Schweitzer Fachinformationen
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September 2019
Selbstmörderburg, so nannten die Friedrichsfelder das Hochhaus am Wald. Drei Menschen waren hier vor langer Zeit vom Dach gesprungen. Frau Hanke aus dem vierten Stock sprach oft und gern davon. Sie war es auch, die die kleinen schwarzen Käfer entdeckt hatte.
Sie tauchten auf, nachdem der Mann ohne Gesicht verschwunden war. Die Kinder, die draußen spielten, nannten ihn so, weil sein Gesicht einer zerstörten Maske glich. Sie hatten Angst vor ihm. Wenn er kam, rannten sie kreischend davon.
An einem Donnerstag, einem heißen Tag Ende August, da sah Frau Hanke den Mann zum letzten Mal. Er schlurfte mit seinem Gehwagen die Straße entlang und ging zum Kiosk, um sich die »Oderzeitung« und zwei Brötchen zu kaufen.
»Die Käfer sind mir erst am Abend aufgefallen, auf meinem Fensterbrett. Auf dem Fensterbrett unter mir war auch schon alles voll! Am anderen Morgen waren sie ja überall, auf den Müllcontainern, auf den Fahrradständern und sogar im Sandkasten auf dem Spielplatz, ekelhaft!«
»Die Käfer haben nichts damit zu tun«, unterbrach Herr Schmidt von der Kripo Frau Hankes Redefluss.
»Ach nee! Und ich dachte, es hat was mit der Leiche zu tun!«
Herr Schmidt überhörte es. »Donnerstag. Sie haben also Herrn Grams am 29. August das letzte Mal gesehen.«
»Ich glaub schon! Grams? Hieß der so? Ich kannte den gar nicht, er wohnt ja erst seit Mitte August hier.«
Herr Schmidt reichte ihr seufzend seine Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch was einfällt, melden Sie sich bitte, Frau Hanke.«
Hinter den Gardinen wisperte und raschelte es. Zwei Männer in weißen Schutzanzügen betraten gerade das Haus. Im vierten Stock flatterte Absperrband am Treppengeländer. Eine Wohnungstür stand weit auf, vom Hausflur aus konnte man bis ins Wohnzimmer schauen. Auf dem Boden lag der tote Holger Grams, er hatte sich an der Heizung erhängt.
»Wenn ich so aussehen würde, dann hätte ich mich auch erhängt«, sagte einer der Männer in Weiß.
»Halt die Klappe!« Sein Kollege riss sich den Mundschutz herunter. »Ich muss hier raus.«
Herr Schmidt beugte sich über den Toten. »Eindeutig Suizid. Routinemäßig Pathologie. Der Wagen kommt gleich, ihr könnt abziehen.«
Sein Blick glitt durch den Raum. Auf einem Tisch standen eine rote Thermoskanne und ein Kaffeebecher. Daneben lag ein Exemplar der »Oderzeitung«.
Herr Schmidt kannte den Fall, der dieser Zeitungsausgabe die Schlagzeile geliefert hatte. Fast jeder in Friedrichsfeld und Umgebung wusste, was vor einigen Wochen in Creywitz passiert war.
Sehr schnell sollte die Sache nun vor Gericht kommen. Von einem Herrn Graf war die Rede, einem Herrn Graf, der so hieß, aber keiner war.
Herr Schmidt schaute auf die Zeitung. Rattenfänger, las er. Ganz schön mutig, dieser Schreiberling. Dafür kann der Graf ihn verklagen, der hat sicher einen guten Anwalt.
Herr Graf hatte seinen Hund auf Holger Grams gehetzt.
