Schweitzer Fachinformationen
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16. März
Marlene hockte mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa, balancierte ihren Laptop auf den Knien und überflog die morgendlichen Schlagzeilen.
»Sunna-Mörder hat wieder zugeschlagen - drittes Opfer entdeckt«, titelte die »Thüringer Allgemeine«. Unter den fett gedruckten Buchstaben waren die Fotos der Opfer zu sehen - drei lebenslustige junge Frauen, die unbeschwert in die Kamera lächelten, nicht ahnend, welch grauenvolles Ende sie erwarten würde.
Die »Thüringische Landeszeitung« hatte ein großes rotes Fragezeichen als Aufmacher gewählt. »Eisenacher Serienkiller mordet erbarmungslos weiter - Polizei tappt noch immer im Dunkeln«.
Im Gegensatz zum Vortag bestand nun kein Zweifel mehr, dass sich die Taten gegen ehemalige Frau Sunnas richteten. Wie zu lesen war, hatte man alle drei Frauen unbekleidet aufgefunden, und da sich die Polizei aus taktischen Gründen noch nicht im Detail dazu äußern wollte, ging die öffentliche Meinung davon aus, dass es sich um Sexualverbrechen handeln musste. Darüber hinaus war an die Presse durchgesickert, dass den Opfern ein spitzer Gegenstand ins Herz gerammt worden war, von dem bislang aber jede Spur fehlte.
Marlene, der es angesichts dieser brutalen Ereignisse kalt den Rücken hinunterlief, zupfte kurz an ihrem Haargummi herum. Dann scrollte sie weiter.
»Absage des diesjährigen Eisenacher Sommergewinns wird immer wahrscheinlicher«, berichtete die Tageszeitung »Freies Wort« und brachte ein ausführliches Interview mit den Organisatoren der Veranstaltung. Die aktuellen Ereignisse seien das dunkelste Kapitel in der Geschichte des beliebten Volksfestes, teilte der Sommergewinns-Zunftmeister mit, und nur die baldige Ergreifung des Täters könne zumindest einen kleinen Teil der geplanten Aktivitäten, wie das traditionelle Streitgespräch, noch retten.
Auf der Startseite der »Bild« prangten indes die Umrisse einer großen, unförmigen Gestalt, die als eine Mischung aus dem Glöckner von Notre-Dame und Frankensteins Monster hätte durchgehen können. »Eine Stadt in Angst - Wer ist der Sunna-Mörder?«, stand in ausdrucksstarken Lettern darunter.
Es folgten mehrere Berichte von Augenzeugen, die eine riesige, missgebildete Kreatur gesehen haben wollten und, in Verbindung mit einer Auswahl selbst ernannter Experten, die verschiedensten und irrwitzigsten Meinungen über die Identität des Verbrechers zum Besten gaben. So munkelte man zum Beispiel über einen aus einem Versuchslabor entlaufenen Riesenaffen, der es auf junge, knackige Blondinen abgesehen hatte. Diverse Hollywoodstreifen wie »King Kong« und »Planet der Affen«, die unbewusst wohl die Vorlage für diese abstruse Theorie bildeten, führten manche sogar als Beweis an. Das Fernsehen hatte es ihnen prophezeit, und was über den Bildschirm lief, musste schließlich wahr sein.
Andere Stimmen spekulierten wiederum über eine kriminelle fremdländische Vereinigung, die es sich zum Ziel gemacht hatte, die Kultur des Abendlandes zu zerstören. Auch Zigeuner, Muslime und andere Minderheiten wurden verdächtigt. Undenkbar, dass ein Deutscher zu solch barbarischen Taten fähig wäre, lautete ein Argument aus ebenjener Gruppe.
Die Auswüchse der menschlichen Phantasie kannten keine Grenzen. Selbst ein mittels chemischer Substanzen zu einem blutrünstigen Monster mutierter Reinhold Messner wurde in Betracht gezogen. Dass Drogen im Spiel waren, stand für die Mehrheit der Leute jedenfalls außer Frage. Welches Motiv jedoch ein prominenter Bergsteiger haben sollte, als Mr. Hyde ausschließlich Frau Sunnas zu meucheln, das wusste freilich niemand zu sagen.
Mit einer raschen Handbewegung klappte Marlene den Laptop zu und ließ ihn von ihren Beinen auf das Sofa gleiten. Obwohl sie zwei Paar Leggins übereinandergezogen und sich in ihre hellgraue Lieblingsstrickjacke gehüllt hatte, fröstelte sie. Instinktiv griff sie nach ihren Fußgelenken und krempelte die dicken Wollstulpen hoch.
Dann stand sie auf, ging durch das Esszimmer in die Küche und schaltete den Wasserkocher ein. Eigentlich war das ja Hermines Reich, doch die fröhliche Südamerikanerin war gestern Abend zu einer Bekannten aufs Land gefahren, und Marlene war allein zu Hause.
Sie überbrühte sich eine Tasse Roibuschtee und trat ans Fenster, von dem man hinaus in den Park sehen konnte. Was für eine Pracht! Die dicke weiße Schneedecke, die sich über das gesamte Areal gelegt hatte, glitzerte im Sonnenlicht wie allerfeinster Diamantenstaub.
Marlenes Blick wanderte bis zu der Wegkreuzung, wo das Vogelhäuschen stand. Dort pickten eine Amsel und ein Blaumeisenpärchen gerade die Körnermischung auf, die sie regelmäßig nachfüllte. Ein paar Meter weiter hatten die Kinder aus der Nachbarschaft einen neuen Schneemann gebaut. Sie mochten Marlene und wollten ihr damit eine Freude machen. Diesmal war es ein richtig großer Schneemann mit Schal und Möhrennase, einem Suppentopf als Hut und einem alten Reisigbesen im Arm.
