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Sie hatten also die Peripherie für ihn parat.
Unbewegt folgte Anton der schonungslosen Schilderung seiner beruflichen Optionen. Wenigstens machte es der Amerikaner kurz, Verzicht auf schmückendes Beiwerk war ein Markenzeichen der besseren Headhunter. Der Mann vermittelte den Eindruck, er sei der einzige Mensch in Manhattan, der nicht versuche, ihm etwas zu verkaufen. Den Deutschen faszinierte der Wortfluss seines Gegenübers, dieses aseptisch vorgetragene, verblüffend exakte Urteil. Angesichts der gelegentlich eingestreuten Kränkungen jetzt Widerstand zu leisten wäre töricht. Er überlegte, woher sie all diese Details über ihn kannten, während er von dem Rekruter mit den grünen Augen nichts wusste. Das demütigende Gefühl, Objekt einer peniblen Recherche gewesen zu sein, verdrängte er rasch. Stattdessen ertappte er sich dabei, wie er darüber nachsann, warum die Mister Perfect in Amerika so oft über ein markantes Kinn verfügten, das an Comicfiguren erinnerte. Der mittelgroße sportliche Mann im Brooks-Brothers-Anzug fuhr unbeirrt mit sorgfältig gefilterten Informationen zur beruflichen Herausforderung fort, für die er Anton gewinnen wollte. Das Ganze hörte sich passabel an, so wie die meisten Jobs in dieser Größenordnung, bevor dann im Laufe weiterer Gespräche die Weichzeichner sukzessive reduziert wurden, bis eine unangenehm diffizile oder komplexe Tätigkeit übrig blieb. Anton vermochte sein anschwellendes Unbehagen über das Testosteronkinn nicht länger zu bändigen.
»Neunzig Prozent der Welt sind Peripherie. Wo genau?«, fragte er.
»Zentralasien. Eines der Stans.«
In Kapitalkreisen wurde jenes Territorium nicht weiter konkretisiert, zumindest nicht aus der Perspektive des Finanzdistrikts von Lower Manhattan.
»Etwas mehr Tiefenschärfe bitte. Usbekistan, Turkmenistan, Kasachstan, Kirgistan oder Tadschikistan?«
»Irgendwo in Absurdistan. Wenn Sie interessiert sind, vereinbare ich ein Treffen mit meinem Auftraggeber.«
»Ich werde darüber nachdenken. Geben Sie mir ein paar Tage Zeit.«
»Die bekommen Sie.« Er zögerte einen professionellen Augenblick lang. »Es ist eine hervorragende Offerte, und Sie sind der Wunschkandidat.«
Als Wunschkandidat für eine solche Aufgabe bezeichnet zu werden, hätte er unter anderen Umständen als Frechheit empfunden, ähnlich wie den Teller mit Fusion Food, der unberührt vor ihm stand. Doch in seiner gegenwärtigen Situation konnte er nicht allzu wählerisch sein.
Sie verabschiedeten sich betont unverbindlich. Anton blieb auf der Dachterrasse, es zog ihn nicht zurück in das Getümmel weiter unten. Stattdessen dachte er an all die schmerzhaften Fakten, die während des Gesprächs nicht ausgesprochen, aber treffsicher vermittelt wurden. Sein Marktpreis war auf ein ernüchterndes Niveau gefallen, für einen zielführenden Lebenslauf stellten sich von den zehn Jahren in Moskau mindestens fünf als überflüssig heraus. Zu lange hatte er sich dort zwischen frivoler Kulturmast und infamen Rohstoffgeschäften treiben lassen. Seinen vierundvierzig Jahren fehlten zwei oder drei substanzielle Karrierestationen, und dass er seit über zwölf Monaten beruflich nichts mehr unternahm, war in den Augen von Corporate America ähnlich problematisch wie das, was er vorher in Russland für eine obskure Firma getrieben hatte. Wenige Orte werden so überschätzt wie New York, fuhr es ihm durch den Kopf, während er von der Balustrade auf SoHo hinunterblickte. Das traf auf alle sogenannten Weltstädte zu.
Mit der Subway fuhr er zum Central Park. Dort fand er eine Parkbank, auf der keine redseligen Rentner lauerten. Zufrieden betrachtete er die Jogger, die beharrlich ihre Runden drehten. Von ihnen drohte ebenfalls kein Sozialkontakt.