Er sah das Bild von Holger Grams, ein Vorher-nachher-Vergleich, wie man ihn aus Frauenzeitschriften kannte, wenn aus grauen Mäusen dank moderner Kosmetik und raffinierter Frisierkunst sexy Ladys wurden. Hier war die Reihenfolge umgekehrt. Bild eins zeigte einen gut aussehenden Mann Anfang sechzig mit ebenmäßigen Zügen, Bild zwei ein zerfetztes Gesicht ohne Konturen, das rechte Ohr fehlte. Ein schwarzer Balken verbarg die Augen. Das einzig Schöne im zerstörten Antlitz des Holger Grams, was ihm vermutlich geblieben war, seine blauen Augen, hatte man aus Gründen des Datenschutzes unkenntlich gemacht.
Herr Graf würde Schmerzensgeld zahlen müssen, las Herr Schmidt. Und dabei würde es nicht bleiben. Ferner werde Holger Grams' Tochter weiterhin vermisst. Herr Grams behaupte, Herr Graf habe damit etwas zu tun. Sie sei seine Freundin gewesen, habe sich aber im Frühjahr von ihm getrennt.
»Eine heiße Geschichte«, murmelte Herr Schmidt. Er schaute auf seine Uhr. Es war siebzehn Uhr dreißig, unten fuhr gerade der Leichenwagen vor.
Zwei Aufgänge weiter stand eine Frau am geöffneten Fenster. Ihr Haar leuchtete in der Abendsonne rot wie eine Feuerlohe, ihr Gesicht war sehr blass. Auf dem Rücken ihrer Nase blühten Sommersprossen. Ihre mandelförmigen grünen Augen erinnerten an einen Fuchs, einen schlauen Fuchs, der sich nicht so schnell hinters Licht führen ließ.
Laura Wieland hatte ihre Kindheit in dieser Kleinstadt verbracht. Vor zwanzig Jahren war sie nach Berlin gezogen und eigentlich wollte sie nie zurückkommen.
Die kleine, zierliche Gestalt lehnte sich weit hinaus. Ihr Blick schweifte über den Parkplatz, wanderte hinüber zum Einkaufszentrum und verweilte am Rande des Waldes. Es duftete nach Kiefern. Irgendwo schrie ein Vogel, nebenan öffnete sich die Haustür, Männer trugen einen Sarg hinaus.
»Konrad! Komm mal her, ein Leichenwagen, das bringt Glück!«
Ihr Mann kam brummelnd aus den Tiefen der Wohnung herbei.
»Was ist los, Schnecke?« Er legte seinen Arm um ihre Schultern, sie schmiegte sich an ihn.
»Ach Schnecke! Du mit deinem Aberglauben.«
»Aber das hat meine Oma immer gesagt! Und es stimmt! Erinnerst du dich? Damals, am Tag, als ich erfuhr, dass ich mit Max schwanger bin, da habe ich auf dem Weg zum Arzt auch einen Leichenwagen gesehen.«
»Leichenwagen hin oder her, ich mach mir jetzt ein Bier auf. Und du, ein Glas Rotwein?«
»Rotwein und Bier? Haben wir doch gar nicht da.«
»Ich war schnell einkaufen, hast du nicht gemerkt, nicht wahr? Und die Pizza, die steht schon im Ofen, die habe ich auch geholt.«
»Ohne dich würde ich glatt verhungern. Aber wir haben ja gar keine Teller! Ich weiß nicht, in welchem Karton die sind.«
Konrad grinste. »Im Handgepäck sind zwei Teller, Tassen, Besteck und zwei Gläser.«
Wie immer, wenn es um das leibliche Wohl ging, hatte er an alles gedacht. Laura wusste das sehr zu schätzen. Und so saßen sie zwischen Umzugskartons, aßen und tranken schweigend, bis sie sagte: »Ich wollte nie wieder zurück nach Friedrichsfeld.«
Konrad kaute, spülte mit Bier nach und schwieg.
»Ich auch nicht«, antwortete er schließlich, »das weißt du doch. Aber wir haben momentan keine Alternative! Es gibt kaum noch bezahlbare Mietwohnungen in den Städten der Region. Sei froh, dass wir hier untergekommen sind.«
Laura stellte ihr Glas zurück. Etwas zu heftig, der Wein schwappte über den Rand. Sie stand auf, um einen Lappen zu holen.
