Schweitzer Fachinformationen
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«Die Lieb' am stärksten ist in jenen Herzen, die spät erst ihr Gesetz gelernt.»
Gustav III. in
Ich beschließe es ganz plötzlich.
Der Nelkenduft und der Duft der weißen Fresien kreuzen sich wie zwei ungeplante Küsse.
Die Kirche ist ungeheizt und kalt. Eine verdrossene, noch nicht ganz ausgereifte Frühlingssonne wirft ihre scharfen Strahlen durch das strenge Mosaik der Fenster.
Ich beschließe es, als der zögernde Gesang verebbt ist.
Ich sitze aufrecht und erstaunlich gefaßt auf der harten Holzbank. Die karge Kirche ist wie die Landschaft, wie die schwedische Westküste - hart, aber wahr.
Eine wahre Kirche - von beherrschten Händen gebaut. Von der Mystik und Offenbarung der Religion läßt sich hier nichts ahnen, hier ist nur ein kantiges Jesuskind in zurückhaltendem Mosaik zu sehen, als Fenster in die unberechenbare Außenwelt. Man sieht nur den Kopf des Kindes und die Hände der Jungfrau Maria. Abgearbeitete Hände. Es ist das erste Mal, daß ich die Jungfrau Maria mit abgearbeiteten, beinahe rissigen Händen abgebildet sehe.
Warum sehe ich mich eigentlich um? Eigentlich müßte ich doch nach vorne schauen. Ich müßte meinen Blick auf den Sarg richten, auf den mit roten Nelken und einer sterilen Flut weißer Fresien gleichgültig geschmückten Sarg. Immerhin gelingt es dem unschuldigen Duft der weißen Blumen, den vulgären Farbton und die Banalität der Nelken etwas zu dämpfen.
Ich schaue wieder das Jesuskind an. Den runden neugeborenen Kopf und die abgearbeiteten Frauenhände, die bebend vor Rührung - und ich glaube Liebe - diesen Kopf liebkosen, der noch nicht historisch ist, sondern vorläufig nur neugeboren. Die Frühlingssonne versucht einen neuen trotzigen Angriff auf das Glasfenster. Ein paar Windstöße vom nahen Meer brechen durch den ersterbenden Gesang. Die Winde prallen gegen das Fenster, die ersten weißen Sandkörner wirbeln vom Strand zum Kopf des Jesuskindes hinauf.
Ich fühle, daß ich mich entscheiden werde.
All die schwarzgekleideten Schultern. Viele der anwesenden Männer und Frauen sind jung. Alle blicken nach vorn. Alle heften ihre noch tränenlosen Augen auf den braunen Holzsarg mit seinem rot-weißen Blumenschmuck.
Der Sarg ist nicht schön. Die Blumen sind ebenfalls nicht schön. Aber die nach vorne gewandten Gesichter sind alle sehr schön. Ich zögere. Ich zögere - obwohl ich fühle, daß ich mich bald, sehr bald entscheiden werde. Der Ort ist schlecht gewählt, das ist mir bewußt.
Diese äußerste Tat sollte ich nicht in einer kalten, ungeheizten Kirche an der Küste beschließen.
Zu dieser Stunde sollten meine Gedanken sich nicht mit einer künftigen Tat beschäftigen. Ich sollte lieber den braunen Holzsarg anschauen und mein Gesicht der jungen Witwe in ihrem beinahe schwarzen Pelz zuwenden. Aber da ich weiß, daß die Witwe schon einen anderen Mann liebt, einen anderen als den, der jetzt, «ein letztes Lebewohl» von seinen Freunden und Verwandten erhalten wird, verschließe ich meinen Blick. Ich schaffe es nicht, ihrem Blick zu begegnen.
Das, was ich bald beschließen werde, wird mich von den Augen der meisten isolieren.
Das ist gut. Es ist gut, daß auch meine Augen allein gelassen werden. Es ist gut, daß diese Truppen von Augen, die manchmal auf mich zustürzen, bald Widerstand erfahren werden. Immer noch bin ich imstande, die Augen, die sich so rasch und direkt in meine eigenen hineingelogen haben, zu lieben. Augen, die etwas versprachen, das keine Moral der Welt einzulösen vermag. Als ich gezwungenermaßen entdecken mußte, daß auch die menschlichen Augen eine Sprache übermitteln können, die ebenso treulos ist wie die schändlichsten, verlogensten Worte - das war meine tiefste Enttäuschung. Ich hätte meine Illusion von der äußeren und inneren Reinheit des Auges gern behalten. Aus tiefster Seele hätte ich gewünscht, weiterhin glauben zu dürfen, daß jene Symphonien der Stille, die manchmal aus ganz bestimmten Augen erstrahlten, stets aufrichtiger waren als alle Worte und die raffiniertesten Maskeraden der Menschen. O ja - ich hätte deinen Augen glauben wollen, als sie eine Liebe ausstrahlten, die deine Worte schon zu leugnen begonnen hatten.
Die Erinnerung an deine Augen, die mich mit ihrem bitteren Kelch aus Kälte und Wärme noch ein weiteres Mal beherrschen wird. Die Erinnerung an diesen Kelch ist es, die mich immer hastiger meinem Beschluß zuführt.
Der Pfarrer hat jetzt zu reden begonnen. Er spricht von einem Kampf. Vom Kampf, den der Mann im braunen Sarg aus Edelholz zu kämpfen hatte. Von deinem und meinem Kampf sagt er nichts. Von unserem maskierten Kampf. Der Pfarrer ist ernst, seine Augen sind von der Kargheit der Küste geprägt. Seine Augen, die Stürme, graue Felsen und windumtoste Strände gesehen haben. Augen ohne Gnade.
