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Im ersten Kapitel haben wir gesehen, dass Viren - nach den gängigen biologischen Definitionen - nicht lebendig sind. Denn sie sind auf einen Wirt angewiesen, dessen Stoffwechsel sie mitbenutzen können. Ohne Wirt können sie sich nicht vermehren. Je kleiner das Virus, desto einfacher fällt es, dieses Konzept erst mal so hinzunehmen. Aber je größer so ein Virus wird und je mehr Funktionen es selbst mitbringt, desto schwieriger wird es, da so ganz klare Grenzen zu ziehen.
Ganz besonders schwierig wurde es, als 2003 das erste Riesenvirus entdeckt wurde. Dieses Riesenvirus war nämlich so groß, dass es unter einem ganz normalen Lichtmikroskop zu sehen war und deshalb zuerst auch mit einem kleinen Bakterium verwechselt wurde. Inzwischen sind eine ganze Reihe verschiedener Riesenviren bekannt. Zu allem Überfluss wurde auch noch entdeckt, dass diese Riesenviren wiederum selbst von Viren, den sogenannten Virophagen, infiziert werden können. Gegen die können sie sich außerdem mit einer Art Immunsystem wehren.
In vielen Eigenschaften unterscheiden sie sich also gar nicht so sehr von unseren Zellen. Und Zellen sind ja definitiv lebendig. Wo ist dann aber die Grenze zwischen lebendig und tot? Ist diese Grenze also weniger klar, als man lange dachte? Das hat unter Wissenschaftlern eine spannende Diskussion in Gang gebracht. Kann man überhaupt eine Grenze ziehen? Wenn ja, wo und nach welchen Kriterien? Und wenn nein, was ist dann Leben überhaupt?
Je ähnlicher sich Dinge sind, desto schwieriger ist es, klare Unterscheidungsmerkmale zu finden. Viren bestehen biochemisch gesehen aus dem gleichen Material wie Zellen. Und sie stellen deren Stoffwechsel komplett um, sobald sie in der Zelle sind. In späteren Kapiteln werden wir sehen, dass sie in erheblichem Maße dazu beitragen, dass Leben funktioniert. Sie sind wichtiger Lieferant für neues genetisches Material und Treiber für Entwicklungsprozesse. Aber ihre Definition als »nicht lebendig« hat dazu geführt, dass ihr Einfluss auf Ökosysteme und Entwicklungsprozesse oft übersehen wird. Auch darum soll es später noch gehen.
Spätestens die Entdeckung der Riesenviren hat also die Diskussion um das Wesen der Viren und um die Grenze zwischen biologisch tot und lebendig in der Naturwissenschaft neu entfacht. Könnte man vielleicht das Virus in einem Zustand als lebendig und in einem anderen als tot bezeichnen? Dafür sprechen sich einige Wissenschaftler aus. Der Biologe Patrick Forterre schlägt zwei Optionen vor: Begriffe wie Leben oder lebendig aus der Literatur zu streichen oder den Begriff zu erweitern. Letzteres hieße, alle biologischen Einheiten als lebendig einzustufen, also auch die Bausteine, aus denen Zellen bestehen, inklusive Zellorganellen. Man merkt: Die Frage danach, was Leben eigentlich ist, ist aus biologischer Sicht gar nicht so einfach zu beantworten!
»Es gibt mehr als 100 Definitionen von Leben und alle sind falsch« lautete die Überschrift eines Artikels von Josh Gabbatiss vor einigen Jahren. Was meint er damit? Neben dem, dass es die eine Definition von Leben vermutlich nicht gibt, erwähnt er noch ein zweites Problem: Ein Forschungsfeld, das besonders offensichtlich mit diesen menschlichen Grenzen konfrontiert ist, ist die Astrobiologie. Wir suchen nach Leben im Weltall. Aber die Frage ist, ob wir Leben auf anderen Planeten überhaupt als solches erkennen würden. Wer sagt uns, dass Leben auf anderen Planeten abhängig ist von Wasser oder Kohlenstoffverbindungen? Vielleicht kann Leben ja auch mithilfe völlig anderer chemischer Verbindungen entstehen? Oder noch abstrakter: Braucht Leben überhaupt ein chemisches Grundgerüst? Im Fachbereich künstliche Intelligenz arbeiten wir daran, Leben durch Computer zu simulieren, vielleicht sogar zu erschaffen.
Allein in verschiedenen Fachbereichen sind also die Erwartungen daran, was es für Leben braucht, sehr unterschiedlich. Was sind denn aber dann die wesentlichen Bestandteile von Leben?
All das zeigt, dass wir für eine angemessenere Definition von Leben die Naturwissenschaft eigentlich verlassen und ein bisschen über den Tellerrand schauen müssen. Denn alle oben genannten Definitionen von Leben sind ja deshalb nicht universell anwendbar, weil sie von Menschen gemacht sind. Sie erzählen unsere Perspektive auf die Welt, unsere Weltanschauung, mit der wir die Gesetzmäßigkeiten erforschen. Und sie erzählen ebenfalls die Geschichte, wie wir die Welt Stück für Stück entdecken. Je besser unsere technischen Möglichkeiten werden, desto klarer wird oft, dass die menschlich gedachten Definitionen und Grenzen zu einfach gedacht sind. Das ist die Krux mit menschlichen Definitionen. Sie orientieren sich an menschlichen Erfahrungen. Erweitert sich unsere Perspektive, müssen sich oft auch unsere Definitionen mit erweitern.
