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Auf überwachsenen Pfaden nähere ich mich dem Sommer des Jahres 1947. Ich weiß, noch manch anderer Sommer des vergangenen Jahrhunderts erhebt Anspruch auf den säkularen Namen. Aber er gebührt, da bin ich mir sicher, nur einem einzigen: jenem. Den ganzen August hindurch fiel kein Regentropfen. Ohne Unterlaß, unangefochten von Wolken und Wind, brannte die Sonne und hinterließ, wenn sie spät abends ihre Fahrt von den Hesperiden zu den Aithiopern durch den halbausgetrockneten Ozean antrat, einen so großen Überschuß an Hitze, daß die Luft in den Nächten um keinen Grad abkühlte. Auf den Wiesen wuchsen die braunen Flächen, die Erde der im Wachstum behinderten Weizen- und Roggenfelder zeigte tiefe Risse, der Wald, in dem kein Vogel mehr sang, stand in rostigem Rot, Borken- und Kartoffelkäfer wüteten ungestört. Das Tag für Tag von Tante Adele triumphierend prophezeite Strafgericht, das in Gestalt eines apokalyptischen Gewitters über uns hereinbrechen werde, herausgefordert von uns Kindern, weil wir die Hitze begrüßten, den Regen, der uns ins Haus gebannt hätte, im Abendgebet zu erflehen uns weigerten, blieb aus. Helios hatte Zeus mattgesetzt, schlaff hing der in seinem Thron auf dem Olymp und fand nicht mehr die Kraft, seine Blitze zu schleudern. Wenn der Lateinlehrer Dr. Stichling, der mitten im Schuljahr gestorben war, diesen August noch erlebt hätte, würde er seinen Glauben an die griechischen Götter, mit denen er uns quälte, über Bord geworfen haben. Der Lebenskahn drohte auf Grund zu laufen; er mußte um alles Überflüssige, die Götter voran, erleichtert werden.
Die ganze Familie, was sonst nie der Fall war, samt Tante Adele und den aus Böhmen und Ungarn geflohenen Verwandten lag auf der von einer Zedernhecke gesäumten Wiese im Schatten der Eiche, die, nicht weniger erschöpft als die Erwachsenen, ihre Früchte nicht mehr festhalten konnte; die Kinder hatten die überall im dürren Gras verstreuten Eicheln zu einem stattlichen Haufen geschichtet. Nur ich hatte mich nicht beteiligt, da ich abseits auf einer Decke in der Badehose meinem Laster frönte: Ich las. Ein einziger Dichter, der größte, hatte für mich geschrieben. Wie bei Beethoven, dem Komponisten, dessen Nachfolge ich demnächst antreten würde, kam es auch in der Literatur auf das Spätwerk an. Was wog Durch die Wüste gegen Ardistan und Dschinnistan, Winnetou gegen Mara Durimeh, der Schatz im Silbersee gegen Am Jenseits, selbst noch die ersten drei Bände des Reich des silbernen Löwen gegen den vierten!
Liebe muß Schmerz ertragen: Ich konnte kein Lexikon liegen sehen, Knaur oder Brockhaus oder Meyer, augenblicklich mußte ich nach meinem Dichter fahnden, und er stand auch jedesmal drin. Aber jedesmal auch folgte dem Namen das ihn und mich zutiefst beleidigende Wort Jugendschriftsteller. Wurde etwa Goethe als ein solcher bezeichnet, und dabei hatten wir den Erlkönig in der Deutschstunde durchgenommen? Es ging ungerecht zu in der Welt, sogar die Siegermächte waren einander nicht ebenbürtig. Täglich stellte der in Wolfratshausen stationierte Amerikaner sich ein, lag mit uns auf der Wiese und verkündete seine von allgemeinem Kopfschütteln begleitete Überzeugung: «The Russians are good people.» Alle wußten es besser, niemand wagte zu widersprechen. Hatte der Amerikaner um dieser Botschaft willen die zwölf Kilometer in seinem Jeep zu uns zurückgelegt? «Er hat leider ein Auge auf mich geworfen», sagte die Mutter eines Abends, als er endlich gegangen war, zu mir, «man kann nichts dagegen machen.» Die aber schützte das Baby, das sie seufzend erwartete, wir würden dann fünf sein. Ich war zwölf, und der Mann, der als Untersuchungsgefangener in einem norwegischen Altersheim beherbergt wurde, war achtundachtzig. Er war ein so berühmter Schriftsteller wie der Komponist, der ich werden wollte, und er schrieb mit immer noch kräftiger Hand in sein Tagebuch, daß das Gras verbrannte, die Gärten nach Luft schnappten, das Heidekraut keine Blüten mehr trieb und die Bienen unverrichteter Dinge davonflogen. Das las ich drei Jahre später, als Knut Hamsun mir über alles ging, Karl May mir nichts mehr bedeutete.
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Blaues Blut? Es war genau so rot wie das von Peter Schindler, dem Banknachbarn in der ersten Volksschulklasse. Der war beim Fangen im Schulhof hingefallen und hatte sich das Knie aufgeschürft. Er biß die Zähne zusammen, einen Augenblick zu spät, die Tränen waren schneller. Den blonden Peter, diesen von allen, von mir am meisten bewunderten Helden, weinen zu sehen, war erschütternd; entschlossen, seinen Schmerz zu teilen, ritzte ich mir mit dem Griffel den Arm.