»Ich bin nicht froh, Konrad!«
Sie wischte, wo es nichts mehr zu wischen gab, tief beugte sie sich über den Tisch, ihr Haar fiel ihr wirr ins Gesicht. Dann schaute sie auf und flüsterte heiser: »Wir haben uns vertreiben lassen. Von denen! Das muss man sich mal vorstellen!« Achtlos warf sie den Lappen auf die Tischplatte, ließ sich auf ihren Stuhl fallen und trank hastig einen Schluck Wein.
»Bitte heute kein Drama mehr, Laura! Ich bin total kaputt. Du wolltest nach Creywitz und du wolltest wieder weg. So ist es doch, oder?«
»Ach, jetzt bin ich schuld! Wer hat denn immer gesagt, er will ein Haus auf dem Land haben, ein Häuschen mit Garten? Wie der Urvater und so weiter und so fort! Du doch! Du hast gesagt, Berlin mit Kindern, das passt nicht! Und jetzt bin ich ganz allein schuld. Du weißt, ich wollte es auch wegen der Kinder. Damit sie endlich mal was anderes kennenlernen als Spielplätze voller Hundekot und Glasscherben! Damit sie sehen, dass es da draußen viel schönere Dinge gibt als Einkaufszentren! Hast du vergessen, dass die Dealer anfingen, im Viertel herumzustreichen? Und nun bin ich schuld!«
Hastig lief sie im Raum hin und her, viel Platz hatte sie nicht zwischen den Umzugskartons. Sie stieß sich prompt, fluchte und schwang sich schließlich auf das Fensterbrett. Da hockte sie nun wie ein kleiner rothaariger Troll und schleuderte wütende Blicke.
Ich liebe diese Frau, dachte Konrad. Besonders, wenn sie wütend ist. Aber jetzt darf ich nichts Falsches sagen, sonst geht das ewig so weiter. Stress hatten wir heute genug.
Er stand auf, ging zu ihr und strich ihr sanft das Haar aus der Stirn.
»Keiner von uns ist schuld«, sagte er leise. »So was weiß man doch nicht vorher. Wir hatten einfach Pech, Laura. Nun sind wir hier und wir werden das Beste draus machen. Es muss ja nicht für immer sein. Morgen holen wir die Kinder. Alles wird gut.«
Laura umarmte ihn. »Ja, natürlich wird alles gut. Wir werden das schon hinkriegen. Bisher haben wir immer alles geschafft. Ich bin nur froh, dass wir das Haus noch nicht gekauft hatten.«
»Das war so abgemacht, erst mieten, dann eventuell später kaufen. Außerdem zahlen wir hier dreihundert Euro weniger Miete und zwei Autos brauchen wir auch nicht mehr. Ich muss nur um die Ecke gehen, dann bin ich auf Arbeit. Weißt du, was wir da alles sparen?«
»Ach Konrad, du musst mir jetzt nichts schönreden. Ich denke, wir haben es richtig gemacht. Allein der Kinder wegen.«
»Laura, überall gibt es irgendetwas, du kannst sie nicht in Watte packen. Aber hier haben sie wenigstens eine Oma vor Ort.«
»Ich bin gespannt, wie meine Mutter mit ihnen zurechtgekommen ist. Mit Ronja versteht sie sich ja gut, aber mit Max?«
»Da mach dir mal keine Gedanken, die wissen genau, dass sie sich bei Oma benehmen müssen. Ich finde, ein wenig mehr Konsequenz würde ihnen ganz guttun.«
»Ach, fängst du jetzt auch schon so an wie meine Mutter?«
»Laura, komm, lass es gut sein.«
»Ja, ist ja gut! Max ist nun mal besonders, das weißt...
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