Kapitel 1: Der Rücktritt
Und dann ging's in die letzte Runde.
Dass ich in diesem Rennen aussichtslos weit hinten lag, dass ich keine Chance mehr auf eine Top-Platzierung hatte, war mir längst klar. Ein großes Ziel aber gab es doch: Einmal noch eine Null schießen. Mit den letzten fünf Schüssen meiner Karriere.
Als sich dann alle weißen Klappen über die schwarzen Kreise gelegt hatten und ich die Strafrunde links liegen lassen konnte, als ich wenigstens dieses eine Ziel noch erreicht hatte, da befiel mich ein wohliges Glücksgefühl. Noch einmal ging es die Abfahrt hinunter zum Schießstand, noch einmal den mühsamen Birxsteig hoch. Wie fürchterlich zäh schien mir dieser legendäre Streckenabschnitt am Rennsteig in Oberhof in all den Jahren zu sein. Und wie leicht fiel es mir jetzt an diesem Tag. Ein letztes Mal durch die Sägespäne-Runde. Und hinein auf die letzten Meter zum Zieleinlauf. Zum Finish meiner Karriere.
Schon davor war mir bewusst, dass dies mein letztes Rennen sein würde. Dass es nach der Verfolgung über 12,5 Kilometer an diesem 9. Januar 2021 in Oberhof vorbei wäre mit Biathlon. Aus. Endgültig. Für immer. Und wahrscheinlich war es gut so, dass an diesem Tag wegen der Corona-Pandemie keine Zuschauer dabei waren. Dass die Tribünen leer waren und alles so trostlos wirkte.
Wie oft hatte ich diese phänomenale Kulisse hier schon genießen dürfen. Zehntausende Zuschauer auf den Rängen im Stadion und entlang der Strecke, die grenzenlose Begeisterung der Fans, die Anfeuerungsrufe, der tosende Jubel nach jedem Treffer am Schießstand. Oberhof, das war in den elf Jahren, in denen ich im Weltcup hier war, immer Spektakel. Das war Party. Das war Adrenalin.
Vermutlich wäre es doch sehr emotional geworden, wenn ich diese mitreißende Atmosphäre auch jetzt noch einmal erlebt hätte. Gut möglich, dass mich die Gefühle übermannt hätten und ich sentimental geworden wäre. So aber konnte ich vor dieser bizarren Geisterkulisse entspannt über den Zielstrich laufen. Nein, es war keine Wehmut dabei und auch kein Abschiedsschmerz. Es war ein befreiendes Gefühl und mir war leicht ums Herz. Ich war mit mir im Reinen. Ich wusste, ich hatte alles richtig gemacht. Es ergäbe keinen Sinn mehr, das Ende weiter hinauszuzögern. Noch länger zu warten, mich noch länger unglücklich zu machen und zu hoffen, dass irgendwann alles wieder besser würde. Mir war klar, dass diese Hoffnung vergebens war.
So konnte ich in den Spiegel schauen und sagen: Simon, du hast lange gekämpft und alles probiert. Aber es ging einfach nicht mehr. Es war zwecklos. Und deswegen war es genau der richtige Moment, einer wunderbaren und unvergesslichen Zeit leise Lebewohl zu sagen. Für einen stillen Abschied, der allerdings nicht plötzlich kam.
Dass es zu Ende gehen würde, hatte sich bereits angedeutet. Letztlich markierte dieser Tag in Oberhof nur den Abschluss einer langen, mehr als dreijährigen Leidenszeit, die auch nicht erst mit dem Fahrradsturz im Sommer 2018 begann, bei dem ich mir die Schulter brach und von dem es oft hieß, danach sei ich nicht mehr so richtig in Form gekommen. Die Probleme begannen schon früher.
Angefangen hatte alles im Dezember 2017 in Hochfilzen. Ausgerechnet dort, wo ich keine zehn Monate zuvor mit dem WM-Gold im Massenstart den größten Erfolg meiner Karriere gefeiert hatte. Ich hatte mich sehr auf die Rückkehr dorthin gefreut, und nicht nur der Erinnerungen wegen. Hochfilzen war hinsichtlich des Zuschauerandrangs und des Ambientes zwar eine Hausnummer kleiner und ruhiger als die großen Orte wie Ruhpolding oder Antholz. Aber ich fühlte mich dort sehr wohl. Hochfilzen bedeutete für mich nach den langen November-Lehrgängen im dunklen Skandinavien und dem Saisonauftakt in Östersund als zweite Station im Weltcup eine Rückkehr in vertraute Gefilde. Zurück in Mitteleuropa, in der majestätischen Bergwelt der Tiroler Alpen, rund eine Autostunde von meinem Haus in Ruhpolding entfernt. Hochfilzen war fast ein zweites Heimspiel für mich.
Und auch bei den Einzelrennen lief es in diesem Dezember in Hochfilzen ganz ordentlich. Im Sprint wurde ich Vierter, ebenso wie tags darauf im Verfolgungsrennen. Ärgerlich waren die vier Schießfehler, drei davon gleich im ersten Anschlag, am Ende verpasste ich das Podium um eine halbe Sekunde. Aber das war nicht weiter wild. Ich wusste, ich war zwei Monate vor dem großen Saisonhöhepunkt, den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang, gut in Form.
