Die Sonne schien schon seit dem Morgen mit voller Kraft, was für Anfang April erstaunlich war. Olivia Becker steckte ihre Jacke in die orangefarbene Kuriertasche und prüfte den Sitz ihrer Haare. Der Zopf wippte unter einem schnellen Schritt von rechts nach links, und obwohl sie ihre Haare zurückgebunden hatte, lief ihr der Schweiß den Nacken herab. Olivia hob den Blick, verzog das Gesicht und eilte durch das Tor des weißen Gartenzauns. Dahinter erhob sich ein typisches Vorstadthaus. Eines der letzten in dieser Zeit. Zwei Etagen, Blümchengardinen und der obligatorische, Schatten spendende Baum vor der Terrasse. Olivia hatte weit rausfahren müssen, aber der Kerl zahlte echt gut. Ihr Rad hatte sie an der letzten Ecke vor diesem Viertel abgestellt. Auch wenn die Bewohner dieser Gegend Olivias Dienste in Anspruch nahmen, hieß das nicht, dass sie ihre etwas sonderliche, abgeranzte Art gut fanden. Und das Rad, mit seinem ausgefransten Sattel und fehlenden Schutzblechen, fiel offensichtlich unter die Kategorie »sonderliche Art«. Sie hielten die Illusion aufrecht, sagte Diana immer. Liv war eher der Meinung, dass sie eine ziemliche Macke hatten. Solange sie allerdings noch Geld besaßen, war es Olivia egal sein. Vor der Tür blieb Liv stehen, drehte sich nochmal um und ließ ihren Blick über den Garten gleiten. Hier schien jemand viel Wert auf einen akkuraten Rasenschnitt zu legen. Kleine rosablühende Pflänzchen wuchsen an der Gartenzaun-Innenseite und Olivia konnte keine einzige verblühe Knospe erkennen. Selbst die rote Hundehütte sah aufgeräumt aus. Olivia hatte das Gefühl, in einer anderen Welt gelandet zu sein. Wer hatte denn noch genug Wasser, um seine Blumen zu gießen? Das könnte ein interessanter Besuch werden. Auf ihr Klopfen hin erklangen Schritte im Inneren. Die Tür öffnete sich und Liv erblickte das Lächeln eines gut gekleideten Mannes. Möglichst unauffällig musterte sie ihn. Hellblaues Hemd, gepaart mit einer weißen Leinenhose. Dazu Leder-Slipper und eine teuer aussehende Uhr. Seine blonden Haare standen im Kontrast zu den dunkelblauen Augen, die fröhlich strahlten, als würden sie sich über Olivia freuen und nicht über das, was sie ihm brachte.
»Komm rein, meine Hübsche! An so einem heißen Tag sollte niemand lange draußen herumstehen! Ich bin Manuel, freut mich, dich kennenzulernen.« Er zwinkerte und führte sie in ein kleines Wohnzimmer. Mit dem Kopf deutete er auf einen wildgemusterten Sessel, auf den sich Olivia so vorsichtig wie möglich hinsetzte. Ihr Po berührte knapp die Kante. Eine falsche Bewegung und sie würde herunterrutschten.
»Du bist also jetzt die Neue?«, fragte Manuel aus Richtung eines anderen Raumes. Dankbar, eine Ausrede zu haben, warum sie nicht länger sitzen bleiben konnte, sprang Olivia auf und stellte sich an das Fenster. Sie klopfte sich etwas Staub von der Hose und hoffte, dass der Mann, Manuel, es nicht sah.
»Jap, Olivia. Immer da, wenn man mich ruft.« X hatte sich nicht genau ausgedrückt, ob sie diese Tour öfters fahren sollte, aber da ihr Vorgänger schon ein paar Aufträge nicht ausgeführt hatte, ging sie davon aus, dass Manuel nun zu ihrem Kundenstamm gehörte.
»Toll. Du siehst eindeutig besser aus als dein Vorgänger. Seltsamer Mann war das. Was wohl mit ihm passiert ist?« Manuel kam wieder in das Wohnzimmer. Auf seinen Händen balancierte er zwei Gläser und einen Krug mit Eistee. Er sah Olivia am Fenster stehen und deutete abermals auf den Sessel.
»Bitte, setz dich.« Er reichte ihr ein eiskaltes Glas Tee und Olivia trank erst einmal einen großen Schluck. Sie genoss die Kühle, die langsam ihren Hals hinabrann. Langsam stellte sie das Glas auf den Tisch und holte aus der Kuriertasche einen braunen Umschlag.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist es ihm zu heiß geworden.« Olivia reichte ihm den Umschlag und lächelte. Die Tasche legte sie auf ihre Oberschenkel. Durch den Stoff ihrer Jeans schimmerte die helle Haut.
»Bunt«, kommentierte er und drehte ihn in den Händen.
»Umschläge werden mehrmals genutzt. Das rote ist das Aktuelle.«
Manuel nickte und schob seinerseits einen unbenutzten Umschlag über den Tisch. Olivia sah hinein und nickte ebenfalls. Niemals vor dem Kunden das Geld zählen, das war eine Regel, die sie als Erstes gelernt hatte. Sie trank ihren Eistee leer, während Manuel etwas von einem Strand erzählte.
Nachdem Olivia wieder vor die Tür getreten war, fühlte sie sich in ihrer eigenen Welt angekommen. Eine schmutzige, düstere Welt, geprägt durch Gewalt und Verluste. Eine Welt ohne Gefühle, denn die sorgten dafür, dass man ausgebremst wurde. Und dann war man schon so gut wie tot.
