Schweitzer Fachinformationen
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»Kein so langer Text. Maschinengetippt, auf Durchschlagpapier, muss Anfang der Münchener Zeit gewesen sein.«
Ruth steht schon eine Weile vor dem tiefen Regal und redet leise vor sich hin, als ihr rechter Zeigefinger beim Entlangfahren der hier hochkant eingestellten Kartondeckel und Mappen anhält.
Sie fischt ihr altes Schulheft heraus und wischt über das blaue Deckelpapier, als ob Staub darauf läge. Linker Rand leicht verblichen, ansonsten tadelloser Zustand. Die gesuchten zehn Blätter liegen lose hinten ein, auf DIN A5 gefaltet.
»Seelchen. Eine Ostergeschichte. Für meine liebe Ruth. Lou Andreas-Salomé Göttingen 1913«, steht außen auf der letzten Seite mit Bleistift notiert. Einen Osterbrief hatte sie auch einmal von ihrem Vater bekommen, aus Paris und zwar mit fünf. Aber bei der Lou-Geschichte hier, da war sie schon zwölf gewesen!
Ohne hochzuschauen geht Ruth mit dem Heft die paar Schritte zum Fenster und setzt sich zur Lektüre auf die alte Truhe des Vaters. Darin hatte sie die 14 grauleinenen Skizzenbücher mit Gedichten aus Rilkes früher Zeit und darunter die Abschrift eigener Hand der berühmten Worpsweder Monographie gefunden - versteckt unter einem Stapel von zugeschnittener Leinwand, Katalogen und uralten Zeitungen. Da hätte sich eigentlich jeder bedienen können, denn die Tür zu Claras Atelierhaus stand früher den ganzen Tag offen, hier draußen am Ortsrand von Fischerhude. >Bisschen Dusel< gehört halt immer dazu.
Anna Rautenberg tritt sich an der Treppe zum Windfang die Gartenschuhe ab und ruft von draußen: »Frau Fritzsche, für den Kaffee werd' ich uns backen und die letzten Pfläumchen abpflücken!«
»Pflaumenkuchen!? - Ja. Anna! - Wunderbar! Haben wir . sonst kann ich später .«.
»Alles da.«
Die beiden Frauen sprechen gleichzeitig und in zwei verschiedene Richtungen. Sie verstehen sich gut.
Ruth mag Annas Stimme. Diese Zuversicht verströmende ostpreußische Färbung war ihr von Anfang an sympathisch gewesen. Sie lächelt der Haushälterin hinterher, während die sich, in jeder Hand ein gelbes Eimerchen hochhaltend, mit dem Rücken zuerst durch den staubabhaltenden Kunststoffvorhang in den Flur zurückdreht. Das Septemberlicht des Gartens scheint für einen Moment durch die offene Haustür. Anna war als Flüchtling bei ihnen in Weimar aufgeschlagen, Anfang 1945, damals schon nicht mehr ganz jung, im Schlepptau ihre jüngere Schwester Luzy. An der Tür geschellt, nach irgendetwas gefragt und dann für immer bei ihnen geblieben. Nur an Sonntagen, wenn Anna mit dem Zug nach Bremen fährt, um Luzy und Familie zu besuchen, kocht Ruth selbst. Hühnersuppen. Die sind legendär. Manchmal schält sie einen Berg Kartoffeln wie für eine Armee, dann gibt es Puffer, oder sie rührt selbst Waffelteig an oder backt ein Brot.
Ruth hält die hauchdünnen Blätter gegen das Licht und liest die lange Widmung noch einmal, jetzt übertrieben feierlich. Dann murmelt sie: »Seelchen.« Lou Andreas-Salomé hatte sie damit gemeint. »So, war ich das? Ein Seelchen? Und was soll das sein, so ein Seelchen?« Durch das Sprossenfenster betrachtet sie den Stapel Bauholz, wie er da bedrohlich hoch aufragt. Ruth legt Brille und Papiere ab. Blickt sich im Zimmer um. Aufs Engste zusammengeschoben war das ganze Mobiliar; es ging ja nicht anders, wegen der Renovierung im Haus. Die Unordnung erschwert ihr die Arbeit noch zusätzlich.
Sie selbst sitzt viele Stunden, manchmal ganze Tage lang über einer Handschrift oder über Abschriften von Handschriften. 10.000 Briefe! Als sie das rotlederne Adressverzeichnis mit dem Goldschnitt und seinen 1050 Namen und Anschriften zum ersten Mal in der Hand hielt, war ihr flau geworden. 30 Jahre her. Es lag unerwartet schwer in der Hand und natürlich schaute sie zuallererst nach ihrer eigenen Anschrift, die Väterchen mit seinen feinen Füllfederhalterlettern eingetragen haben würde: erst zu R, dann schnell weiter zu S wie Sieber geblättert. Kein Eintrag! Auch Clara in Fischerhude fehlte. Bei W wie Westhoff stand immerhin Großmutter Johanne - und Friedrich Westhoff, Bergedorf Hamburg, beides in Klammern. Naja, wer schreibt Adressen von Familienangehörigen in so ein Büchlein, denkt sie heute. Die hatte man doch im Kopf.
