Schweitzer Fachinformationen
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Die Tage waren inzwischen länger und wärmer geworden, Walter wuchs heran, die Leute kehrten ein und der Biergarten war gut besetzt. Am Wochenende kamen gelegentlich auch französische Soldaten, weniger wegen des Essens, sondern vielmehr wegen der Mädchen, die darauf warteten, von einem von ihnen zum Tanzen aufgefordert zu werden. Lieber wäre es diesen Backfischen aber gewesen, wenn ein schnittiger GI der Amerikaner im Jeep mit lauter Rock'n'Roll-Musik aus dem Transistorradio vorgefahren wäre. Doch darauf mussten sie vergebens warten. Erna und Lina, die dickste Bedienung in der gesamten Umgebung, hatten immer viel zu tun, um die Gäste bei Laune zu halten. Vater Denzel hingegen verbrachte seine Zeit entweder in der Küche beim Schaben der Spätzle oder am Zapfhahn, um Bierkrüge zu füllen.
Walter krabbelte in seinem Bettchen herum und schaute sich von dort aus neugierig die Welt an. Seine Mutter hatte einen Kalender des Lahrer Hinkenden Boten an die Wand gehängt. Auf einer Holztafel über der Kommode war eine Bauernregel eingraviert: "Warmer Oktober bringt fürwahr, stets einen kalten Januar." Walter konnte zu dieser Zeit noch nicht lesen, und als er Jahre später in der Lage war, den Spruch zu entziffern, verstand er noch immer nicht, was es bedeutete. Erst sehr viel später. Da war dann schon Kiesinger Ministerpräsident.
Das Wirtschaftswunder geschah fast wie von selbst, alle schafften wie die Brunnenputzer. Dies zog noch mehr Gäste in das Waldhorn, und seine Eltern investierten in ein neues Sofa und einen Nierentisch für das Wohnzimmer, dazu eine Tulpenlampe und einen echten Gummibaum aus Brasilien.
Auf einem kleinen Tischchen im Flur lagen immer der Südkurier vom Vortag, alte Quick-Illus, das Konradsblatt und ein Neckermann-Katalog für die Feriengäste aus. Außerdem gab es Postkarten, die die Gäste für 10 Pfennig erwerben konnten. Auf diesen Postkarten war das Waldhorn abgebildet, zusammen mit Vater und Mutter.
Im Schlafzimmer der Eltern hatte Walter sein Bettchen, das mit einem Schutznetz aus geflochtener Schnur versehen war, damit er nicht herausfallen konnte. Dort saß er oft mit seinem Teddybär Zotti und dem Igel Mecki und wartete darauf, dass er größer wurde. In dieser Zeit hatte er nicht viel zu tun. Erst als er älter wurde und bereits laufen konnte, bekam er sein eigenes Zimmer, was damals nicht selbstverständlich war. Der Junge war sehr stolz darauf!
In der Küche der Denzel-Wohnung stand neben der Eckbank ein weiß emaillierter Herd mit einer umlaufenden Handtuchreling und kunstvoll verzierten Eisenfüssen. Im Winter war es dort immer am wärmsten und dort wartete Walter auch immer darauf, dass ihm seine Mutter auf der Herdplatte einen Bratapfel machte. Von dem schnitt sie dann jeweils ein großes Stück ab. "Da, nimm! Und hier hast du noch etwas Vanillesosse dazu", sagte sie zu ihm und reichte ihm dazu noch eine aromatische Zimtstange, an der er gerne leckte.
Im übrigen Teil des ersten Stockwerks und im gesamten Dachgeschoss befanden sich Gästezimmer mit fließend kaltem Wasser. Die Betten hatten Federkernmatratzen, die Walter oft dazu verleiteten, darauf herumzuhüpfen, als ob er vom Hafer gestochen sei. Jedes Mal, wenn Lina beim Zimmermachen Walter dabei erwischte, schimpfte sie: "Du ruinierst mir noch die ganzen Betten!"
In der Diele befand sich eine Toilette mit Holzbrille sowie ein Gemeinschaftsbad mit einer emaillierten Badewanne und einem hölzernen Badezuber. Warmes Wasser musste man stets vom Herd in der Küche nach oben bringen. Jeden Samstag wurde Walter in dem Zuber von Lina gründlich mit einer Wurzelbürste und Kernseife geschrubbt, ob es ihm gefiel oder nicht. Dabei sang sie ihm Lieder vor. Sein Leben lang konnte er sich an die Strophen erinnern: "Herr Meier kam geflogen, auf einer Flasch' Benzin, da dachten die Franzosen, es wär ein Zeppelin. Sie luden die Kanonen, mit Sauerkraut und Speck, und schossen dem Herrn Meier die Unterhose weg. Er dacht' er wär gelandet, bei seiner lieben Frau und küsste, aus Versehen, den Arsch der fetten Sau." Danach musste Lina immer Tränen lachen. Sie war überhaupt eine sehr vergnügte Person.
Im Erdgeschoss war die Gaststube. Auf dem holzgetäfelten Boden war ein verschlissener Rattanteppich ausgebreitet, auf den schon etliche Bierkrüge hinuntergefallen und Zigarrenstumpen mit dem Stiefel ausgedrückt worden waren. Einmal im Monat, oder wenn er zu arg roch, klopfte Lina den Teppich draußen auf der Stange aus. Dabei wirbelte immer ordentlich Staub auf, und anschließend wurde der Teppich wieder in der Gaststube ausgelegt. Die Mutter meinte, es wäre vielleicht an der Zeit, einen neuen Teppich anzuschaffen. "Warum auch? Das kostet doch nur Geld! Solange es das Alte noch tut, geht es doch", erwiderte der Vater.