Die Sonne schien noch heißer, über dem Asphalt flirrte die Luft und der Sattel ihres Fahrrads glühte unter ihrem Hintern. Da half auch der Fahrtwind zur Station nicht, zudem es mit dem auch schnell vorbei war, als sie in die ersten Ausläufer der Stadt einbog. Menschen über Menschen. Olivia war froh überhaupt noch fahren zu können, denn ihr Ziel war nicht gerade in der Nähe. Die Essensstation lag in einem ehemaligen Vorort, relativ nah an der Stadt, aber weit genug entfernt, um dem Stadtkern aus dem Weg zu gehen. Wie übervoll es dort von Menschen war, wollte sie sich gar nicht vorstellen.
In einer besseren Zeit war die Essensstation eine Grundschule gewesen. Eine kleine Treppe führte in einen Vorraum, der die Ausmaße einer Vierzimmerwohnung hatte. Rechts führten früher drei Türen in Klassenräume, links in ein kleines Büro. Das Büro war nun die Küche mit einer abschließbaren Tür. Der Rest war ein einziger, großer Raum, in dem stehend gegessen werden konnte. Neben der Küche führte eine geschwungene Treppe ins erste Obergeschoss. Olivia und ihre Tante hatten dort je ein Zimmer, dazu ein Bad und ein Raum, wo verschiedenste Dinge gelagert wurden.
Damals gab es einen gepflegten Hof mit einem Spielplatz, einer Turnhalle und das alles inmitten eines idyllischen Dörfchens. Nun führte eine Straße an der Station vorbei. Hof und Spielplatz waren Fußwege und Rastplätze in einem. Die Turnhalle war einem Wohnhaus gewichen, genau wie der Schulgarten.
Hinter dem roten Backsteingebäude wurden die Häuser so nah herangerückt, sodass um das ehemalige Schulgebäude nur ein enger Weg führte, der hinten durch ein Tor gesichert war. Das war allerdings meistens geöffnet, damit der Müll geholt werden konnte, was seinen Sinn zunichtemachte.
Das Gebäude gegenüber glich eher einer Ruine, Typ »Einsturz gefährdet«. Der Putz bröckelte von den Wänden, Fensterläden waren heruntergeschlagen und lagen nun auf dem Fußweg, sodass sie Ratten als Unterkunft dienten. Früher brachten Eltern ihre strahlenden Kinder in die mit Bildern verzierte Schule, auf dass diese etwas lernten. In der Pause spielten sie Fangen oder kletterten auf den kleinen Gerüsten. Nun saßen die abgemagerten Kinder neben ihren Eltern, schauten aus großen Augen auf das Gebäude und warteten, bis es etwas zu essen gab. Sie lachten nicht mehr.
Gerade wollte Olivia ihr Rad die kleine Treppe hochtragen, als ein Tumult auf der Straßenseite ihre Aufmerksamkeit erregte. Das Rad lehnte sie ans Geländer und drehte sich um. Sie schubste die vielen Leute auf dem Weg zur Seite und kämpfte sich bis an den Straßenrand vor. Aus dem gegenüberliegenden Hauseingang fiel eine ältere Frau, gefolgt von zwei jungen Männern, die ihr beim Aufstehen halfen. Olivia kannte die Frau, eine freundliche Südländerin.
Sie war ein paar Mal in der Station essen gewesen. Nun stützen die Männer sie, während ein älterer Herr ein junges Mädchen auf seinen Armen heraustrug. Es schrie und spuckte auf den Weg. Der Mann nickte den Jüngeren zu und gemeinsam gingen sie die Straße herunter Richtung Zentrum. Als sie in der Menge verschwunden waren, sah Olivia wieder zu dem Haus. Männer mit orangefarbenen Helmen und einem Plan in der Hand standen davor und sahen hoch zum Dach. Sie drehte sich um und verschwand samt Fahrrad in den Schatten der Station.
Eine Baustelle direkt vor dem Haus, genau das hatte Olivia noch gefehlt.
Es heißt, in Träumen fliehen wir vor der Realität. Wir tauchen in eine andere Welt ein und setzen uns mit dem auseinander, was uns beschäftigt. Sehnsüchte, Ängste, Sorgen - viele Träume verblassen beim Aufwachen, viele graben sich so tief in unser Gedächtnis, dass wir sie nicht so schnell vergessen. Vergessen können.
In ihren Träumen war Olivia in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. Verfolgt von ihren eigenen Dämonen, die sie nie erreichen konnten, aber auch niemals verschwanden.
Ein Keuchen weckte Olivia aus einem dieser Träume. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass es ihr Eigenes war. Mal wieder wurde sie von einem Alptraum gequält, saß nun in einem völlig zerwühlten Bett und rang darum, wieder Kontrolle über ihr aufgewühltes Innerstes zu erhalten. Immer die gleiche, wiederkehrende Szene: Ihr Elternhaus, schwarze Männer, Schreie. Sie schlug mit der Faust auf die Matratze ein und fluchte. Diese Träume zerrten an den Nerven. Acht Stunden Schlaf, und Olivias Körper fühlte sich an, als wäre er durch einen Fleischwolf gedreht worden. Die Muskeln schmerzten und die Lunge verlangte nach mehr Sauerstoff, es fühlte sich an, als würde Liv ersticken. So hatte sie sich zuletzt am ersten Tag auf dem Rad gefühlt. Von einem Ende...