Marlene winkte dem lustigen Gesellen zu. Sie mochte den Winter. Die tanzenden Schneeflocken. Die Eisblumen am Fenster. Die sanfte Melodie, wenn der Wind an den Eiszapfen entlangstrich. Während sie ihre Hände an der dampfenden Teetasse wärmte, versank sie immer tiefer in ihrer Gedankenwelt.
Diese Tagträumereien waren der Siebenundzwanzigjährigen längst zur Gewohnheit geworden. Es war eine Schutzhaltung, mit der sie den herben Schicksalsschlag, der sie ereilt hatte, besser verkraften konnte. Vor fünf Monaten hatte ein verheerender Autounfall sie über Nacht zur Waise gemacht. Die Limousine ihrer Eltern war aus noch ungeklärter Ursache von der Straße abgekommen, hatte sich mehrfach überschlagen und war schließlich in Flammen aufgegangen. Das höllische Inferno hatte nichts als Knochen, Asche und ein ausgebranntes Fahrzeugwrack übrig gelassen, sodass die Identifizierung nur noch anhand des Zahnmaterials durchgeführt werden konnte.
Marlenes Eltern waren gerade auf dem Rückweg von einer wissenschaftlichen Tagung gewesen, als der Unfall passierte. Sie galten als Koryphäen auf dem Gebiet der Altertumskunde und überhaupt als die erfolgreichsten Abenteurer und Archäologen ihrer Zeit. Auf ihren Spezialgebieten, zu denen unter anderem das alte Ägypten, die antiken Kulturen des Zweistromlandes und das historische Khmer-Reich gehörten, machte ihnen niemand etwas vor. Bei ihren zahlreichen Ausgrabungen hatten sie haufenweise wertvolle Artefakte mit nach Hause gebracht, wobei die meisten davon als begehrte Ausstellungsstücke in den bedeutendsten Museen der Welt Verwendung fanden. Ihre spektakulärste Entdeckung aber war das Grab eines bis dahin unbekannten ägyptischen Pharaos gewesen - ein Ereignis, das ihnen internationalen Ruhm, finanziellen Reichtum sowie eine ungeheure mediale Aufmerksamkeit eingebracht hatte.
Marlene war mittlerweile in das Wohnzimmer zurückgekehrt, wo sie für einen Moment das goldene Ankh betrachtete, das die Wand einer kleinen Nische zierte. Das altägyptische Henkelkreuz, das als ein Symbol für das Weiterleben im Jenseits stand, hatte eine besondere Bedeutung für sie.
Der Tod ihrer Eltern hatte Marlene verändert. Sie war empfindsamer und ernster geworden, ging nicht mehr so gern unter Leute und wollte oft nur für sich sein.
Sie war froh, dass sie mit dem Familienanwesen einen Ort hatte, an den sie sich jederzeit zurückziehen konnte. Dieses große, wunderbare Haus, in dem so vieles an ihre Eltern erinnerte, dass es ihr manchmal so schien, als würden sie immer noch am Leben sein. Hier, zwischen Tiermumien, Kanopen und Sarkophagen, zwischen Statuen von Göttern und Dämonen, Hieroglyphen und sumerischer Keilschrift, fühlte sie sich geborgen. Die vertraute Umgebung gab ihr Halt und beruhigte sie.
Nie würde sie dieses Haus verkaufen können, unter keinen Umständen und für kein Geld der Welt. Ebenso wenig hatte sie es übers Herz gebracht, den Angestellten, die ihrer Familie seit vielen Jahren treu ergeben waren, zu kündigen. Im Gegenteil, sie hatte ihnen versichert, dass sie sich keine Sorgen um ihre Stellungen zu machen brauchten - wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte sie diese drei Menschen sogar sehr gern um sich.
Hermine, zum Beispiel, die temperamentvolle Köchin, die stramm auf die sechzig zuging, konnte mit ihrem sonnigen Gemüt selbst die trübsten Gedanken vertreiben. Oder der alte Lutz, der als Faktotum Haus und Garten instand hielt und von dem niemand wusste, wann er eigentlich geboren worden war. Obwohl er immer ein wenig griesgrämig dreinblickte und nur selten mehr als zwei zusammenhängende Wörter von sich gab, konnte man sich immer auf ihn verlassen.
Und dann war da natürlich noch Freddy, der Chauffeur, der gern mal ein Schwätzchen hielt und es wie kein anderer verstand, die Leute mit seiner frechen, jugendlichen Art um den Finger zu wickeln.
Das Klingeln des Telefons unterbrach Marlenes Gedanken. Es war Tobias, einer ihrer engsten Freunde, der als Mitorganisator des Sommergewinns gerade gehörig unter Stress stand.
»Hast du die Türen gut abgeschlossen?«, fragte er. »Und die Fenster verriegelt?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Marlene wahrheitsgemäß, obwohl sie eigentlich keinen Grund für diese Maßnahme sah. »Dieses Haus ist wie Fort Knox. Da kommt keiner rein.«
»Das ist gut.« Tobias klang erleichtert. »Keiner geht rein, und du gehst nicht raus. Außerdem habe ich veranlasst, dass die Polizei vor deinem Grundstück Streife fährt und immer mal nach dem Rechten schaut.«
»Meinst du nicht, dass du ein bisschen übertreibst? Ich gehöre doch noch nicht mal zu den ehemaligen Frau...
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