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Ende 1944 erreichte der 2. Weltkrieg die Ostgrenze Deutschlands. Im Januar 1945 begann die Rote Armee eine Großoffensive gegen die deutsche Wehrmacht. In nur wenigen Wochen stieß die Sowjetarmee kämpfend bis zur Oder vor, nur noch achtzig Kilometer von der Reichshauptstadt Berlin entfernt. Der Krieg war für Deutschland militärisch faktisch schon verloren. Eine Kapitulation kam für Hitler nicht in Frage. Er befahl der Wehrmachtsführung bis zum Ende zu kämpfen. Sie schickten als letztes Aufgebot Jugendliche, Alte und Invaliden in das Gefecht gegen die übermächtigen Armeen der Alliierten, was weiterhin viele sinnlose Opfer und unermessliches Leid für die Bevölkerung brachte.
"Die Russen kommen!" Dieser Ausruf erzeugte panische Angst und Schrecken. Millionen Menschen aus den östlichen Gebieten Deutschlands, wie z. B. Oberschlesien, flüchteten aus ihrer Heimat in Richtung Westen. Davon war auch die Familie meines Vaters betroffen.
Die sechzehnjährige Agnes und ihre Mutter Olga schlossen sich, nur mit dem Nötigsten bepackt und was sie tragen konnten, einem Flüchtlingstreck an. Der Winter 1944/45 war durch extremen Frost und starke Schneefälle besonders hart. Tausende überlebten die Gewaltmärsche nicht. Agnes und Olga mussten schreckliche Dinge erleben und mit ansehen: Mütter mit ihren Säuglingen im Arm am Wegesrand, völlig erschöpft oder gar erfroren, verstümmelte Leichen, Kriegsverletzte, Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen. Hunger und Elend begleiteten die verzweifelten Menschen auf der wochenlangen Flucht. In den Dörfern und vom Krieg gezeichneten Städten, durch die sie zogen, waren die frierenden und ausgemergelten Flüchtlinge nicht gern gesehen. Auch die ansässigen Menschen hatten nichts mehr zu verteilen und litten größte Not.
Olga und Agnes kamen kurz vor Kriegsende bei einem Großbauern, mit Namen Erdmann, als billige Arbeitskräfte unter. Sie bewohnten eine nicht beheizbare, im ehemaligen Pferdestall notdürftig hergerichtete Kammer. Beide schufteten täglich zwölf Stunden auf dem Bauernhof und bekamen als Lohn etwas Essen und Trinken sowie ein geringes Taschengeld.
Als der schreckliche Krieg endlich beendet war, bestimmte die Angst vor den Besatzern, der Kampf um Unterkunft, Lebensmittel und Bekleidung das Leben der Menschen. Zehntausende Flüchtlinge, verschleppte Zwangsarbeiter, Waisen und Witwen irrten zu Fuß durch das Land. Sie machten kurzzeitig Halt in notdürftigen Zwischenlagern unter unsäglichen hygienischen Zuständen. Läusebefall, Krätze und Infektionskrankheiten, wie Typhus und Tuberkulose, waren oft die Folgen.
In einer Scheune des Bauern hatten sich mehrere Flüchtlinge im Stroh versteckt, was Agnes und Olga nicht verborgen blieb. Sie versuchten den verzweifelten Menschen zu helfen, indem sie große Mengen Tee kochten und in Milchkannen und Eimern zur Scheune brachten. Lebensmittel standen ihnen nicht zur Verfügung. Als der grobschlächtige Bauer davon Wind bekam, wurde er sehr wütend. Erdmann kippte die Eimer um und vertrieb "das Pack". Olga und Agnes bestrafte er mit einem Tag Essensentzug.
Immer wieder zogen Städter durch die Dörfer, in der Hoffnung, ihre letzten Habseligkeiten und Wertsachen gegen Lebensmittel eintauschen zu können. Der Schwarzhandel blühte, was Erdmann schamlos ausnutzte.
Den nächsten Winter überlebte Olga nicht, sie starb an Auszehrung (Tbc). Nun stand Agnes völlig auf sich selbst gestellt, allein da. Ihr Vater und die beiden Brüder waren in den letzten Kriegsmonaten an der Ostfront gefallen.
Der Bauer nutzte die Notlage des jungen Mädchens schamlos aus. Eines Nachts verschaffte er sich Zutritt zu ihrer Kammer und verging sich an Agnes, die sich vergeblich heftig wehrte. Voller Ekel und völlig verzweifelt schlich sich das Mädchen, nur mit ein paar Kleidungsstücken und einer Feldflasche mit Wasser im Bündel, vom Hof. Nach einem langen Fußmarsch durch Wald und Flur und schließlich entlang einer Landstraße, wurde sie noch ein Stück des Weges auf einem Pferdefuhrwerk mitgenommen.
Agnes erreichte nach Tagen die nächstliegende Stadt. Überall waren die Folgen des schrecklichen Krieges präsent: zerstörte Häuser, frierende und hungernde Menschen - der Kampf ums Überleben war allgegenwärtig. Am örtlichen Krankenhaus bekam das junge Mädchen eine Anstellung, da Arbeitskräfte dringend gebraucht wurden. Ihm kam zugute, dass es aus der Zeit im Pflichtjahr bereits über Erfahrungen in der Pflege und Betreuung eines Kriegsversehrten verfügte.
