1. Das Geheimnis eines Sommertages
Es war ein warmer, sonniger Septembermorgen. Hummelstich, die kleine Gemeinde am Fuße des Kyffhäusergebirges, erstrahlte wieder einmal in spätsommerlichem Glanz. Zwei große braune Hasen hoppelten über die üppig bewachsenen Rübenfelder, und auf den Dächern der niedlichen Häuser tummelten sich Sperlinge in großen Scharen. Die drolligen Vögel zwitscherten vergnügt und waren vor lauter Überschwang vollkommen arglos, so sehr, dass sie nicht einmal die rot getigerte Katze bemerkten, die auf dem Rand eines Schornsteins thronte und sich in Vorfreude auf die baldige Mahlzeit die Pfoten leckte.
Auch die Menschen, die in den Häusern und Gärten ihrem Tagwerk nachgingen, waren so ahnungslos und gutgläubig wie die Spatzen. Selbst nach allem, was sie bereits erlebt hatten, glaubten sie noch immer, dass der Frieden dieses ausgesprochen schönen Tages für alle Zeiten anhalten würde. Niemand dachte mehr daran, dass der idyllische Ort Hummelstich vor einiger Zeit vom Buch der Besten zum Mörderischsten Dorf Deutschlands gekürt worden war. Niemand rief sich mehr die Abgründe in Erinnerung, die sich hinter den Bilderbuchfassaden bereits aufgetan hatten. Dabei war es nur eine Frage der Zeit, wann das Verbrechen erneut zuschlagen würde. Ruhe und Harmonie waren in dieser Gegend nur von kurzer Dauer - das hatte die Vergangenheit oft genug gezeigt.
Auch im Bauernhaus der Familie Grüneis genoss man die friedliche Zeit in vollen Zügen. Gemeinsam mit ihrem Freund Borwin, der ein exzellenter Hobbykoch war, hatten Bea, Sara und Sven einen reichhaltigen Brunch aus verschiedenen warmen und kalten Gerichten vorbereitet. Es gab Omelett mit Schinken, Pfannkuchen mit Blaubeeren und eine große Schüssel Wildkräutersalat, dazu diverse spanische Tapas. Unter den Gästen waren Borwins Lebensgefährte Gabriel, die Pastorin Frederike Neuhaus sowie das Metzgerehepaar Brunhilde und Erwin Meuselböck.
»Ich habe gehört, ihr habt jetzt auch noch Ziegen?«, erkundigte sich die Pastorin.
»Keine Ziegen«, korrigierte Sven. »Lämmer. Drei Stück.«
»Babyschafe«, fügte seine Frau Sara mit verträumtem Gesichtsausdruck hinzu.
Bea lächelte und schaufelte sich Salat auf ihren Teller. »Zuckersüß.«
Frederike Neuhaus schob sich eine Olive in den Mund. »Ich dachte nur, dass ihr euch keine weiteren Tiere mehr anschaffen wolltet?«
»Wollen wir ja auch nicht«, entgegnete Sven und trank einen Schluck Kaffee.
»Die drei standen eines Morgens einfach vor unserer Tür«, erklärte Sara.
Die Gäste tauschten irritierte Blicke.
»Jemand hat sie dort angebunden«, sagte Bea.
Brunhilde Meuselböck rückte ihre monströse Brille gerade. »Jemand setzt Babyziegen aus?«
»Schafe, keine Ziegen«, wiederholte Sven.
Die Metzgersgatti?n zuckte mit den Schultern. »Ist doch fast das Gleiche.«
»Wer macht denn so etwas?«, wollte Frederike Neuhaus wissen.
Bea gab noch etwas Olivenöl auf ihren Salat. »Das versuchen wir herauszufinden. Bislang tappen wir allerdings noch völlig im Dunkeln.«
»Schrecklich, wozu Menschen alles fähig sind«, murmelte Brunhilde und presste sich eine Hand gegen die Brust.
Borwin zwirbelte seinen Schnurrbart. »Auf jeden Fall haben die Lämmlein jetzt ein gutes Zuhause gefunden.« Er sah zu Sven. »Ihr werdet sie doch behalten, oder?«
Nun waren alle Augen auf den Hausherrn gerichtet, der sich mit der Serviette den Mund abwischte.
Sara fuhr sich durchs Haar. »Sag, was du willst, Sven, aber ich gebe die drei nicht wieder her.«
Ihr Mann grinste. »Keine Sorge, Liebling. Ich möchte mich auch nicht von ihnen trennen.« Er zwinkerte und warf Sara eine Kusshand zu.
»Da bin ich echt froh«, rief sie erleichtert aus. »Ich habe schon überlegt, wie ich dich überreden könnte.«
Sven vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir haben schon so viele Tiere, da kommt es auf drei kleine Lämmer mehr oder weniger jetzt auch nicht mehr an.«
Sara fiel ihm um den Hals. »Danke, du bist ein Schatz!« Sie küsste ihn, hielt dann jedoch abrupt inne. »He! Das ist doch sonst immer mein Spruch!«
Alle lachten.
»Euch ist aber schon klar, dass aus kleinen Lämmern einmal große Zie. äh, Schafe werden?«, warf Frederike ein.
»Kein Problem, das schaffen wir schon«, entgegnete Sven mit einem Lächeln.
Bea räusperte sich. »Borwin? Könntest du mir bitte noch ein paar Zweige Rosmarin frittieren? Das schmeckt mir doch immer so gut.«
»Rosmarin?« Borwin kratzte sich am Kopf. »Den muss ich erst aus dem Garten holen. Aber für dich immer gerne.« Er stand auf und wandte sich der Verandatür zu. »Kann einen kleinen Moment dauern.«
»Es eilt nicht«, rief Bea hinter ihm her. »Danke, du bist der Beste!«
Sobald Borwin verschwunden war, steckten Bea und ihre Freunde die Köpfe zusammen.
