Schweitzer Fachinformationen
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»Viel zu früh« - »Er hatte noch so viel vor« - »Es trifft immer die Falschen« - »De arme Lotting« - diese und ähnliche Sätze schwirrten am Abend durch den Saal des Restaurants Nordwind. Der traditionelle Maischmaus des Tourismusvereins fand trotz des Unfalls statt, dazu war das Treffen vor Saisonbeginn einfach zu wichtig. Hier kamen alle zusammen, die mit dem Tourismus zu tun hatten, hier wurden Allianzen geschmiedet, Konkurrenten beobachtet, Absprachen getroffen. Anna saß an einer weiß gedeckten Tafel zwischen Hoteldirektoren und Pensionsbesitzern. Eine Zeit lang musste sie die Gespräche über sich hinwegrauschen lassen, weil es ihre ganze Konzentration erforderte, den Hornfisch von der grünen Gräte zu pulen. Anfangs hatte bedrücktes Schweigen geherrscht, doch nach der zweiten Runde Bier löste sich die Stimmung. Hauptthema blieb Werner Looks' tragischer Tod. Anna meinte einen Unterton von Heuchelei aus den Trauerbekundungen herauszuhören, denn wirklich beliebt war er nicht gewesen.
Der kräftige Bass von Herbert Kruska stach aus dem Gemurmel hervor. Es schien ihm nicht viel auszumachen, dass die Vierer- nun zur Dreierbande geschrumpft war. Kruska thronte wenige Plätze von Anna entfernt an der Stirnseite des Tisches. Die goldenen Wappenknöpfe an seinem Marineblazer glänzten, das schwarze Einstecktuch statt des sonst üblichen creme- oder altrosafarbenen hatte er wohl zum Zeichen der Trauer gewählt. Alle in seiner Nähe hatten sich ihm zugewandt und aßen nur ab und zu verstohlen einen Bissen. Kruskas Teller war unberührt, er hatte die Ellenbogen aufgestützt und die Handflächen aneinandergelegt.
Der Werner hätte bestimmt nicht gewollt, dass er zu Hause bleibe und Trübsal blase, beteuerte Kruska.
»Wir hätten das nicht machen dürfen«, wiederholte er dann. »Wir sind ja keine zwanzig mehr.« Er schüttelte den Kopf, als wundere er sich über seinen eigenen Unverstand. »Die Wette war eine Schnapsidee. Wie es manchmal so geht im besoffenen Kopp«, fügte er an, »da wird man übermütig. Wir wollten es einfach noch mal wissen.«
Ulle Möller neben ihm schwieg beharrlich, starrte in sein leeres Bierglas und nickte zu Kruskas wortreichen Erklärungen im Takt. Er schien mit den Tränen zu kämpfen.
Anna wandte sich wieder dem Hornfisch zu, friemelte einzelne Stückchen von der Gräte und aß sie zusammen mit Salzkartoffeln und Gurkensalat, während sie weiter zuhörte. Jemand hatte erfahren, dass Looks' Leiche nach Greifswald in die Rechtsmedizin gebracht worden war.
»So ein Unsinn«, brauste Kruska auf. »Verschwendung von Steuergeldern. Ich habe genau gehört, wie der Notarzt von Herzstillstand gesprochen hat, ausgelöst durch das kalte Wasser und die Anstrengung.«
Was empfand sie selbst eigentlich, überlegte Anna. Sie hatte Looks kaum gekannt und sympathisch war er ihr nicht gewesen. Sie hatten ab und zu ein paar Worte gewechselt, wenn er mit seinen Kumpanen in der Bar gesessen hatte oder sie ihm im Hotel begegnet war. Sie erinnerte sich an anzügliches Grinsen, dreistes Starren auf ihren Busen und plumpe Witze. Offenbar hatte Looks nie kapiert, dass ein übergewichtiger, hypertonischer Mittsiebziger nur mäßig attraktiv auf Frauen wirkte. Auch sein Geld machte ihn keineswegs sexy, denn davon trennte er sich ungern. Looks war bekannt dafür, dass er andere gern animierte, eine Runde zu spendieren. Kam die Reihe an ihn, musste er dringend nach Hause. Schlimm war Looks' plötzlicher Tod natürlich für Lotte Siebert, die unvermutet und ohne Abschied nehmen zu können, ihren Partner verloren hatte.
»Jetzt kommt endlich der Schandfleck weg.«
Anna schrak auf. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass Kurdirektor Sebastian König, der ihr gegenübersaß, sie angesprochen hatte. Sie stimmte zu. Das war bei aller Tragik des Geschehens ein positiver Effekt. Irene Glävke würde Alleinbesitzerin des gesamten Areals werden und ihren Sohn ganz sicher nach Kräften bei seinen Verkaufsplänen unterstützen.
»Glävke wird enorm erleichtert sein«, ergänzte König. »Seine Investoren standen vor dem Absprung. Mit diesem Vorhaben wird Puthagen Anschluss finden an Heiligendamm und Binz und rückt mit an die Spitze der Seebäder.«
»Ja, mitnehmen kann man nichts«, sagte Annas Nachbar zur Rechten, bevor sie nachfragen konnte, um welches Projekt es sich handelte. »Das letzte Hemd hat keine Taschen.«
Und der zur Linken Sitzende raunte hämisch: »Da hat Glävke wirklich Glück gehabt. Der Tod seines Onkels rettet ihn vor dem Bankrott.«
Aus der weiteren Unterhaltung erfuhr Anna, dass Looks' Grundstück Standort für ein Luxus-Wellness-Resort werden solle. Sven Glävke habe eine Investorengruppe angeworben und betreue das gesamte Unternehmen.
Das hieß, Linstow hatte den Zuschlag nicht bekommen.