Um den dunklen hölzernen Stammtisch standen lustig gedrechselte Stühle. Auf den Tisch stellte Erna gerne kleine Vasen mit Blumen aus dem Garten, dazu drei klobige Porzellan-Aschenbecher mit der Aufschrift "Asbach Uralt". Dahinter prangte die lange Theke mit der Zapfanlage und dem Spülbecken. Von dort aus schaute ein großer Gartenzwerg mit weißem Bart und roter Kappe verschmitzt auf den Stammtisch. Man konnte sich nur vorstellen, was dieser Gartenzwerg schon alles gehört hatte und über welche Themen dort gesprochen wurde! Auf dem Weg zum Hinterausgang, dem Gang zum WC, war ein Kleiderständer, an den der alte Schappeler immer sorgfältig seinen Spazierstock hängte. Und auf der Hutablage ließ Stammtischbruder Schirrmeister, wenn er berauscht hinaustorkelte, ab und an seinen Zylinder liegen. Dort lag auch für lange Zeit ein Gamsbart, der einmal von einem Hut gefallen war. Mit diesem rieb sich Walter gerne an der Nase, weil das so schön kitzelte. "Hör auf, der ist dreckig!", rief die Mutter vom Tresen herüber. Weiter hinten im Flur war ein Zigarettenautomat. Walter inspizierte gerne die Fächer und überlegte, warum einige davon noch gut gefüllt, andere aber bereits leer waren. Die glänzenden Päckchen gefielen ihm: Atika, HB, Ernte 23, Reval, Juno, Salem, Lux, Roth-Händle, Peter Stuyvesant, und wie sie alle hießen. Nur die Rössli-Stumpen waren zu lang für den Automat, die musste sich Herr Schappeler immer am Tresen holen.
Neben dem Stammtisch gruppierten sich sechs kleinere Tische für jeweils vier bis fünf Personen. Wenn am Sonntag nach der Kirche die Bauern von Andelshofen runterkamen, schoben sie stets einige dieser Tische zusammen, weil sie sich nicht an den Stammtisch der Überlinger setzen durften. Und dies, obschon Andelshofen bereits lange eingemeindet war. Man hat sich eben nicht gerade gemocht.
Unter der hoch oben an der Decke hängenden Kienzle-Uhr, die Walter, wenn sie mal wieder stehen geblieben war, in Strümpfen auf einer Leiter balancierend, aufziehen musste, befand sich ein verglaster Durchgang zum Nebenzimmer, der guten Stube. Diese war mit teuren Möbeln, schweren Vorhängen und schneeweißen Gardinen ausgestattet. "Da darfst du nicht rein", wurde Walter des Öfteren vom Vater gemahnt, was dieses Zimmer für den Buben jedoch nur noch interessanter machte. Doch er traute sich nicht, es zu betreten. Er war schon immer aufgewühlt und glücklich, wenn Lina ihn bat, ihr den Korb mit den frisch gestärkten Tischdecken dorthinein zu tragen. Im Nebenzimmer wurden ab und zu Feste gefeiert, auch Hochzeiten. Einmal ergatterte Walter ein großes Stück Sahnetorte, das er dann heimlich draußen hinter dem Backhäuschen verschlang, worauf er Bauchweh bekam. Das Nebenzimmer war ausstaffiert mit hübschen gestreiften Tapeten, einigen gerahmten Bildern vom Bodensee und einem mittelalterlichen Stich von Überlingen.
In der Ecke, in der ein Hindenburg-Porträt hing, stellte Vater Denzel später einmal einen Telefunken-Fernseher auf. Bei jedem Spiel der deutschen Mannschaft an der Fußballweltmeisterschaft drüben in der Schweiz war das Nebenzimmer genagelt voll. Nach dem 3:8 gegen Ungarn weinten alle. Denzel gab zum Trost eine Runde Freibier aus. Das Bilger Lager aus der Bügelflasche besänftigte die Gemüter schnell wieder, nur der verwirrte Glöckler saß noch lange kopfschüttelnd da und murmelte immer wieder vor sich hin: "Aus! Es ist aus!"
Nur zwei Wochen später trafen beide Länder erneut im Finale in Bern aufeinander. Abends um Viertel vor Sieben, als die aufopfernd spielenden Deutschen das 3:2 über die Zeit gerettet hatten, brachen im Waldhorn alle Dämme. Sie jubelten und tobten. Schappeler tanzte mit Lina auf dem Tisch, und der kleine Walter kam eilig aus dem Garten hereingerannt, da er glaubte, es sei etwas Schlimmes passiert. Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt. Man hätte denken können, wir hätten den Krieg doch noch gewonnen und wären in Moskau einmarschiert. Denzel schenkte natürlich wieder Freibier aus. Nicht nur eines. "Trinkt, Leute, trinkt!", rief er in die Runde. Die Gäste ließen sich nicht lumpen und veranstalteten ein Austrinken. Das war auch der Grund dafür, warum die Sohlen von Linas Sandalen am nächsten Morgen durchgelaufen waren.
Im Fernsehen wurde...
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