»Okay, er ist weg. Reden wir kurz über die Party.«
Schon seit Wochen führten sie diese heimlichen Gespräche, denn sie wollten Borwin, der in wenigen Tagen dreiundsechzig Jahre alt werden würde, mit einer ganz besonderen Feier überraschen.
»Ich weiß nicht, ob das nicht doch alles eine Nummer zu aufwendig wird«, meinte die Metzgersgattin. »Ich meine 'Hollywood?. 'Hollywood?! Und das in unserem kleinen und verschlafenen Hummelstich.«
»Für das Motto haben wir uns vor einer halben Ewigkeit bereits entschieden«, hielt Bea dagegen. »Außerdem passt es zu Borwin. Er liebt die alten Hollywood-Filme, und er liebt es, sich zu verkleiden.«
»Ja, das wird ihm mit Sicherheit gefallen«, stimmte Gabriel zu, der sich bisher ausgiebig dem Brunch gewidmet hatte.
Erwin Meuselböck strich sich über den runden Bauch. »Falls ihr je für mich eine Überraschungsparty planen solltet, dann hätte ich als Motto gerne 'Wurst?.«
»'Wurst??« Seine Frau zog die Stirn kraus. »Das hast du doch sowieso schon jeden Tag.«
»Na eben! Von Wurst kann ich nicht genug bekommen.«
Wieder lachten alle.
Gabriel grinste. »Ich habe über meinen Cousin noch so eine uralte Filmkamera samt Stativ auftreiben können. Ist ein Mörderteil.«
»Klasse!«, rief Bea begeistert. »Das nehmen wir natürlich alles als Deko.«
Sara wandte sich Gabriel zu. »Meinst du, er ahnt etwas?«
Der Spanier schüttelte den Kopf. »Nein, er denkt, dass wir seinen Geburtstag ganz in Ruhe und nur zu zweit verbringen werden.«
»Wie weit sind denn die Vorbereitungen der Landfrauen?«, wollte Bea wissen.
Brunhilde berührte erneut ihre riesige Brille. »Alle sind fleißig an der Arbeit. Paula, Hanna und Elsa schneidern die Kostüme. Linda und Greta tüfteln Backkreationen aus. Und Erna und ich basteln noch an der Deko.«
»Prima.« Bea nickte lächelnd. »Wenn ihr meine Hilfe braucht, lasst es mich wissen.«
Die Metzgersgattin winkte ab. »Du hast schon genug hier auf dem Hof zu tun. Und außerdem musst du ja diesen Flegel aufspüren, der die Tiere ausgesetzt hat.«
»Ich hoffe, du findest den Kerl!«, sagte Frederike, und die anderen stimmten ihr zu.
»Wie macht sich Kurt in der Rolle des Ortsvorstehers eigentlich?«, wechselte Erwin das Thema. »Bislang ist er noch kaum in Erscheinung getreten.«
Das war richtig. Seit seiner Wahl und dem Amtsantritt waren knapp zweieinhalb Monate vergangen, in denen Kurt sehr unauffällig geblieben war.
»Geben wir ihm etwas Zeit, sich in die Rolle einzufinden«, sagte Bea und schaute auf die Uhr. »Ich wundere mich, dass er noch nicht da ist. Ich hatte ihn nämlich auch zum Brunch eingeladen.«
»Hallo, allerseits!«
Alle schauten zur Verandatür, durch die erst Kurt und dann Borwin mit dem Rosmarin geschritten kamen.
»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte Sven, der noch immer seine Konflikte mit seinem ehemaligen Vorgesetzten Kurt Pfeiffer hatte.
»Meint ihr mich?« Kurt schaute verdutzt aus der Wäsche.
Bea deutete auf den freien Stuhl neben ihr. »Quatsch, du hast mit dem Teufel etwa so viel gemein wie eine Ziege mit einem Schaf.«
»Du sprichst in Rätseln.« Kurt gab ihr einen Kuss auf die Wange, klopfte auf den Tisch und ließ sich an Beas Seite nieder. Dabei summte er leise eine heitere Melodie vor sich hin.
»Wie kommt es denn, dass du heute so gut gelaunt bist?«, fragte Bea. Sonst war er in letzter Zeit eher ein mürrischer Knurrhahn gewesen.
»Das verrate ich nicht.«
Bea zuckte mit den Schultern. »Dann eben nicht.« Sie wandte sich dem Rest ihres Wildkräutersalats zu.
Für einen Moment war es so still im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
»Also gut, ich sage es dir.« Kurt breitete die Arme aus. »Es könnte sein, dass du demnächst überrascht wirst.«
»Was hast du vor?« Bea schwante nichts Gutes. Hoffentlich war er nicht auf die Idee gekommen, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Auch wenn sie ihn wirklich gern mochte, gestaltete sich ihre Beziehung doch immer wieder als recht schwierig.
Kurt grinste über das ganze Gesicht. »Ich sage nur 'tierische Talente?.«
»Davon haben wir hier reichlich«, warf Sven ein.
Bea musterte Kurt. »Geht es um Dr. Jekyll?« Der Hellrote Ara, der gerade mit seinem Kumpan Mr Hyde im renovierten Papageienzimmer steckte, war ihrer Meinung nach das mit Abstand schlaueste Tier.
»Eigentlich wollte ich, dass du es noch gar nicht erfährst. Aber gut, wenn du so hartnäckig bist .« Kurt straffte die Schultern. »Ich habe euch für die Fernsehsendung Deutschland sucht das Superhaustier angemeldet.«
»Wen hast du angemeldet?«, hakte Bea nach, die glaubte, sich verhört zu...