Eine derart weitverzweigte Korrespondenz hatte sie jedenfalls nicht erwartet. Und das Netz all dieser sorgsam gesponnenen Fäden vollständig zu überblicken, es in der Hand zu behalten, ohne sich dabei zu verheddern, das war schon eine schwierige Aufgabe. Monate vergingen, Jahre. Man musste höllisch aufpassen, sonst verfing man sich womöglich noch selbst in diesem komplizierten Geflecht der Verbindungen, vor allem rund um die vielen Gönnerinnen - ganz schwieriges Kapitel.
Mit dem Fuß angelt Ruth nach einem der Rollcontainer, um den Fund darauf abzulegen. Die mit eisernen Streben verstärkten neuen Möbel sind ausgesprochen praktisch. Extraanfertigung aus Resopalbrettern, stoß-, kratzund abriebfest und obendrein noch schwer entflammbar. Das Neueste vom Neuen. Im Falle eines Unglücks könnte man die mobilen und verschließbaren Drehregale durch die zweiflügelige Ateliertür direkt hinaus ins Freie fahren. Willys Idee. Ein großer Kachelofen plus Torfkamin; man konnte nicht vorsichtig genug sein mit einem solchen Archiv im Haus.
Der schönste Raum im Haus, Claras früheres Atelier, würde bald das große Rilke-Archiv beherbergen. Und sie, Ruth Rilke, spätere Sieber-Rilke, heute einfach Fritzsche, geb. Rilke, so hatte sie es auf das neue Briefpapier drucken lassen - sie allein war die Verantwortliche für den Nachlass. Der sei ihr Schatz, hatte Willy einmal gesagt. Zu Recht. Wer hatte denn den ganzen Bestand gerettet? Aus dem Nachkriegs-Weimar? - Sie natürlich. Sie und Willy. Nächtelang mit Einkaufstaschen zum Versteck am Bahnhof gezogen. Mit Stoffbeuteln und Papiertüten; bis zum Rand angefüllte Koffer mit kostbaren Originalen. Schließlich wurde noch Willys Bratschenkasten hergenommen, um die Manuskriptseiten ihres persönlichen Lieblingsbuches, »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«, unter dem wertvollen Instrument zu verstecken. Der Insel-Verleger Anton Kippenberg hatte es ihr 1927 aus Muzot mitgebracht. Der Kern ihres Archivs, um den sich die Taschenbücher, Briefe und die Sammlung »Späte Gedichte« und alles andere anlagerten.
Kaum geschlafen hatten sie, damals, in Weimar. Gegenüber im Haus die einquartierten Russen. Erst wenn die Soldaten blau waren, und zwar alle, konnte es losgehen. Nur wen interessierte das heute? Sie war weiß Gott nicht scharf drauf, sich mit der Rettung der Papiere hervorzutun. War ja gerade mal so gutgegangen. Und auch wieder zehn Jahre her die ganze Chose. Aber »Willy Fritzsche als Erhalter und Bewahrer des Nachlasses« gebührte großer Dank. Im Nachwort zum Ersten Band der »Sämtlichen Werke« von 1955 wird sein Verdienst ja auch explizit genannt. Dafür hatte sie selbst gesorgt.
Die Ordnung im Archiv mussten sie nach dem Umzug aus Bremen hier aufs Land zwar neu herstellen, aber nach der Renovierung würde man den hinzugewonnenen Platz sehr gut nutzen können. Es dauerte schon alles länger als gedacht, aber sie kamen voran. Dann wieder gab es unvorhergesehene Störungen. In Person dieses aufgeräumten >Lou Andreas-Salomé-Biografen< Ernst Pfeiffer zum Beispiel. Kommt einfach hier an und scheucht einen auf und stört. Stört und stört und stört immer weiter. Verliebt war der gewesen, ja. In die alte Lou! Die machte alle in sich verliebt, egal wie alt sie war. Pfeiffer war der Ansicht, er müsse aufklären über Rilkes »frühe Verzweiflung, Kunst und Familie gar nicht überein zu bekommen«. Ausgerechnet. Ich möchte alle vergessen, meine Frau und mein Kind . - Na und? Als ihr Vater das schrieb, muss sie etwa zwei Jahre alt gewesen sein und ganz hervorragend untergebracht bei den Großeltern in deren Krokusparadies, in Oberneuland. Ganz reizend. Es gab Hühner, eine Sandkiste und Väterchen kam zu Besuch. Ihn störten die Züge manchmal - die Bahnlinie nach Bremen und Hamburg führte genau hinterm Haus vorbei. Er war ein Dichter von gerade einmal 27 Jahren. Ein ganz junger Kerl noch. Was wollte man denn groß erwarten?
Pfeiffer. Der Mann hatte doch keine Ahnung. Lou war jetzt 20 Jahre tot und dann tritt dieser von ihrer Genialität besessene »Herausgeber des Briefwechsels« auf den Plan. Vor fünf Jahren hatte Ruth seinetwegen eine Gallenkolik bekommen, als sie die »in einem stattlichen Bande« - na ja - »sorgfältig edierte kritisch-historische Ausgabe« des Briefwechsels Rainer Maria Rilke - Lou Andreas-Salomé für 27,50 DM durchsah - und gleich weglegte....
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