Die Erwachsenen zuhause waren wieder einmal als Lügner ertappt. Das Märchen vom blauen Blut würde ich ihnen künftig so wenig abnehmen wie das vom süßen Brei. Ich wollte um alles in der Welt nicht anders sein als Peter Schindler. Betrübt kam die vierjährige Schwester aus dem Kindergarten. Da hat eine mit dem Finger auf mich gezeigt: Die ist eine , und dann haben alle gelacht.
Fürst und Fürstin, deren Anwesenheit im nahen Schloß eine rotblaue Fahne verkündete, waren etwas Besseres, das ließ sich nicht abstreiten. Sonst hätten, wenn der Fürst, in feinstes Hellgrau gekleidet, auch die hauchdünnen Lederhandschuhe und die Gamaschen waren grau, durch die Straßen unserer Stadt spazierte, die gewöhnlichen Männer nicht tiefe Verbeugungen, die gewöhnlichen Frauen keine kunstvollen Knickse gemacht.
Die vorgeschriebene Anrede lautete Eure Durchlaucht. Das klang nach Durchfall, deutete aber doch auch auf eine Gipfelleistung der göttlichen Schöpferkraft, deren Himmel und Erde umspannende Herrlichkeit in der zum Schloß gehörenden Basilika allsonntäglich mit einem inbrünstigen Credo nicht nur von mir bestätigt wurde.
Die durchlauchtigen Gesichtszüge zeugten von Reinrassigkeit; kein Wunder, war doch die Schwester der Mutter die ihre Kino-Doppelgängerin Romy an Schönheit hundertfach übertreffende Sissi. Aber auf Schönheit kam es nicht an. Der Fürst hatte beizeiten eine ungarische Erzherzogin heimgeführt, also eine Habsburg, die ihrerseits als Kaiserliche Hoheit zu titulieren war. Schön war sie nicht, aber fruchtbar: Sie schenkte ihrem Gemahl sechs Prinzen und eine Prinzessin. Die heirateten, dem unnachgiebig über das rigorose Hausgesetz wachenden Vater gehorsam, ausschließlich standesherrlich, und so gesellten sich zu der kaiserlichen zwei portugiesische königliche Hoheiten und ein Markgraf, den meine Eltern mit Majestät ansprechen mußten.
Die Kehrseite des höheren Menschentums wurde an der Nachkommenschaft sichtbar. Wenigstens mir. Sie kamen mir als nicht ganz ernstzunehmende Sonderfälle vor. Das galt vor allem für die mit meinen Schwestern und mir etwa gleichaltrigen Enkel des Fürsten. Beispielsweise mußten sich die Geschwister in der dritten Person anreden, und so hielten sie es auch mit uns, wenn wir im weitläufigen Schloßpark zum Ostereiersuchen eingeladen waren. «Hat er,» konnte ich da zu hören bekommen, «seinen Schokoladehasen schon gefunden?» Ich hatte nicht und schüttelte wortlos den Kopf, ohne mich auf das Minenfeld der prinzlichen Sprachregelungen zu begeben.
Man mußte nicht zu den obersten Rängen gehören; es gab viele Abstufungen. Ganz oben die regierenden Häuser mit ihren geschlossenen Kronen. Dann die Kronen mit neun Zacken für die Grafen, mit sieben für die Barone, mit fünf für die titellosen Adeligen. Das war aber eine ganz oberflächliche und irreführende Einteilung. Durchaus windigen, da erst vor zweihundert Jahren in diesen Stand erhobenen österreichischen Grafen standen ungleich vornehmere preußische Familien gegenüber, die, wie beispielsweise Herr von Katte (ich erinnere mich genau, daß meine Mutter, den Doppel-t-Laut scharf betonend, diesen Namen nannte) einen Extratitel nicht nötig hatten. Entscheidend war, ob es sich um Uradel oder Adelsnamensträger neueren Datums handelte. Noch im letzten Augenblick, anno 1918, konnte der Minister eines Fürstentums, der aus der Familie eines seine unübertrefflichen Hörnchen an den Hof liefernden Bäckers oder über besonders prall gefüllte Weizensäcke herrschenden Müllers stammte, von seinem Souverän mit einem Freiherrn-Brief ausgestattet worden sein. Das war natürlich immer noch besser als nichts, konnte aber mit einem reichsunmittelbaren Geschlecht, das auch nicht mehr als seine sieben Zacken hatte, nicht in einem Atem genannt werden. Alles, was recht war.
Die Grafen und Freiherrn, die ihre Existenz morganatischen Ehen verdankten, nicht als völlig ebenbürtig einzuschätzen, wäre ganz und gar verfehlt gewesen, so die von ihrer Mutter übernommene und getreulich an ihre Kinder weitergegebene Lehre unserer Mutter. Sie waren ja meist, man denke an den Mann von Tante Leontine, Abkömmlinge von Kurfürsten, Herzögen, Königen und Kaisern, bewohnten ein, inzwischen leider fast immer enteignetes prächtiges Palais und verkehrten in den allerersten Kreisen. Eine geschickte Heiratspolitik konnte...
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