Agnes war sehr fleißig und versuchte, durch aufopferndes Kümmern um Hilfsbedürftige ihren Kummer zu verdrängen. Bald merkte sie, dass die Vergewaltigung Folgen hatte. Ihre ungewollte Schwangerschaft bedeutete für Agnes Stress - vor ihrem inneren Auge waren täglich die unfassbaren Ereignisse und Erlebnisse präsent. Sie litt unter Albträumen und hatte niemanden, bei dem sie hätte Schutz und Trost finden können. Die Vermieterin des kleinen, spärlich eingerichteten Zimmers war ihr nicht wohlgesonnen.
Agnes wurde mit gerade mal achtzehn Jahren Mutter. Der Geburtsvorgang war wegen der Beckenendlage des Kindes langwierig und schwierig, raubte ihr die letzten Kraftreserven. Die junge Frau hatte gehofft, ein Mädchen zu bekommen. Sie wurde enttäuscht. Voller Zukunftsangst versorgte Agnes, welche Familie und Heimat verloren hatte, ihr Kind auf der körperlichen Ebene dennoch so gut wie möglich. In ihrem Elend vermochte Agnes dem Kleinen nicht die erforderliche liebevolle Zuwendung zu geben. Selbst untergewichtig, konnte sie nicht stillen und empfand weder Freude noch Mutterliebe, hatte jedoch ein Pflichtgefühl ihrem Sohn gegenüber. Ein Säugling spürt unbewusst die Ablehnung und Trostlosigkeit, erkennt diese am Gesicht und dem Verhalten der Mutter. Ängste und Abwehrreaktionen entstehen, das Kind wird schreckhaft, schreit viel, lässt sich nur schwer beruhigen.
Agnes war gezwungen, allein für sich und das Kind den Unterhalt zu bestreiten. Sechs Wochen nach der Entbindung musste die junge Mutter wieder arbeiten gehen. Der kleine Peter kam in ein Säuglingsheim. Seine Mutter konnte ihn nur unregelmäßig besuchen.
Neben der Arbeit qualifizierte sie sich weiter und erlangte den Abschluss als Krankenschwester. Agnes wollte unbedingt etwas erreichen. Mit Gründung der DDR (Deutsche Demokratische Republik) wurde sie auch Mitglied der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands). Die junge Genossin sollte gefördert werden, man schickte sie zu politischen Schulungen. In der Verfassung des neu gegründeten Staates wurde die Gleichberechtigung von Frau und Mann festgeschrieben. Die wenigen zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, also auch die Frauen, sollten voll arbeiten gehen können und dennoch für Nachwuchs sorgen. Deshalb erfolgte ab 1951 ein massiver Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen, in denen die Kleinen ganztags betreut werden konnten. Auch alleinerziehende und in Schichten arbeitende Mütter sollten unbesorgt ihrer Berufstätigkeit nachgehen können, was programmgemäß der Sicherung und Durchsetzung der Gleichberechtigung dienen sollte.
Peter war inzwischen in einem Wochenheim untergebracht. An den Wochenenden, falls Agnes frei hatte, holte sie ihren Sohn zu sich nach Hause in ihre neue kleine Teil-Wohnung. Agnes verfügte über ein Zimmer und eine Wohnküche ohne Wasseranschluss, dafür gab es auf dem Flur ein gusseisernes Becken mit Wasserhahn für vier Mietparteien sowie das WC halbe Treppe tiefer.
Es kam vor, dass der Junge zwei oder gar drei lange Wochen ununterbrochen in der Einrichtung bleiben musste, wenn Agnes kranke Kolleginnen vertreten oder zu Parteischulungen gehen musste. Seitens der Heimleitung wurde es nicht gern gesehen, wenn Mütter an freien Tagen in der Woche ihr Kind besuchen oder abholen wollten, was damit begründet wurde, dass die Kontinuität in der Erziehungsarbeit gestört werden würde. Die Kollektiverziehung wurde damals als effektivste Erziehungsmethode proklamiert und über die Familienerziehung gestellt, wobei man die Bedeutung von Bezugspersonen sowie die verlässliche Bindung an diese verkannte oder leugnete. Jedes Mal, wenn Agnes den Kleinen abholte, reagierte er zunächst ablehnend, doch wenn sie ihn wieder zurück ins Heim brachte, klammerte er sich an ihren Beinen fest und schrie erbärmlich.
Mit sechs Jahren, kurz vor seiner Einschulung, hatte Peter endlich ein Zuhause. Der Junge war anstrengend: zappelig, verhaltensauffällig, reizbar, misstrauisch, ließ körperliche Nähe kaum zu. Selten zeigte Peter ein Lächeln. Agnes litt ihrem Kind gegenüber unter Schuldgefühlen. Doch ihr blieb keine andere Wahl. Als alleinerziehende Mutter in der Not der ersten Nachkriegsjahre musste sie ihren Sohn der Heimerziehung aussetzen, denn in der DDR war jeder per Verfassung und gesetzlich zur Arbeit verpflichtet.
Agnes lernte bei einer Parteischulung ihren künftigen Mann kennen. Sie startete mit der Eheschließung den Versuch, sich ein neues Leben in einer sicheren, unbelasteten Umgebung aufzubauen. Bald...
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