Doch dann kam der Tag, der alles ändern sollte. Der Tag des Staffelrennens.
Wie so oft war ich auch diesmal Schlussläufer unseres Quartetts. Erik Lesser, Benedikt Doll, Arnd Peiffer und ich, so die Reihenfolge. Als Arnd an mich übergab, lagen wir eine knappe Minute hinter den Norwegern auf Platz 2 und eine gute halbe Minute vor den Franzosen. Alles im Soll. Es war ein sehr windiger Tag, die Bedingungen waren recht schwierig. Beim Liegendschießen hatte ich drei Nachlader; ich blieb fehlerfrei, alles lief ganz solide so weit. Doch dann kam die zweite Runde. Und plötzlich machte mein Rücken zu. Auf einmal, einfach so. Ein Schmerz, der sich zwischen Hals und Hüfte breitmachte und der das restliche Rennen zur Qual werden ließ. Beim Stehendschießen schaffte ich mit drei Nachladern zwar auch eine Null, aber große Freude, auch wenn wir am Ende den zweiten Platz erfolgreich verteidigen konnten, verspürte ich nicht.
Sicher, Rückenschmerzen hatte ich das ein oder andere Mal schon in meiner Karriere. Allerdings war das immer eine Sache von ein paar wenigen Tagen, dann war wieder alles gut. Nur diesmal war es anders.
Nach Hochfilzen ging es gleich weiter in die französischen Alpen, nach Annecy. Das war keiner der traditionellen Weltcup-Standorte, der jedes Jahr im Kalender stand, aber einer, an den ich gern zurückkehrte. Dort herrschte gute Stimmung mit einem begeisterungsfähigen Publikum, egal ob auf der Tribüne am Schießstand oder entlang der Strecke. Auch wenn ich mit einem 4. und einem 5. Platz in Sprint und Verfolgung gut dabei war: Die Schmerzen ließen nicht nach. Weshalb ich um die anschließende Weihnachtspause sehr froh war.
Ich freute mich auf die Erholung und die Regeneration, ließ mich häufig physiotherapeutisch behandeln und war überzeugt, dass ich bis zum Weltcup in Oberhof Anfang Januar wieder ganz der Alte wäre.
War ich aber nicht.
Nach Platz 34 im Sprint fuhr ich wieder nach Hause, und auch in der darauffolgenden Woche beim Heimrennen in Ruhpolding blieben Freude wie Erfolg gleichermaßen überschaubar. Ein 6. Platz im Massenstart, na immerhin. Aber Rückenschmerzen hatte ich noch immer.
Ärzte und Therapeuten beschrieben das Krankheitsbild als sehr komplex, vereinfacht ausgedrückt: Die Nerven, die von der Wirbelsäule wegführen, waren völlig überreizt und strahlten aus. Anders formuliert: Ich hatte nicht mehr das Gefühl, als befänden sich Muskulatur, Gelenke und Nerven hinten locker im harmonischen Flow, sondern vielmehr, als hätte mir jemand Drahtseile eingepflanzt. Die Folge war, dass ich nicht mehr wirklich beweglich war, dass ich mit Hohlkreuz herumlief und auch nicht mehr geschmeidig in die Abfahrtshocke gehen konnte. Auch das Stehendschießen fiel mir zunehmend schwerer. Das fühlte sich alles nicht gut an.
Die unmittelbare Wettkampfvorbereitung in den zwei Wochen vor unserer Abreise nach Korea absolvierte ich daheim unter Leitung von Andi Birnbacher in Ruhpolding. Meine Mannschaftskollegen waren in Hochfilzen, mir war es lieber, zu Hause zu trainieren. Zum einen, um der Höhenlage Hochfilzens aus dem Weg zu gehen und mich mit meinem individuellen Trainingsprogramm vorzubereiten. Zum anderen konnte ich mich so intensiver um meine Rückenproblematik kümmern. Es war ein Ritt auf der Rasierklinge. Einerseits wollte ich mich natürlich zu 100 Prozent auf das bevorstehende Großevent vorbereiten, mit perfekt auf mich abgestimmtem Training und passenden Erholungszeiten. Andererseits war ich in diesen zwei Wochen recht häufig in der Praxis von Dr. Müller-Wohlfahrt zur Behandlung in München. Das war natürlich ein enormer Zeitaufwand, bei einer Fahrtdauer von eineinhalb Stunden von mir zu Hause bis in die Münchner City. Aber ich wollte die Beschwerden unbedingt in den Griff bekommen, und so nahm ich diese Strapazen auf mich. Zum Glück zeigte die Behandlung von Müller-Wohlfahrt Wirkung. Der Rücken erholte sich, wenn auch nur kurzfristig. Aber genau zum richtigen Zeitpunkt.
In Pyeongchang hatte ich noch einmal das Gefühl, dass mein Körper okay war. Ich lief die Rennen fast völlig schmerzfrei, der absolute Höhepunkt war natürlich das dramatische Herzschlag-Finish im Massenstart gegen Martin Fourcade, doch dazu später mehr. Glücklich über das Silber und auch über die Bronzemedaille mit der Staffel flog ich heim. Was ich nicht ahnen konnte: Pyeongchang war das letzte Mal, dass es mir im Biathlon richtig gut ging, dass mein Körper genau das tat, was ich wollte.
Danach wurde es nie mehr wie früher.
Während der drei...