Er spricht von einem Kampf zwischen Krankheit und Gesundheit. Demnach hat er noch nicht begriffen, daß Krankheit beinahe immer nur ein anderes, schonenderes Wort ist für Lieblosigkeit. Für Mangel an Liebe.
Ich weiß, um was der Kampf ging. Ich weiß, daß dieser Mann erfolgreich und überlegen gegen eine tödliche Krankheit ankämpfte, solange er geliebt wurde. Zwei Monate nachdem seine Frau begonnen hatte, einen anderen zu lieben, starb er. Der Kampf war beendet. Das Spiel war aus. Die kranken Zellen hatten rasch und unmittelbar den Sieg davongetragen. Aber wer wagt es schon, von Mangel an Liebe zu reden?
Der Pfarrer schließt die Augen, seine Stimme klingt verändert. Ein plötzlicher Wind zieht durch seine Stimme. Ein Wind voller Verheißungen und wartender Bäume. Bäume, die wieder Früchte tragen werden.
Dann öffnet er wieder die Augen und sieht die Kinder an. Die beiden Kinder in der vordersten Bank, die schwarzgekleideten Kinder. Ihre blassen, reinen Gesichter. Ein Junge und ein Mädchen. Weiße Baumwollblusen unter den schwarzen Jacken. Die Kinder - die überlebenden Früchte des menschlichen Baumes, des Lebens, das nicht umsonst gewesen ist.
Der Mann in dem braunen Edelholzsarg, der sein Leben nicht umsonst gelebt hat. Die beiden Kinder. Die Frucht eines Menschenlebens. Schmale, beherrschte Gesichter. Keine Tränen. Oder sind es die nächtlichen Tränen, die sich in der leicht angeschwollenen Oberlippe des Mädchens ahnen lassen? Sind es die abgewischten Tränen der Nacht und des Morgens, die auf den Augenlidern und Wangen des Jungen rote Spuren hinterlassen haben?
«Bald wird alles vergessen und vergeben sein», sagt der Pfarrer. «Bald wird alles vergessen sein - ein Menschenleben vergessen wir ja so leicht. Aber die Früchte - die Kinder - bleiben zurück. Wenn alles vergessen ist, werden wir uns an die Kinder erinnern .
Ein Menschenleben vergessen wir so leicht . aber die Abdrücke, die ein Menschenleben hinterläßt, dürfen wir nicht vergessen .»
Der Pfarrer sieht wiederum die Kinder an. Die lockigen Haare des kleinen Jungen sind straff und energisch mit Wasser nach hinten gekämmt. Das Gesicht des Jungen mit den leuchtendblauen Augen macht einen verletzten Eindruck, der in mir den Wunsch erweckt, zu ihm und seiner Trauer, mit der seine Verletzlichkeit noch nicht fertig wird, vorzugehen.
Ein Junge mit straff nach hinten gekämmtem Haar und ein Mädchen mit leicht geschwollener Oberlippe. Die Frucht eines Menschenlebens. Ein Abdruck auf Erden. Die Sinnlosigkeit. Werden wir je irgendeiner Wahrheit näher kommen als der Wahrheit der Verlängerung? Der Verlängerung eines Menschenlebens. Die Wahrheit der Vermehrung und Fortpflanzung. Der Verlängerung unserer eigenen ewigen Fragen.
Wir sterben nicht umsonst. Jemand bleibt zurück, der uns ähnlich sieht und einen ähnlichen Kampf mit ähnlichen Fragen fortsetzt.
Der Pfarrer verstummt. Seine Stimme erstirbt zwischen den abgewetzten Bankreihen, den abgegriffenen Gesangbüchern und den Trauernden in ihren gedämpften, diskreten Beerdigungskleidern.
Nachdem der Pfarrer verstummt ist, beginnt ein Geiger zu spielen. Obwohl ich ihn nicht sehen kann, weiß ich, daß er jung sein muß. Er spielt tastend - aber geschmeidig. Er ist begabt und besitzt die Kühnheit und äußerste Sensibilität des jungen Musikers. Er spielt mit Liebe, spielt für einen toten Mann, den er vermutlich nicht gekannt hat. Vielleicht studiert er Musik und spielt ab und zu auf Beerdigungen, um etwas nebenher zu verdienen.
Darüber weiß ich nichts. Ich weiß nur, daß seine Töne ungewöhnlich aufrichtig und in ihrer Unschuld ungewöhnlich rein sind. Aber wer, um Himmels willen, wer hat das Stück ausgesucht? Wer hat den Mut gehabt, ausgerechnet dieses Musikstück zu wählen? Wie war es möglich, daß jemand dies gewagt hat? Mit dunklen, weichen Bogenklängen strömt Plaisir d'amour durch die karge, strenge Kirche. Die Freude der Liebe - das Glück der Liebe .
Wer hat es gewagt, dieses Musikstück spielen zu lassen, diese Liebeshymne für einen, der an Liebesmangel starb?
Plaisir d'amour, von einem jungen, unverdorbenen Musiker interpretiert. Ich kann ihn nicht sehen, da ich mit meinem schwarzgekleideten Rücken zur Empore sitze. Die Musik drängt sich vor und schafft eine eigene Messe - eine eigene Feierstunde.
Die Musik streicht mit aggressiver Schönheit durch die Kälte, die Feuchtigkeit und durch den unwirklichen Duft der Nelken und umspielt die frischgewaschenen Gesichter der Kinder und den fast schwarzen Pelz der Witwe, um sich schließlich in den aufgebrachten Winden außerhalb der Kirchenmauern und dem dahinterliegenden unerbittlichen Meer zu verlieren. In...
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