Vielleicht fragst du dich an dieser Stelle, was das soll. All diese Überlegungen sind zwar womöglich interessant, aber wo führen sie hin? Warum wollen wir überhaupt wissen, was Leben ist? Vielleicht ist es für jemanden in der Raumfahrt wichtig, sich Gedanken über Leben auf anderen Planeten zu machen und darüber, ob man es überhaupt als solches erkennen würde. Bestimmt ist es auch für Philosophen ein intellektuell spannendes Thema. Aber warum sollten wir uns an dieser Stelle damit befassen? Hier sind meine drei Gründe:
Erstens: Wir leben selbst und wollen wissen, wer dazu gehört. Wir haben (in aller Regel) Bewusstsein und nutzen diesen Zustand nicht nur, um uns intellektuell interessante Gedanken zu machen, sondern auch dazu, mit anderen zu interagieren. Zu wissen, wer zu unserem Umfeld gehört, welche Rolle wir in diesem kleinen Mikrokosmos spielen und wer eben nicht mehr dazu gehört, ist überlebenswichtig. Dieses Wissen bestimmt unsere Entscheidungen, Ansichten und Interaktionen.
Zweitens: Im Alltag müssen wir ständig ethische Fragen beantworten. Unabhängig von unserer Religion oder unserer Weltanschauung gibt es etwas tief in uns, das uns sagt, dass wir gegenüber einem anderen Lebewesen mehr Verantwortung tragen als zum Beispiel gegenüber einem Stein. Wir müssen entscheiden, wovon wir uns ernähren, unsere Möbel herstellen und wo wir unsere Städte bauen. Wie wir Tiere halten, wie viele Ressourcen wir wo entnehmen und wofür wir sie verwenden. Medizinisch gesehen wollen wir wissen, wann und wie das Leben endet. Ab wann kann für einen Patienten nichts mehr getan werden? Wann muss man lebenserhaltende Maßnahmen einstellen?
Drittens: Es ist auch eine persönliche Frage. Wir wollen wissen, was Leben ist, weil die Antwort auch über unsere Identität entscheidet. Über unsere Ziele und Aufgaben. Und irgendwie auch über unseren Wert. Welche Bausteine braucht es für Leben? Ist reine Biologie genug? Und ab wann ist jemand Lebendiges auch eine Person mit Rechten? Ist das Leben eines Embryos genauso viel wert wie das der Mutter? Wir kennen Diskussionen über »lebenswertes Leben«. Insbesondere beim Menschen diskutieren wir also nicht nur über die Grundvoraussetzungen für Leben, sondern auch über die Qualität. Dafür scheint es wiederum eine ganze Liste an biologischen, aber auch nichtbiologischen Charakteristika zu geben.
Eine Grundangst, die vor allem bei religiösen Menschen seit dem Aufkommen der Naturwissenschaft oft mitschwingt, ist die Angst, dass die Forschung irgendwann die komplette Biologie des Menschen entschlüsselt hat und sich herausstellt, dass wir eigentlich nichts anderes sind als die Summe aller biochemischen Prozesse, die in unseren Zellen ablaufen. Wie bei einem Computer, den man in seine Einzelteile zerlegt und feststellt, aus wie wenigen Komponenten er eigentlich besteht, haben wir Angst, dass auch wir irgendwann auf unsere Grundbausteine reduziert werden und das, was wir als unsere Seele, unseren Geist, unsere Person wahrgenommen haben, eigentlich nichts weiter ist als klug verschaltete Netzwerke aus biologischem Material.
Wir haben dabei aber nicht nur Angst, unsere Persönlichkeit zu verlieren. Wir haben auch Angst, dass sich dadurch alles Spirituelle, das, was unsere Person mit dem Übernatürlichen, mit Gott und dem großen Ganzen verbindet, als Einbildung herausstellt. Was, wenn es außer der materiellen Welt gar nichts mehr gibt? Wenn sich alles, was wir beobachten können und was wir sind, biologisch erklären lässt?
Weißt du noch, was du am 1. Oktober 1990 gemacht hast? Falls nicht - kein Problem. Ich kann mich auch nicht mehr daran erinnern. Aber das liegt unter anderem auch daran, dass ich damals erst vier Jahre alt war. In Deutschland wurde an diesem Tag vermutlich immer noch politisch verhandelt, wie die Wiedervereinigung ganz praktisch auszusehen hatte. Dank Internetrecherche habe ich außerdem gelernt, dass an diesem Tag ein Bürgerkrieg in Uganda begann und sich die serbische Minderheit in der jugoslawischen Teilrepublik Kroatien für autonom erklärt hat. Worauf ich aber hinaus möchte, ist, dass an diesem Tag auch ein Projekt begann, das Aufsehen erregt hat wie kaum ein anderes: das Humangenomprojekt.
Dessen Ziel war es, jetzt, da endlich die Technologie zur Verfügung stand und finanziell auch einigermaßen erschwinglich war, das menschliche Erbgut, also den Bauplan einer Zelle, komplett zu entschlüsseln. In einem gewaltigen Forschungsvorhaben und mit einer riesigen Anzahl an internationalen Kollaborationen wurde über einen Zeitraum von insgesamt fast vierzehn Jahren das Erbgut einer kleinen Gruppe Menschen Buchstabe für Buchstabe entziffert.
Da das Erbgut von unterschiedlichen Menschen natürlich variiert, wurden die Sequenzen zu einer Art Mosaik...
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