen, und wie ein Roboter war er auf die Toilette gegangen und hatte kaltes Wasser direkt aus der Leitung getrunken. Kurze Absenz, und er hatte eine hygienische Grundregel vergessen.
Was war da mit dem schrägen Trinken gewesen?
Nicht schräg trinken. Auf der Seite liegend.
»Wie ein Römer.«
Wer hatte das erzählt?
Nicht erzählt, in einem E-Mail geschrieben. Jemand hatte in Italien einen streunenden Kater aufgelesen, ein verhungertes Katzenkind, und der trank Wasser auf der Seite liegend, wie ein Römer bei einem Bankett. Seine geliebte - seine geliebte - der Name fiel ihm nicht ein. Sobald er das Wort »Name« dachte, verschloss sich sein Gehirn. Eine Arterie geplatzt? Ein Aneurysma? Lächerlich. Hypochondrisch. Delphine würde ihn laut auslachen - Delphine! Herrgott nochmal. Delphine in Äthiopien. Seit einiger Zeit war sie nicht mehr in der winzigen Klinik, sondern zu Hause in Frankreich, weil ihre Mutter Hilfe brauchte nach einem Schenkelhalsbruch. Alles wieder da.
Jonathan kämmte mit den Fingern durch die Haare. Malte hatte schon graues Haar, obwohl er etliche Jahre jünger war, achtunddreißig? Eine schwarze Figur näherte sich im Spiegel von hinten. Jonathan drehte sich um, da war niemand.
Die Empfehlungen für Malte waren überschwänglich gewesen. Er hatte seine Facharztausbildung an der Charité in Berlin absolviert und war dort geblieben. Sie hatten ihn unter großem Bedauern für zwei Jahre beurlaubt. Andrerseits machte es sich immer gut, wenn man Einsätze in unterentwickelten Ländern vorweisen konnte. Unser Dr. Malte in Sana'a, der eigentliche Held dieser Eröffnungsfeier, obwohl er noch nichts getan hat, außer sich für zwei Jahre hierher zu verpflichten. Jemand Älterer wäre Jonathan lieber gewesen, einer, der Erfahrung mit Auslandseinsätzen vorzuweisen hatte, mit dem er abends auf der Dachterrasse sitzen könnte, über Gott oder Allah und die Welt reden, sich an Lektüren erinnern, mit einem Mal erkennen, was man übersah und was dieser ältere Malte auf Anhieb begriff. Einen starken Geist wünschte er sich auf den Stuhl neben seinem auf der Dachterrasse. Langsam. Malte war keine Woche hier, und er wappnete sich bereits mit vorzeitigen Enttäuschungen gegen die wirklichen Enttäuschungen, die meistens anderer Art waren als die befürchteten.
Einer fehlte bei der Feier heute Abend, der Mann, dem Jonathan seinen Job wie auch den neuen Kollegen verdankte. Sein Studienfreund Robert Gerstbauer. Robert war einer der medizinischen Berater im Vorstand der Schweizer Holding, die mit ihren Tochtergesellschaften Gesundheitsmanagement in arabischen Ländern anbot. Robert litt an einer Virusinfektion und hatte seinen Flug stornieren müssen.
Jonathan gab sich einen Ruck.
Draußen kam ihm Dr. Marram entgegen. - Wir sind sehr besorgt. Geht es Ihnen gut?
Ich hatte den Tag über zu wenig Wasser getrunken. Kein Grund zur Aufregung.
Ohne Sie geht hier gar nichts. Der Staatssekretär hat sich in den höchsten Tönen begeistert gezeigt. Er ist sehr stolz darauf, was wir auf der Chirurgie binnen eines halben Jahres erreicht haben. Er wird Ihnen das gewiss selbst sagen.
Kaum betrat Jonathan den Saal, schritt Jamal auf ihn zu. Zum Glück erwähnte er den Zwischenfall mit keinem Wort, sondern fasste Jonathan an beiden Oberarmen, sein zwinkerndes Lächeln in den Augen, das man für Jovialität halten konnte.
Ich gratuliere Ihnen, Herr Abteilungsvorstand. Sie erfüllen Ihre Aufgabe zur höchsten Zufriedenheit des Ministers. Wie uns die Ereignisse der vorigen Woche gezeigt haben, gibt es Feinde des jemenitischen Volkes, die unseren Staat untergraben und die Regierung stürzen wollen. Unser Land soll getroffen werden, wo immer es den Feinden des Friedens und der Einheit unseres Staates möglich ist. Sie verwenden dazu die perfidesten Mittel. Sie schrecken vor nichts zurück. Sie missbrauchen die Lehren des Propheten, um ihre abwegigen Taten zu rechtfertigen. Passen Sie gut auf sich auf, Dr. Schmidt.
Der Staatssekretär wurde von seinen zwei Leibwächtern abgeführt. Im Saal löste sich der Halbkreis, den die Gäste bildeten, gerade in kleinere Gruppen auf. Jamal hatte wohl eine Ansprache gehalten. Sie redeten durcheinander und bemerkten Jonathan nicht.
Eine Zehn-Milliliter-Spritze, wie wir sie tausendmal verwenden, sagte der Finanzdirektor, Dr. Ibrahim. - Mit einer Säure drin. Die Spritze und ein Plastikcontainer mit Pulver sind geschmolzen.
Welches Pulver? Weiß man das?
PETN.
Power Explosive ., rätselte Malte laut.
Also noch einmal. Er hat die Materialien, dieses Paket mit dem Sprengstoff und die Spritze mit der Säure, im Jemen erhalten, rekapitulierte der Finanzdirektor.
So hat er es ausgesagt. Und dass er von Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel instruiert wurde.
Von allen Seiten hörte Jonathan Sätze, die er sich selbst nicht zutraute. Obwohl er eine Ahnung davon hatte, dass er die Berichte in den Tagen zuvor gelesen hatte.
Der Terrorist bestieg in Amsterdam eine Maschine der Northwest Airlines mit dem Ziel Detroit. - Aha, Malte wusste noch mehr. - Kurz vor dem Anflug auf Detroit ging er auf die Toilette und kam nach zwanzig Minuten zurück, wickelte sich auf...
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