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«Bist du sicher, dass in Deutschland nicht gefoltert wird?», fragte er.
Ich nickte.
Er fragte wieder.
«Ganz sicher? Das kann doch nicht sein.»
Dann setzte er nach: «Aber wenn ich den Kanzler kritisiere, dann kommt doch bestimmt die deutsche Geheimpolizei und nimmt mich mit, oder?» Ich schüttelte mit dem Kopf. Er überlegte, jetzt fragt er bestimmt noch mal, dachte ich. Stattdessen sagte er:
«Was für ein tolles Land!»
Ruhi ist ein unauffälliger Typ. Zierliche Gestalt, Anfang dreißig, Schultern etwas zu weit nach vorne. Optisch der große, schon erwachsene Bruder vom kleinen Nick. Er könnte im Bus oder der Bahn neben einem sitzen, man würde denken, der arbeitet bei der Fahrplanauskunft und hat gerade Schichtende. Dann würde er aufstehen, um auszusteigen, und sich für die Unannehmlichkeiten, die durch seine Bewegung entstanden sind, leise entschuldigen. Man würde es vielleicht überhören. Wenn man gefragt würde: Wer saß denn da gerade nochmal, würde man antworten: «Ach, stimmt. Da saß ja jemand.» So einer ist Ruhi.
Tatsächlich ist er anfangs in Deutschland oft Bus gefahren, auch weil er hoffte, dort mit echten Deutschen, von denen es im Heim keine gab, in Kontakt zu kommen und so irgendwie Deutsch zu lernen. Er grüßte andere Mitreisende und sagte: «Guten Tag.» Einfach so. Meistens erntete er ein Schweigen, manchmal grüßte ihn jemand zurück. Einmal landete er einen Treffer. Es war ein Fahrgast mit Rollator, der seine Kontaktaufnahme erwiderte und mit Ruhi sprach. Doch der verstand nicht, was der ältere Herr sagte. Weil er aber nicht unhöflich sein wollte und froh war, dass endlich jemand mit ihm sprach, lächelte er ihn freundlich an, so als würde er alles verstehen, hörte aufmerksam zu, legte den Kopf ganz leicht zur Seite, um dann das so ziemlich einzige Wort, das er kannte, zu formulieren: «Wirklisch?» Jetzt kam der Mitreisende richtig in Schwung, und nach ein paar weiteren Sätzen wiederholte Ruhi sein Zauberwort. Er lächelte, legte den Kopf wieder schräg und intonierte «Wirklisch?» Der Bus rollte weiter und das Gespräch auch. Der freundliche Gesprächspartner schien keinen Verdacht geschöpft zu haben, dass Ruhi womöglich kaum ein Wort verstanden hatte.
So einer ist Ruhi, höflich bis zur Selbstverleugnung, und er liebt den Kontakt zu Menschen. Um den anderen nicht zu beunruhigen, gibt er immer vor, es gehe ihm gut. Egal, ob Corona oder Krankenhaus, Hauptsache, sein Gegenüber macht sich keine Sorgen, denn das wäre zutiefst unhöflich. Zu seiner iranischen Höflichkeit gehört auch, sich in einer Begegnung verbal klein zu machen. Ganz klein. Eichhörnchengroß. Haselnussgroß. «Ich bin der Schnürsenkel an deinem Schuh, nein, ich bin das Preisschild auf deiner Schuhsohle.» Will sagen: Ich bin ein Nichts im Vergleich zu dir. Wäre er nicht so höflich, würde er nicht so bedingungslos freundlich und bemerkenswert naiv auf jeden Menschen zugehen, dann wäre sein Leben vielleicht anders verlaufen.
Ruhi kommt aus einer mittelgroßen Stadt im Iran mit wenigen hunderttausend Einwohnern. «Da kennt man sich. In unserer Straße wusste jeder alles über jeden. Teheran ist dagegen groß und anonym.»
Wenn er von der Schule erzählt, drängt sich der Eindruck auf: Er muss ein sehr guter Schüler gewesen sein, eine Urkunde zeichnete ihn als hochbegabt aus. Er studierte Mathematik. Seit er achtzehn war, beschäftigte ihn dann eine für sein Leben weitreichende Entscheidung: Eine seiner Tanten und die Nachbarn waren keine Muslime, sondern Bahá'í. Die junge Religion und ihre Gemeinschaft zogen ihn an. Er mochte die Art, wie Bahá'í auf die Welt schauen, und wollte daran mitarbeiten. Sein Leben kam ihm nicht mehr sinnlos vor, und seine Mutter war stolz auf ihn. Mit einundzwanzig entschied er sich, den Islam zu verlassen und Bahá'í zu werden.
Auch wenn es kein Ritual, keine Taufe oder eine formale Prozedur der Aufnahme gibt: Das Bekenntnis zum anderen Glauben ist der bewusste Schritt in die Gefahrenzone der Islamischen Republik. Denn Bahá'í werden im Iran verfolgt. Während schiitische Muslime ihren Glauben gemäß Doktrin verleugnen dürfen, falls sie in Gefahr geraten (taghiyyeh),[1] fühlen sich die Bahá'í der Wahrheit und ihrem Bekenntnis in der Regel verpflichtet. Etliche würden leben oder wieder frei sein, wenn sie im Gefängnis ihren Glauben geleugnet oder ihm abgeschworen hätten.
