Schweitzer Fachinformationen
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Jetzt waren es schon zwei Monate, dass Ignaz Blumenfeld entlang der Lagunen fuhr. Morgens von Glowe nach Breege auf der Schaabe und nachmittags zurück. Manchmal wollte er ein Lied pfeifen, aber da er nicht pfeifen konnte und wenn er pfiff, dann falsch, hörte er die Musik lieber im inneren Ohr. Der Weg war nicht lang. 9,7 Kilometer, flach, manchmal Gegenwind.
Angezogen völlig falsch: Statt Radleruniform - Läuferklamotten. Lange Hose, Unterhose aus Kunststoff, die Innenschenkel neben dem Sack mit Vaseline eingeschmiert, Kunststoffleibchen, Funktionsjacke mit leichtem Windstopp. Stattdessen hätte er eine gefütterte Hose anhaben müssen, Radlersocken mit Stützfunktion, windabweisende Jacke mit seitlichen Einnähern, die sich eng an den Körper legte, und Helm, Schuhe mit Klixbindung, und das alles möglichst von einem Hersteller, der sicher nicht Tchibo heißen sollte. Eine Kollegin überholte ihn. Physiotherapeutin wahrscheinlich. Perfekt gestylt, nicht in Radleruniform, aber in Sportdress. Sie grüßte und sagte: »Ich muss Sie leider gleich wieder verlassen. Ich beginne meine Therapie um 8.00 Uhr.«
»Ich auch«, antwortete er und ließ sie ziehen. Schwerer Fehler. So benahm sich kein Chefarzt, und so schaute er auch nicht aus.
»Fehler passieren überall«, musste sich Kriminalhauptkommissar Lüdewitz heute Morgen schon zum zweiten Mal anhören. Die Staatsanwaltschaft Stralsund hatte ihm einen Ermittlungsauftrag wegen Verdachts auf fahrlässiges Handeln gegen den Chefarzt der Kurklinik Breege übermittelt. Darin stand vom Tod eines elfjährigen Knaben zu lesen, der an einem durch eine abgelaufene Injektion ausgelösten Mangel an Blutplättchen litt. Zwei Wochen nach einem Erholungsaufenthalt in der Klinik auf Rügen spielte er Fußball. Da er für sein Alter groß gewachsen war, war er der Kopfballspieler vor dem Tor. Zuerst hatte Jannes den Kopfball angenommen. Der Ball ging wirklich ins Kreuzeck. Mitten im Jubel hatte sich Jannes an den Kopf gegriffen, etwas von »fließen« gemurmelt und war langsam in sich zusammengesunken. Die Buben waren starr vor Schreck. Sie liefen zu Jannes' Mutter Frau Silversteed nach Hause. Bis der Krankentransport am Fußballplatz war, vergingen weitere zehn Minuten, in denen der Atem des Jungen zuerst hechelnd war, dann ganz schwach wurde und langsam verebbte. Die Mutter rief Jannes beim Namen. Der konnte oder wollte keine Antwort geben. Dann der Transport in die Klinik. Dort stellte man fest, dass die Zahl der Thrombozyten unter 5.000 gefallen war, weswegen der Neurochirurg die Gehirnblutung nicht operieren konnte. Erst nach Gabe eines Thrombozytenkonzentrats, das erst nach 40 Minuten eintraf, konnte operiert werden. Da war es aber schon für alles zu spät. Jannes' Hirn hatte bereits solche Schäden wegen Sauerstoffmangels und durch die Einblutung erlitten, dass die nächsten acht Tage, die er auf der Intensivstation im künstlichen Koma gehalten wurde, nur mehr ein verlängertes Abschiednehmen für seine Mutter und seinen Bruder gewesen waren. Jannes erwachte nicht mehr, und als das EEG nur mehr die Nulllinie zeigte, boten die Ärzte Frau Irma Silversteed an, die Geräte abzuschalten. Sie musste das glücklicherweise nicht allein entscheiden, sondern war nur Partei in einem Prozess, den die Ethikgruppe1 des Krankenhauses überhatte. Sie beratschlagten nach Einsicht aller Befunde und nach der Untersuchung des Patienten, ob ein Weiterleben an den Maschinen als sinnvoll angesehen werden konnte. In Jannes' Fall war die Entscheidung leicht gewesen. Wenn er auch noch ein Kind war, so war die Prognose auf eine wenigstens teilweise Wiedererlangung eines erträglichen Lebens negativ. Er würde bestenfalls wie der israelische Premier Ariel Sharon einige Jahre im Koma existieren können. Das wollte man weder dem Kind, seiner Familie noch dem Krankenhausträger zumuten. Also ließ man Jannes zehn Tage nach seinem Kopfball, der zu einem Tor geführt hatte, sterben. Da sein Tod eine Unfallfolge war, wurde der Leichnam gerichtlich obduziert und eine Unfallmeldung an die Polizei gemacht. Sie war offizieller Auslöser der Erhebungen.
