Einführung
Eine Generation nach seinem Tode ist Alban Berg ein Klassiker der modernen Musik. Waren seine Werke zu Lebzeiten äußerst umkämpft und hatten etwa seine Orchesterlieder 1913 - im selben Jahr wie Strawinskys «Sacre du Printemps» in Paris - den heftigsten der vielen berühmten Wiener Konzertskandale veranlasst, so gehört er heute zu den wenigen widerspruchslos anerkannten Musikern des 20. Jahrhunderts. Seine Kompositionen, früher vom überwiegenden Teil des Publikums als «revolutionäre Barbarei» abgelehnt, stehen im Repertoire - ja, sie zeichnen sich, von uns mit Abstand betrachtet, gerade durch ihre konservativen Züge aus. Berg legte, wie sein Lehrer Arnold Schönberg, «nicht so sehr Gewicht darauf, ein musikalischer Bauernschreck zu sein, als vielmehr ein natürlicher Fortsetzer richtig verstandener, guter, alter Tradition!»[1]. Freilich gehörte er, was die Anwendung neuester künstlerischer Mittel betraf, durchaus zur Avantgarde. Aber das war nicht das Entscheidende. «Modernität» - selbst wenn es sich bei ihr um bahnbrechend Neues wie Bergs kompositionstechnische Methoden handelt - ist nie eine Garantie für Qualität; sie wird reizlos, abgestanden und gehört wie jede Mode nach einer Saison zum alten Eisen. «Was einmal erfunden ist», sagt Ernst Bloch dazu, «hat für spätere Zeiten jedes Interesse im Problemzustand verloren, sofern es nicht mehr als ein technisches Problem war; das wahre Sosein der großen Musiker wird also durch die Geschichte der musikalischen Technik nicht bestimmt.»[2]
Berg hat sich zwar zeitlebens um technische Fragen bemüht, er gehörte zum Typus des gelehrten, zur Spekulation neigenden Musikers (das zeigen schon seine analytischen Arbeiten über fremde und eigene Werke); aber Analyse, Technik, Theorie waren nie Selbstzweck - sie wurden ihm überhaupt nur interessant, weil er den Wunsch hatte, gute Musik zu machen[3]. Gute Musik muss natürlich auf bestem handwerklichem Niveau basieren, aber sie muss darüber hinaus auch - darin dachte Berg ganz romantisch - echt empfunden sein und ihrerseits seelische Empfindungen hervorrufen können: . das ist ja das Schönste, was man einem Stil nachsagen kann, auch dem musikalischen: daß man fühlt, wie der Schöpfer daran warm geworden ist.[4] Also könnte man Luthers schönes Wort über Josquins Musik, sie sei «wercklich und lieblich» zugleich, auch als Maxime über Bergs eigenes Musikdenken stellen.
Kriterium dessen, was gute Musik sei, war für ihn nicht etwa - wie für manche orthodoxen Ästhetikapostel - das dünne Destillat irgendeiner Doktrin, sondern es war die ganze lebendige abendländische Musik, so wie er in ihr aufgewachsen war und wie er sie vor sich sah: Bach, Mozart, Schubert, Bruckner und ganz besonders Beethoven, Brahms und Mahler waren ihm die sakrosankten Meister einer unantastbaren Tradition. Um das Besondere hieran zu erkennen, mag der Hinweis genügen, dass andere Komponisten des 20. Jahrhunderts wie Hindemith, Strawinsky oder etwa die französische Gruppe der «Six» um Jean Cocteau sich zunächst bewusst gegen die jüngste Tradition stellten und gerade aus deren Ablehnung zu neuem Ausdruck fanden. Für Berg dagegen, wie für die ganze Schönberg-Schule, gab es keinen Bruch am Ende der Spätromantik.
Natürlich hatte er - historisch, durch eigene Veranlagung und Entwicklung bedingt - besondere Vorlieben, wie Wagner, und weniger starke Neigungen, etwa zur italienischen Musik des 19. Jahrhunderts. Aber im Ganzen stand Berg innerlich offen und voller Verehrung den verschiedenen Epochen und Stilen der Musikgeschichte gegenüber.
Dieselbe Haltung kennzeichnet auch seine Einstellung zu den Zeitgenossen: Dem Meister Schönberg und dem Freund Webern gilt seine unendliche, höchste Liebe, aber er schätzte und liebte auch die Werke so verschiedener Musiker wie Debussy, Strauss, Reger und Ravel, Malipiero, Bartók und Strawinsky.
Die Wurzel solcher künstlerischen Toleranz, dieser Anerkennung vor dem Werk anderer, lag in seiner Großzügigkeit allen Mitmenschen gegenüber. Wer noch Gelegenheit hat, Alban Berg nahestehende Personen nach ihm zu befragen, wird einhellig die Erinnerung an einen besonders liebenswürdigen, vornehmen und wahrhaft humanen Menschen vernehmen.