Wie ärgerlich, dachte Anna. Dann erwarten uns jahrelang Dreck und Lärm und die Konkurrenz direkt nebenan. Aber klar, jemandem wie Egbert Linstow, einem Hamburger, der auf der Insel und an der ganzen Ostseeküste entlang Hotels kaufte wie andere Leute T-Shirts oder Schuhe, wollten die Einheimischen nicht noch mehr Macht verschaffen. Da aktivierten sie lieber ihre eigenen Seilschaften. Anna legte das Besteck über die Reste von Hornfisch und Gräten und schob den Teller zur Seite. Bangemachen galt nicht. Sie würde mit Glävke sprechen, immerhin waren sie seit heute Nachmittag so gut wie befreundet. Er hatte bestimmt Verständnis und ließ sich davon überzeugen, alle Bauarbeiten, die mit einer Belästigung der Hotelgäste verbunden waren, nur in der Nebensaison durchzuführen.
Es gab noch ein paar Reden: Der Kurdirektor sowie die Vorsitzenden des Tourismusvereins und des Klubs für Wirtschaftsförderung würdigten die Erfolge der vergangenen Saison 2009 und wagten optimistische Prognosen für die Zukunft. Dann war der offizielle Teil des Abends beendet.
Anna trat mit anderen hinaus auf die Terrasse. Hinter der Promenade schimmerte das Meer im Dunklen, am Ufer loderte ein Feuer. In das Knacken der Scheite mischte sich das Lachen der Jugendlichen, die an einer Strandbar feierten.
Die Gäste verteilten sich um die Stehtische, Heizstrahler sorgten für angenehme Wärme, der Geräuschpegel schwoll allmählich an. Es wurde gelacht und gelärmt wie sonst auch bei solchen Anlässen, von Trauer war nichts mehr zu spüren. Kellner reichten auf Tabletts Getränke herum. Anna nahm sich ein Glas Rotwein, wanderte von Gruppe zu Gruppe und stellte sich als neue Direktorin des Bellevue vor. Die meisten begrüßten sie freundlich und wünschten ihr Glück für die Saison, einer sagte: »Da haben Sie sich aber was vorgenommen.«
Anna lächelte ihn an, erwiderte: »Ich mag Herausforderungen«, und spazierte weiter.
Wo immer es möglich war, versuchte sie die Anwesenden von ihrer Idee für die Kulturtage zu begeistern. Sie schwärmte von vollen Hotels und Sälen in der Nachsaison; von Puthagen als Topreiseziel für Menschen, die Lesungen, Ausstellungen, Schreibseminare und Malkurse besuchen wollten. Die Hitze stieg ihr in den Kopf und sie gestikulierte so heftig, dass die Gläser auf dem Stehtisch in Gefahr gerieten. Sie habe schon bei den Verlagen angefragt, um Bestsellerautoren wie Nele Neuhaus, Daniel Glattauer und Frank Schätzing zu gewinnen, erzählte sie und nannte außerdem die Namen der Künstler, die die Praxiskurse leiten sollten. Einige der Zuhörer ließen sich von ihrem Enthusiasmus anstecken und nickten bestätigend, andere behielten ihre skeptischen Mienen bei. Die würde sie überzeugen, wenn sie beim nächsten Treffen der Gesellschaft für Inselmarketing ihr Konzept ausführlich vorstellte.
Den Tisch mit den Alten hob sie sich bis zuletzt auf. Dort stand natürlich Kruska. Er brach seine Rede ab, als sie dazu trat.
»Wie schmeichelhaft, dass Sie uns auch noch die Ehre geben«, sagte er mit der für ihn typischen Mischung aus Arroganz und Jovialität, die Anna so hasste. Dabei wandte er sich ihr zu und berührte mit der Hand ihre Schulter, sodass es wirkte, als schöbe er sie in die Runde. Sie spürte, wie sich ihr Rücken versteifte. Bevor sie sich vorstellen konnte, erklärte Kruska: »Das, meine Herren, ist Anna Schwanitz, die jetzt angetreten ist, mein Hotel zu leiten.«
Anna trat einen Schritt zur Seite. Sie kam sich vor wie eine Grundschülerin, die der Lehrer nur deshalb an die Tafel bittet, um sie vorzuführen. Dass er sie für ungeeignet hielt, diese Aufgabe zu meistern, klang unterschwellig sehr deutlich mit. Und wieso überhaupt sein Hotel? Er selbst hatte die finanzielle Schieflage zu verantworten, die ihn zum Verkauf gezwungen hatte. Am klügsten war es, das zu ignorieren.
Sie lächelte reihum, hob ihr Glas und sagte: »Auf gute Zusammenarbeit.« Die Männer prosteten ihr zu, wenngleich neben Kruska auch einige andere weiterhin kritisch blickten.
Mit Misstrauen reagierten sie auch auf das Kulturprojekt.
»Ob das nicht zu anstrengend wird für Lotte und Irene?«, gab Kruska zu bedenken. Er sprach nicht Anna an, sondern die Runde. »Lotte Siebert und Irene Glävke betreuen seit vielen Jahren den Literaturkreis im Bellevue. Damit dürfte der Bedarf an solchen Treffen gedeckt sein.«
Ein Teil der Umstehenden nickte energisch.
Dieser Ignorant. Glaubte Kruska tatsächlich, sie würde die beiden Damen in ihre Pläne einbeziehen? Anna kannte den besagten Literaturkreis, zu dem regelmäßig vier bis sechs ältere Frauen kamen, um zu tratschen und Gedichte und Geschichten zu verfassen, die von »früher war alles besser« schwärmten und »Strand« auf »Sand« reimten. Die Veranstaltung stand ganz oben auf...
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