Ruhi wusste, dass Menschen, die wie er vom Islam «abfallen» und eine neue Religion annehmen, vom Regime besonders hart bestraft werden können. Dass Bahá'í im Iran als unrein gelten und er somit fortan auch. Der Tabubruch war ihm klar. Er kannte bereits einige Menschen, die Berufsverbote hatten, deren Besitz konfisziert worden war, deren Kinder von der Schule geflogen waren, nicht an der Uni studieren durften oder im Gefängnis gelandet waren. Er hatte gesehen, dass Geschäfte von Bahá'í auf einmal von den Behörden geschlossen wurden. Jeder, der im Iran diese Religion annimmt, muss wissen, dass er einen hohen Preis dafür zahlen wird. Ruhi spricht leise, aber klar, wenn er sich erinnert, und dabei schimmert diese persische poetische Art durch, wenn er Dinge des Herzens umschreibt: «Wenn du glaubst, dann glaubst du. Dazwischen gibt es nichts. Da ist kein Grau. Entweder etwas ist wahr oder nicht.»
Ein paar Freunde rieten ihm dringend davon ab, die Religion zu wechseln. Er würde Ärger kriegen und seine Eltern gleich mit. Aber seine Mutter war stolz auf ihn, das erwähnt Ruhi oft. «Sie brachte mich gleich von Anfang an auf Kurs: » Und seine Mutter stand hinter ihm, ohne zu zögern. Als es sich herumgesprochen hatte, dass Ruhi vom Glauben abgefallen war, stellte eine Nachbarin sie direkt zur Rede: «Warum ist dein Sohn Bahá'í geworden?» Die Mutter entgegnete: «Ja, findest du es besser, wenn er drogenabhängig wird, so wie dein Sohn?» Seine Religion würde eine entscheidende Rolle für seine Zukunft im Iran spielen.
An der Uni machte Ruhi die Bekanntschaft einer Kommilitonin, oder sagen wir, eine Kommilitonin machte die Bekanntschaft mit ihm. Ruhi ist nicht einer, der fern von Selbstzweifeln das andere Geschlecht im Handumdrehen erobert, im Gegenteil. Aber sie kamen ins Gespräch und sich näher. Eines Tages setzte sie ihn von ihrem Wunsch in Kenntnis, dass er ihre Eltern kennenlernen sollte. Er war etwas verwundert, vor allem über das Tempo. Natürlich hatte er über das Elternhaus schon nachgedacht. Denn anders als die anderen Studierenden wurde sie täglich zur Hochschule chauffiert. Und es war kein herkömmliches Auto, in dem sie da saß, man konnte auf dem Nummernschild erkennen, dass es ein Dienstwagen, ein Regimewagen war. Weit oben im System angesiedelt.
Bis zu dem Zeitpunkt, da sie dieses Treffen mit den Eltern plante, hatte er seine Religionszugehörigkeit nicht angesprochen. Das bedeutete ja auch immer ein Risiko. Und sie war offenbar jemand, die als Muslimin ihren Glauben praktizierte und ihn ernst nahm. Was ihm gefiel. Er grübelte, zögerte und wagte es, sich zu öffnen, trotz Nummernschild, trotz ihrer erkennbar regimetreuen Haltung. Ruhi gestand tatsächlich der Tochter eines hohen Funktionärs:
«Ich bin Bahá'í!» Sie reagierte prompt.
«Wie blöd bist du eigentlich?» Es knallte und sie verpasste Ruhi eine Ohrfeige. Ende des Kontakts.
«Das hat mich sehr getroffen. Ich wollte ihr gerne verzeihen, ich wollte sie nicht einfach blöd finde, bestimmt von Vorurteilen. Ich habe ihr sogar noch einen Blumenstrauß gekauft.» Aber da war nichts mehr zu machen. Später, in der Haft, fragte er sich manchmal, ob sie ihn mit ihren verletzten Gefühlen an das Regime ausgeliefert hatte.
In seiner Stadt wurde der Kurs gegen die Bahá'í wieder spürbar und sichtbar robuster. Im ganzen Land kam es, fast wie jedes Jahr, zu weiteren Festnahmen. Er hörte, dass ganze Gruppen von Bahá'í im Gefängnis landeten.
Ruhi promovierte derweil in Teheran, denn er war dort an der Uni zugelassen worden. Man hatte ihn nicht nach seiner Religionszugehörigkeit gefragt.
Sein Handy klingelte immer öfter. Und immer waren es diese Anrufe mit unterdrückter Nummer. So fängt es häufig an. Auch andere erhielten diese Anrufe. Ruhi ging nicht dran. Er hatte Angst.
Eines Abends lief er durch seine Heimatstadt. Es war warm, die Straßen waren leer, die...
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