Mensch und Leistung, Leben und Werke - diese übliche Trennung will hier nicht recht passen; beides ist bei Berg enger als gewöhnlich ineinander verwoben. Er war stets bemüht, ganz seinem Werk zu leben; dieses andererseits ist hartnäckigsten Widerständen einer labilen Gesundheit, einer äußerlich kaum je für einen längeren Zeitraum gesicherten Existenzgrundlage und einer meist künstlerisch - später auch politisch - feindseligen Öffentlichkeit abgerungen. Glaubte er doch, daß die Leistung wichtiger ist als der Mensch. Vielleicht ist er überhaupt nur «zu pflegen», um das Höchste an Leistungen aus ihm herauszubekommen. Wenigstens war dies immer der einzige Grund, warum ich etwas für meine Gesundheit tat.[5] Die eigentliche Verwirklichung des künstlerischen Menschen in seinem Werk, die hier postuliert wird und für die die große Kunst der Vergangenheit Maßstäbe gesetzt hat, bedeutete einen hohen Anspruch Bergs an sich selbst. Das Verantwortungsgefühl, das er dabei gegen die Tradition empfand, bewirkte der eigenen Arbeit gegenüber strengste Selbstkritik. Ich will jetzt endlich zu komponieren beginnen. Wie wird es gehn? Ich habe - wie vor jeder Arbeit - geradezu Angst davor!, heißt es in einem Brief an Webern.[6] Um den künstlerischen Anforderungen, die er an sein eigenes Schaffen stellte, zu entsprechen, hat er während der Arbeit immer wieder korrigiert, verworfen und ausgefeilt. Eine Passage, ein Werk musste ganz ausgehört sein; selbst noch bei Reinschrift eines Stückes wurden Änderungen vorgenommen; trotzdem hatte er nach jeder vollendeten Arbeit Zweifel an der Güte derselben[7], und er bekannte noch anlässlich der Lulu, er arbeite so wie immer: also langsam[8].
Damit sind die Gründe für eine erstaunliche Tatsache angedeutet: Alban Berg ist wohl der einzige Komponist von Rang, dessen Gesamtouvre kaum ein Dutzend Werke umfasst. Er selbst hat, wie es heißt, weil er sich schäme, in so langer Zeit nur so wenig hervorgebracht zu haben[9], nach dem Wozzeck op. 7 keine Werkzählung mehr vorgenommen. Dieses Wenige aber gehört nun ohne Ausnahme zum Bedeutenden, was musikalisch im 20. Jahrhundert geschaffen wurde, und - doppelt ungewöhnlich - es hat sich auch beim Publikum in vergleichsweise hohem Maße durchgesetzt. Wozzeck und Lulu gehören zum festen Bestand der Opernspielpläne, das Violinkonzert ist das am häufigsten aufgeführte und auf Schallplatten eingespielte neuere Konzert, die Lyrische Suite steht im Repertoire jedes ambitionierten Streichquartetts. Es stellt wohl ein einmaliges Phänomen dar, dass ein Komponist mit rund der Hälfte seines Gesamtwerks im heutigen Musikleben vertreten ist, zumal Bergs Kunst nicht «eingängig», sondern schwer zu spielen und zu hören ist und wenig aufweist, was breitere Popularität vermuten ließe.
Diesem Werk und seiner Entstehung gilt die vorliegende Monografie. Sie möchte eine Orientierungshilfe bei der Begegnung mit Alban Berg geben; sie kann und will die grundlegenden und unumgänglichen Arbeiten, denen sie in vielem verpflichtet ist, nicht ersetzen, sondern möchte gerade zu ihrer Lektüre wie zu jeder gründlichen Beschäftigung mit Bergs Kunst anregen:
Willi Reich schrieb 1937 unter Mitarbeit von Theodor W. Adorno und Ernst Krenek die erste Berg-Biografie[10], in grundlegenden Analysen vor allem die Werke betrachtend, worauf 1959 ein kleines Bändchen[11] und 1963 wieder ein größeres Buch[12] folgten, in denen nun vor allem die Persönlichkeit Bergs im Vordergrund stand. Alle Arbeiten Reichs gehen auf sein Studium bei Berg zurück und haben den Vorzug der Authentizität, besonders da einige Analysen unter Bergs Anleitung verfasst wurden. Reich war als enger Vertrauter seines Lehrers schon früh als dessen Biograf ausersehen und hat sich als treuer Vorkämpfer für seine Musik hohes Verdienst erworben. Freilich - ein jüngerhaft apologetischer Zug fehlt ihm denn auch bis heute nie.
Demgegenüber ist Hans Ferdinand Redlich mit seinem 1957 erschienenen «Versuch einer Würdigung»[13] vor allem bestrebt, den historischen Standort von Bergs Musik klarzustellen und ihren künstlerischen Rang im Rahmen der Tradition analysierend und vergleichend zu kennzeichnen. Sein Buch ist, wenn auch in einzelnen Details fehlerhaft, das nüchternste und analytisch brauchbarste.
Der dritte Hauptautor, Theodor W. Adorno, war als Kompositionsschüler Bergs in ähnlicher Lage wie Reich. Adornos zahlreiche Schriften zur neuen Musik und speziell sein Berg-Buch[14] sind begeisterte Zeugnisse jahrzehntelanger rezipierender und denkerisch nachspürender Erfahrung mit dieser Kunst; zwar aufgrund seiner musiktheoretisch und ideologisch schmalen Basis und seines Jargons zuweilen ärgerlich, aber immer anregend und lehrreich dank des immensen Niveaus seiner Kennerschaft.
Diesen und anderen, später zu nennenden Studien ist unsere Monografie vielfach...