Die vergangenen zehn Monate erschienen ihm wie ein Missverständnis. Zugegeben, nach der fulminanten Zeit im Moskau der Neunzigerjahre lag es nahe, erst mal nach New York zurückzukehren, wo er einige Leute kannte, mit denen der Kontakt nie abgerissen war. Ein Maler, mehrere Banker, eine Anwältin, eine Tänzerin, ein Sänger und ein paar Liebschaften, denen noch an Umgang mit ihm gelegen war. Ihre Biografien ließen Rückschlüsse auf seine Interessen vor zehn Jahren zu, bevor er die Stadt verließ, um in den Trümmern der Sowjetunion etwas zu finden, was der Westen ihm nicht bot. Die Banker waren überrepräsentiert; Geld beschäftigte ihn inzwischen nur noch am Rande, ansonsten aber hatten sich seine Vorlieben kaum geändert. Soweit sie ausfindig zu machen waren, suchte er nach seiner Ankunft die alten Bekannten auf. Die übliche Euphorie, sich nach Jahren wiederzusehen, flachte meist rasch ab. Man erwartete von ihm Anekdoten zu Land und Leuten in Russland, die er nicht liefern wollte. Er hätte lieber über das Lebensgefühl der Zeit unter Jelzin gesprochen, über Freiheitsrausch und Abgründe, als der größte Staat der Erde aufgehört hatte zu existieren. Die Jahre im ideologischen Vakuum des Molochs, das der Untergang der Sowjetunion hinterließ, legte sich noch immer wie ein Schleier über alles, was er jetzt in New York wahrnahm. Aber niemand wollte etwas über die winterliche Nachmittagsstimmung im Tschaikowski-Konservatorium hören, stattdessen wurde er aufgefordert, den sagenhaften Reichtum Neuer Russen zu schildern. Diese Lust an Superlativen war ihm zuwider, er behauptete, keine Oligarchen zu kennen, sodass seine Zeit in Russland zumindest unter den Bankern als nutzlos galt. Überhaupt schienen seine Bekannten, nachdem sie die vierzig überschritten hatten, das Stadium der verlorenen Illusionen überwunden zu haben, um endgültig ihr Plätzchen in der wohltemperierten Öffentlichkeit New Yorks einzunehmen. Er wehrte sich eine Zeit lang erfolglos gegen die zähe, alles lähmende Langeweile und Lustlosigkeit, die ihm eine planmäßige Gestaltung seiner Zukunft lächerlich erscheinen ließ. Selbst sein Sexualhaushalt war seit Monaten nicht mehr ausgeglichen, nur gelegentlich flackerte etwas Leidenschaft auf. Ansonsten glich seine Gemütsverfassung einer Ouvertüre, auf deren Don-Giovanni-Akkorde in d-Moll nichts folgte. All dies führte bei Anton zur Entscheidung, den Job in Zentralasien ernsthaft in Erwägung zu ziehen.
Drei Tage später meldete er sich bei dem markanten Kinn, um den Termin mit dessen Auftraggeber zu bestätigen. Wenigstens raffte er sich auf, ein paar Country Reports zu lesen, die sich mit Zentralasien beschäftigten. Analysten, die für Banken oder Thinktanks arbeiteten, hatten kaum relevantes Material zusammengetragen. Nur an einem Bericht zum Rohstoffreichtum blieb er länger hängen, ein prosaischer Experte bei Bear Stearns schien vor Ort über Kontakte zu verfügen. In den verlorenen Weiten der kasachischen Steppe ließen sich alle Elemente aus Mendelejews Periodensystem in rauschhaftem Überfluss finden, versicherte er potenziellen Investoren.
Der Blick aus dem Corner Office ließ keine Zweifel an den Ambitionen der Investmentgesellschaft zu. Das galt auch für den Mondrian über der schwarzen Ledercouchgarnitur, auf welcher Anton Platz nahm. Bei den Möbeln schien es ihm, als hätte der Designer den Bauhausstil aufgenommen, um ihn behutsam auf Bequemlichkeit und Solidität zu trimmen. Das Ambiente zielte nicht auf Einschüchterung ab, Vertrauensbildung stand im Vordergrund. Der größte Luxus war die absolute Ruhe hier oben, an die er sich erst gewöhnen musste. Man ließ ihn eine Viertelstunde warten, während der er sich fest vornahm, nicht an der Echtheit des Mondrians zu zweifeln. Es fiel ihm kein Maler ein, dessen Bilder so vortrefflich in die Wolkenkratzer dieser Stadt passten.
Der Mann war älter, als Anton erwartet hatte, vermutlich jenseits der siebzig. Graue, zurückgekämmte Haare, weiche Züge, nubische Nase, auffallend schlank und die gelassene Souveränität ausstrahlend, die derlei Büros hervorbringen. Der Händedruck war kurz, fast beiläufig, als würde man sich schon länger kennen.
»Peter Hennessy, schön, Sie zu sehen.«
Sie hielten den üblich lapidaren Small Talk und setzten sich erst, als einer aus der Finanzabteilung mit jemandem dazukam, dessen Funktion Anton nicht verstanden hatte. Er konzentrierte sich auf den alten vitalen Mann, ohne Zweifel der Ranghöchste im Raum.
»Haben Sie schon mal von uns gehört?«, fragte Hennessy, während Anton dessen erlesene Manschettenknöpfe betrachtete.
»Nein, nicht bevor Sie mich kontaktierten. Und seitdem habe ich auch so gut wie nichts rausbekommen.«
»Aber das hat Sie nicht davon abgehalten, herzukommen. Warum eigentlich nicht?«
»Vielleicht Neugierde. Außerdem war der Headhunter penetrant überzeugend, er wusste so ziemlich alles über mich. In Moskau hätte ich auf KGB getippt. Geben Sie sich immer so viel Mühe?«
»Wir müssen bei dieser Aufgabe mehr über die Kandidaten wissen als gewöhnlich. Einblick in Ihre KGB-Akte hat man uns übrigens verwehrt, obwohl das heutzutage ohne viel Aufwand möglich ist, wie man mir versichert hat.«
Anton schwieg lächelnd und hoffte, dass Hennessy bald zur Sache käme. Er war nun sicher, dass es sich bei den Manschettenknöpfen nicht um Meeres-Topase handelte. Das blasse Blau der Tansanite spiegelte exakt die Pupillenfarbe ihres Trägers. Eine ästhetisch gelungene Entschädigung für den Small Talk, der, sobald jemand ein paar Jahre in Russland verbracht hatte, auf KGB-Witzeleien und verführerische Frauen hinauslief, die grundsätzlich Natascha hießen.
»Ehrlich gesagt wurde ich beim Lesen des Berichts über Sie ein wenig neidisch. Wenn wir jung sind, sehnen wir uns nach Abenteuern, und wenn wir...
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