Schweitzer Fachinformationen
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Wir hatten bei der Drogenfahndung öfter mit Tätowierern zu tun, denn Tätowierer haben eine berufsbedingte Affinität zu Beruhigungs- und zu Aufputschmitteln - ähnlich wie Unfallchirurgen, Notärzte und Intensivmediziner. Ihre Arbeit erfordert ein hohes Maß an Konzentration, sie arbeiten über Stunden am Stück, und sie arbeiten oft nachts.
Genauso kann es aber Tätowierern auch passieren, dass sie tagelang keine Kunden haben, dann fangen sie an, nervös zu werden, und dann zeichnen viele von ihnen, sie skizzieren fast manisch Tag und Nacht Totenköpfe und Drachen.
Tätowierer übertragen Zeichnungen auf die Haut, sie arbeiten mit Farben, aber sie sind keine Maler, denn sie arbeiten mit der Nadel, nicht mit dem Pinsel. Ein Tattoo wird gestochen, nicht gezeichnet, nicht gemalt.
Ein verlaufenes, verwaschenes blaurotes Blütenmeer mit nichts als einer Nadel und Farbe zu erschaffen liegt für einen gewöhnlichen Tätowierer außerhalb seines Könnens. Der einzige Mensch, den ich in der Stadt kannte, dem ich eine solche Arbeit zutraute, war ein Japaner, Satoshi.
Satoshi war Maler und Zeichner, Holzschnitzer und Lithograph. Er war vor vielen Jahren aus Japan nach Berlin gekommen. Ich hatte ihn zusammen mit Katrin kennengelernt, das war bei einem Berlin-Marathon. Satoshi und ich liefen die ganze Strecke zusammen. Wir blieben danach in Kontakt. Er, Katrin und ich trafen uns zum Laufen. Er war schneller als wir, aber das spielte für ihn keine Rolle. Er schlug vor, gemeinsam Fallschirmspringen zu gehen. Später lud er mich und Katrin zu einem Fest in seinem damaligen Atelier auf dem verlassenen Kraftwerksgelände an der Grenze zwischen Neukölln und Treptow ein.
Satoshi malte große, abstrakte Ölbilder, die manchmal entfernt an Landschaften erinnerten, und er zeichnete mit japanischer Tusche auf langen Papierbahnen. Manchmal kopierte er in unglaublicher Qualität Bilder anderer Maler, Gemälde von Rembrandt, Tizian und da Vinci, aber auch von Turner und Monet, und auch Gerhard Richters Wolkenbilder fanden sich unter diesen Arbeiten, aber Satoshi war kein Fälscher, er bezeichnete sich, was diese Bilder anging, als »Lehrling«. Diese Arbeiten waren für ihn »Trainingseinheiten«, wie er es nannte. In seinem Atelier standen aber auch, angelehnt an die Wand, Übermalungen, Varianten und Interpretationen der »36 Ansichten des Berges Fuji« von Katsushika Hokusai.
- Weltfolklore, sagte Satoshi damals auf dem Fest, ich weiß. Trotzdem bleibt Hokusai mein Meister, und der Fuji bleibt auf alle Zeit mein Akuma, mein Dämon, egal, wohin ich vor ihm fliehe, er ist immer da.
Satoshi kam aus der Gegend von Fukushima. Er hasste sein Heimatland Japan. Er war entschlossen, niemals dorthin zurückzukehren, aber Hokusais sechsunddreißig Ansichten des Fuji waren für ihn als Maler und Holzschnitzer dennoch ein fast übermächtiges Thema. Er war, wie Hokusai, besessen von dem Vulkan, aber noch mehr war er besessen davon, mit welcher Leichtigkeit Hokusai mit seiner eigenen Besessenheit umging. Der Vulkan erschien in Hokusais sechsunddreißig Holzschnitten, als interessiere er den Holzschnitzer überhaupt nicht, als sei der Vulkan eher durch einen reinen Zufall ins Bild geraten, ein Fremdkörper in der Ferne und gleichzeitig übermächtig, denn natürlich war der Vulkan auf den Bildern mehr als nur ein Vulkan in der Ferne. Satoshi hatte die sechsunddreißig Motive immer wieder kopiert, übermalt, zitiert, variiert und zerstört.
Es wurde auf der Party in Satoshis Atelier gekifft und gekokst, jemand bot Katrin LSD an, und später setzte sich jemand mitten in dem Atelier unter all den Gästen einen Schuss. Katrin wollte gehen, also gingen wir.
Sie schrie mich im Auto an.
Sie brach den Kontakt mit Satoshi nach dem Abend ab, aber er und ich blieben lose in Verbindung.
Satoshi hatte trotz seiner enormen Begabung keinen großen Erfolg. Es gab Leute, die sich für seine Kopien anderer Bilder interessierten, aber die Kopien interessierten ihn nicht, und er verkaufte sie nicht.
Er hatte kein Geld. Er fing an, als Tätowierer zu arbeiten. Damit hielt er sich zunächst einfach nur über Wasser, aber sehr schnell war er sehr gefragt. Er schaffte das, was ihm als Maler nicht gelang, er wurde als Tätowierer zu einem internationalen Star. Ich rief ihn manchmal noch an, um ihn zu fragen, ob er nicht Lust hätte, mit mir zu laufen, aber Satoshi hatte keine Zeit mehr dafür.
Er wurde mit der Zeit zu einer fast mythischen Größe der Tattoo-Szene, und er driftete ab. Er nahm mehr und mehr Drogen. Das Areal um das verlassene Kraftwerk wurde dicht gemacht, Satoshi verlor sein Atelier, und von da an arbeitete er auf dem Gelände eines Clubs unten am Fluss, an der Spree.