Die Staatsanwaltschaft hatte ermittelt, dass der bestehende Thrombozytenmangel von der Mutter bei der behandelnden Ärztin der Rügen-Klinik angegeben worden war. Die Ärztin, Frau Anita Hafer, hatte nach Aussage der Mutter die vom Kinderarzt vorgeschriebene Kontrolle der Blutplättchen verweigert und hätte gesagt, dass das Kind nur Begleitperson des kleinen Bruders und der Mutter wäre, also gar nicht Patient der Klinik, und daher keine Kostenübernahme durch die Kasse möglich wäre und auch nicht durch die Klinik. Der Chefarzt sei danach von der Mutter befasst worden, hätte aber die Auffassung seiner Mitarbeiterin mitgetragen, ebenso wie der Klinikdirektor Herr Franz-Josef Knopfke, an den sich die Mutter in ihrer Sorge gewandt hatte. Wieso der Ermittlungsauftrag der Staatsanwaltschaft nur den Chefarzt betraf und nicht auch die anderen Beteiligten, verstand Lüdewitz nicht. Daran hatte er sich seit der Wende wieder gewöhnt. Früher verstand er manche Aufträge nicht, weil er das Parteiinteresse nicht kannte, dem zu folgen war, und nun verstand er sie manchmal nicht, weil höhere wirtschaftliche Überlegungen handlungsleitend waren. Ihm sollte es recht sein. Er hatte die DDR überstanden, so würde er auch noch die Wertvorstellungen der Bundesrepublik überstehen' und dann eine viel bessere Pension bekommen, als er sie damals gehabt hätte. Insgesamt jedoch gleich viel, musste er sich korrigieren. Denn da in der DDR alles preisgeregelt war, war alles billig oder zumindest erschwinglich. Vor allem konnte keiner reisen. Höchstens in die sozialistischen Bruderstaaten, etwa nach Varna ans Schwarze Meer oder nach Kuba, allerdings nur, wenn man Kaderpersonal war. Das war er nie gewesen, weshalb die Karriere des jungen Juristen auch in Stralsund geendet hatte und nicht in der Hauptstadt oder überhaupt einer größeren Stadt. Für ihn reichte Stralsund als Wohn- und Arbeitssitz, wo er ganz Rügen beobachten konnte. Er wusste, wer kam und wer ging, auch wenn der oder die mit Bus, Boot oder Zug auf die Insel kamen. Selbst seit die neue Brücke gebaut worden war und die Menschen zu allen Tages- und Nachtzeiten kommen und gehen konnten. Heute war das völlig unkompliziert, und wenn man nachts nach Rügen fuhr, konnte man fast übersehen, dass man den Strelasund überquerte. Zwar gab es den Rügendamm bereits seit 1936/37, aber der hatte nur die Landstraße Nummer 86 und eine Bahnverbindung. Anfällig gegen Sturm, Regen und Wind, war er auch vor Überschwemmungen nicht sicher. Die alte Brücke blieb nach dem Bau der neuen bestehen, und er benutzte sie lieber als die neue. Einerseits hatte er einen guten Blick auf das neue Bauwerk und andererseits war es Lüdewitz' Trampelpfad, obwohl er doch noch gar nicht so alt war. Das 2007 fertiggestellte Bauwerk auf seinen stolzen Säulen, die als Y-Pylonen ausgeführt waren, war ein Prachtstück, welches das Erreichen Rügens noch leichter machte. So war Rügen an den internationalen Verkehr angeschlossen, Autos flitzten vor allem im Sommer hin und her. Dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 20.10.2007 die Brücke offiziell eröffnet hatte, behielt er in bester Erinnerung. Sie war seine Abgeordnete, wenn sie auch mehr weltpolitisch dachte und handelte, als eine lokale Abgeordnete es tun würde. Er musste aber zugeben, dass sie sehr wohl auf ihren Wahlkreis, der zum Teil seiner Verantwortung unterstand, schaute. Die Rügenbrücke war nur ein Beispiel der Fortentwicklung in der Region.
Er kannte fast alle Einheimischen seit Jahrzehnten, und die neuen Verbrecher, die aus den Großstädten und dem Osten kamen, lernte er bald kennen. Er hatte wenig andere Interessen außer seinem Beruf. Schon als Kind war er neugierig gewesen und kannte gern die Geheimnisse der anderen. Nun, da er fast vier Jahrzehnte in Häusern, Kästen und versteckten Kommoden hatte nachschauen dürfen und viele Geheimnisse gesehen hatte, begann er, sich zu langweilen. Nicht weil er das Interesse verloren hatte, sondern weil sich die Einfälle so oft wiederholten: kleine sexuelle Perversionen, Dildos, Latex, mal eine nebeneheliche Freundin oder ein Freund, versteckte alte Liebesbriefe, die nur mehr dazu geeignet waren, die bestehende Beziehung zu belasten oder zu zerstören; selten Kriegserinnerungen oder eine nicht mehr erlaubte politische Gesinnung, entweder Nationalsozialismus oder Kommunismus. Er war frei von allen: weder verheiratet noch sonst wie gebunden; nicht homosexuell, aber nicht praktizierend hetero; nie in einer Partei gewesen: für die Nazis zu jung, für den Kommunismus zu sehr an den Menschen und ihrem Gemeinschaftssinn zweifelnd und für den Kapitalismus als Beamter im Staatsdienst zu arm. Daher bewohnte er eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern, wenig Erinnerungsstücke, mal ein Bild der Eltern, Vater war aus dem Krieg nicht zurückgekommen, Mutter war Pfarrersköchin und daher vor dem Kommunismus gefeit, der römisch-katholische Pfarrer wie ein Vater, auch, so vermutete er, in der Beziehung zu seiner Mutter leidlich glücklich, allerdings ohne den Segen der Heiligen Kirche. Jetzt, kurz vor der Pensionierung, außer langen Spaziergängen im Naturschutzgebiet und an der See keine Hobbys, die man angeblich brauchte, um in der Pension nicht zu vertrotteln. Vielleicht einmal eine Mohntorte in der Teestube in Putbus, die von zwei jungen Zugewanderten geführt wurde und die jeden Winter am Rande des Konkurses stand, den zu verhindern er mithalf. Ein herrlich einsames und sinnloses Leben in großer innerer Freiheit und voller Philosophie. Marc Aurel - das war sein Philosoph. An der Spitze der Macht des größten Weltreichs, das die Antike je gesehen hatte, und doch mit...
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