Satoshi fing meistens erst gegen ein Uhr morgens an zu arbeiten. Das MILA war ein aus ein paar Holzbrettern zusammengezimmerter Club auf dem schmalen Uferstreifen zwischen dem alten Bahnviadukt, über dessen Backsteinbögen die Züge die Stadt durchquerten, und der Spree. Windschiefe Hütten lehnten auf dem schmalen Uferstreifen aneinander, sie duckten sich unter der Bahnlinie, und von außen schienen die Holzverschläge einsturzgefährdet. Ein Teil des Clubs war ein alter Frachtkahn, der vertäut am Flussufer lag.
Betrat man einen der Holzverschläge, stand man plötzlich nicht in einer Hütte, sondern in einer Halle, die jeden Moment davonzuschwimmen schien. Hier lief die beste elektronische Musik der Stadt.
Diese Technofavela war die Heimat der Jungen und Mädchen mit den goldgeschminkten Gesichtern und den schimmernden Engelsflügeln. Das MILA war nichts für Leute ganz in Schwarz. Alle hier waren auf Kokain und Speed und Keta und Ecstasy, und alle tranken Bier und Tequila und Wasser und hatten strahlende Augen, niemals gab es Streit, alle bewegten sich im Rhythmus der Musik, und morgens in der Dämmerung sahen die goldenen und silbernen Gesichter die letzten Sterne auf dem Fluss tanzen.
Es war kurz nach zwei Uhr, als ich kam.
Hier vor dem MILA hatte ich vor etwa achtundvierzig Stunden die indische Feuerspuckerin mit den blau geschminkten Augen kennengelernt.
Die Schlange der Wartenden vor dem Eingang war mehrere hundert Meter lang. Da standen sie alle, die Jungs mit den glitzernden Sonnenbrillen und die Mädchen mit den blauen Perücken, und alle rauchten aufgeregt und tranken das Bier, das sie vorher gegenüber an der Aral-Tankstelle gekauft hatten.
Die Tänzer müssen lange warten, bis sie die Tür passieren dürfen, manchmal stehen sie mehr als drei Stunden hier draußen auf der Straße, im Sommer wie im Winter, denn am Einlass sitzt eine blond gefärbte Frau mit einer Kapitänsmütze, Wilma, die jedem in die Augen schaut, der in den Club will, und jeden, der so aussieht, als ob er die ungeschriebenen Regeln der Favela nicht verstehen würde, schickt sie weg, und das sind nicht wenige.
Ich ging an der langen Schlange der Wartenden vorbei. Die einzigen Gesichter, die ich erkannte, waren die Gesichter der Undercover-Leute von der Drogenfahndung mit ihren großen Pupillen. Diese zivilen Ermittler lebten am Rand des Nichts, so wie ich es jahrelang auch getan hatte. Wenn sie an Wilma vorbeigingen, zwinkerte sie ihnen zu, und dann wurde sie von der Nacht verschluckt und erst am Morgen wieder ausgespuckt.
Mir zwinkerte Wilma nicht zu, als ich mich an den Wartenden vorne an der Tür vorbeischob. Sie sah mich an, nickte, und ich nickte auch.
- Du siehst wach aus, sagte sie.
- Du auch, sagte ich.
Sie nahm für einen Moment mit ihren verbrannten Händen meine beiden Hände.
- Pass auf dich auf, junger Mann, sagte sie.
Als Polizist hatte ich Wilma einmal in einem Feuer das Leben gerettet, das war sehr viele Jahre her.
Dann ließ Wilma meine Hände los, ich ging durch die Tür, im Vorraum tasteten die Sicherheitsleute mich ab, dann tat ich noch ein paar Schritte und war in einer anderen Welt.
Zwischen den Bretterbuden hingen gelbe und rote und blaue Lampions, ein Mädchen in einem Tüllkleid ritt auf einem riesigen Schaukelpferd, und eine Frau, die ein Mann war, küsste einen Mann, der eine Frau war, und dabei tanzten sie auf einem Fass. Ich ging den schmalen Gang zwischen den Holzhütten entlang. Die Musik drang aus den Hütten. Die Lichter der gelben und roten und blauen Lampions spiegelten sich in Pfützen, und dann fuhr auf dem Viadukt über uns ein Zug durch die Stadt, der die blauen und gelben und roten Lampions in den Pfützen erzittern ließ.
Ich öffnete eine schwere Tür und stand in einem lichtlosen Gewölbe unter den Gleisen der S-Bahn. Von der Musik draußen war nichts mehr zu hören, es herrschte beinahe so etwas wie Stille, nur das Rauschen des Zugs hallte noch in dem Backsteingewölbe nach. Es war fast vollkommen dunkel. Am Ende des Gewölbes brannte auf einer Arbeitsfläche eine einzelne Schreibtischlampe. Es war nicht einfach, sich in der Dunkelheit auf das Licht zuzubewegen, überall lagen Metallteile und Holzbalken. Es roch nach Holz, Öl und Gummi. Mehrere leere Fässer und ein komplettes Schlagzeug standen im Dunkeln. Ich tastete mich an hohen Regalen entlang, in denen Werkzeuge und Kabel lagerten.
Tagsüber arbeiteten hier die Schreiner und Schlosser, die sich darum kümmerten, dass die Hüttensiedlung draußen auf dem Uferstreifen nicht auseinanderbrach.
Nachts war dieses Gewölbe unter den Bahngleisen Satoshis Atelier.
Satoshi saß an einer langen Werkbank an der Rückwand des dunklen Gewölbes und zeichnete im Schein der Schreibtischlampe.
Er zeichnete mit blauschwarzer Tusche, er bewegte den Tuschepinsel über einen großen Bogen Packpapier, der vor ihm auf der Werkbank lag,...
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