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Sarani hatte es satt, sich den Tag mit düsteren Überlegungen zu vergällen. Er wollte wie in der ersten Minute, als er hier gestrandet war, die Sonne im Schatten des Baumes genießen. Den Gedanken, daß ein Schwächeanfall ihn auf die Bank gezwungen hatte, verscheuchte er; lieber horchte er in die Windstille hinein, kein Blatt raschelte, und voll Verwunderung betrachtete er den Baum, an dem selbst die dünnsten Zweige sich nicht bewegten.
Er wußte, daß in einer Wüstenregion selten Windstille herrscht. Das Wort herrschen irritierte ihn. Damit verband er Gewalt und Getöse; die Sprache aber, jene deutsche Sprache, die er im Alter von zehn Jahren zu lernen begonnen hatte und deren ewiger und dankbarer Schüler er war, wollte offenbar, daß auch die Stille herrscht; vielleicht bestand deren Gewalt in der Unterdrückung des Getöses.
Er wußte, daß der ständige Wind zur Wüste gehörte wie der Sand, der, vom Wind Hunderte Meter hochgewirbelt, gewöhnlich als eine dünne, graue Schicht über Kairo und den Nil hinwegzog wie ein endloses Tuch, das Tag für Tag, Monat für Monat unverändert und starr über der Stadt zu hängen schien und sich doch immerfort weiterbewegte – ausgenommen die Zeit der Windstille, in der man den wolkenfreien, blauen Himmel sehen konnte, was Sarani überaus entzückte, weil das klare Sonnenlicht, das auf den Laubbaum fiel, die Blätter als Schatten auf den Erdboden zeichnete. Er konnte sich an diesen Bildern nicht satt sehen.
Zugleich lauschte er den Geräuschen des Verkehrs, weil sie einerseits deutlich wahrzunehmen waren, andrerseits sich anhörten, als kämen sie von weit weg, wiewohl die sechsspurige Flughafenautobahn nur zehn Meter von der Bank entfernt war; da jedoch kein Wind den Lärm hierher trug, wirkten die Geräusche, als wäre die Straße ein Käfig, in dem sie tobten und am Gitter rissen, Sarani aber nichts anhaben konnten.
Als ärgerlich empfand er, daß Hunger und Durst ihm von Minute zu Minute stärker zusetzten. Er hatte in den vergangenen Wochen nur so viel getrunken, daß er nicht an Austrocknung starb. Versuchte er aber zu essen, blieb ihm der Bissen im Hals stecken. Wollte er nicht ersticken, mußte er ihn hinunterwürgen, woraufhin es ihm den Magen umdrehte.
Diese Art, sich zu ernähren, führte nur deshalb nicht zu seinem Tod, weil er vor dem Tod noch etwas zu erledigen hatte. In der Innentasche seines Rocks steckte neben den Abschiedsbriefen an Frau und Tochter ein auf einer Seite beschriebenes Blatt Papier, das ihm vor einem halben Jahr zugesandt worden war und das er dem Absender zurückschicken wollte, nach Wien oder nach New York, wo der Absender, der Österreicher, abwechselnd lebte.
Allerdings wollte er ein paar eigene Zeilen dazulegen, er hatte auch schon versucht, den einen und anderen Satz zu formulieren, doch er fand nicht die richtigen Worte, jedes erschien ihm zu schwach: Schurke, Verräter, Lügner, alles nichtssagende Wörter in Anbetracht der Schurkerei, des Verrats, der Lügen, deren der Österreicher sich schuldig gemacht hatte.
Dieser Mann hatte am Tag zuvor aus New York angerufen und völlig wirr gesprochen. Sarani fragte sich, ob der Mann den Zynismus auf die Spitze treibe, indem er nun sich selbst als Leidenden darstelle. Oder ob er sich als jemand stilisiere, den die Einsicht in seine Schuld niederdrücke und der nun hoffe, daß ihm verziehen werde. Beides war Sarani gleich widerwärtig. Den Zynismus des Täters, sich als Opfer zu geben, aber auch das Schuldbekenntnis eines Schuldigen wies er zurück, denn der Täter hatte das Schurkenstück über eine lange Zeitspanne geplant, zusammen mit seinem, Saranis, Sohn.
Schluß, befahl er sich, er wollte nicht, daß in seinem Kopf zum tausendsten Mal die Litanei in Gang gesetzt wurde über den Verrat des Freundes, über die Treulosigkeit des Sohnes, beides für ihn unfaßbar – in seinen wüstesten Alpträumen, in denen er die Liebe zu Sophie hatte enden, seine Kinder durch einen Unfall hatte sterben, sein Unternehmen durch ein Erdbeben hatte zerstieben sehen, war jenes Unglück nicht vorgekommen, das wirklich über ihn hereingebrochen war, so daß ihm kein anderer Weg offenstand als der in den Tod.
Seit er das wußte, ging es ihm besser. Am Morgen hatte er sogar, nach langem wieder, seinen Lieblingsanzug angezogen, wobei ihm auffiel, so frei war sein Kopf wieder, daß etwas anziehen nur korrespondierte mit Anzug, nicht mit Hose, Hemd oder Socken.
Der Anruf vom Tag zuvor brachte Sarani nicht aus dem Konzept. Sollte der Österreicher tatsächlich in Kairo landen, was Sarani für möglich, nicht aber für wahrscheinlich hielt, denn was ein Schurke verspricht, dem schenkt man nur bedingt Glauben, hätte das den Vorteil, daß er den Text, den er hatte zurücksenden wollen, ihm einfach in die Hand drücken konnte, ohne sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, welche den Verfasser ins Herz treffenden Worte er beilegen sollte.
Sarani mußte seinen Plan nur geringfügig ändern: Er werde mit dem Geländewagen zum Haus in der Wüste fahren, nachdem er den Österreicher am Flughafen getroffen, ihn zu einem Taxi begleitet, ihm den Text überreicht und ihn aufgefordert habe, ins Hotel Marriott zu fahren und dort Quartier zu nehmen. Er werde ihn dort am nächsten Tag um elf besuchen. Er werde dann zum Österreicher sagen: Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. Der Kerl, der sich in der Nacht eine Erklärungs-, Entschuldigungs-, und Rechtfertigungsrede zurechtgelegt habe, werde diese nun loswerden wollen, er, Sarani, aber werde sich von ihm abwenden und weggehen.
Daraufhin, dachte er, werde er zum Wüstenhaus fahren. Die Windstille sei das sichere Vorzeichen für einen gewaltigen Sturm, und der sei ein Garant für den sicheren Tod. Sarani brauche sich nur mit Absicht falsch zu bewegen, und der Sand werde ihn unter sich begraben.
Bis dahin werde er das Wüstenhaus bewohnen, das David, der Sohn und Architekt, entworfen, nein, erfunden hatte, denn wie alle großen architektonischen Entwürfe war auch dieser eine Erfindung. Erfinden heißt, das hatte der Sohn ihn gelehrt, die Dinge neu zu entwickeln, was wiederum bedeutet, das gesamte Wissen über das Bauen in einer bestimmten Region, in diesem Fall der Wüstenregion, sich zu erarbeiten, und das ist leider nicht viel, denn das meiste ist verlorengegangen. Und dieses Wenige an altem Wissen ist zu erweitern mit neuem, an das man auch nur mühsam herankommt.
Baukunst, das war sein Eindruck während der Planung gewesen, ist Wissenschaftskunst, die Kunst, das Avancierteste an technischem Wissen, das Beste und nicht das Ausgeklügeltste, zum Wohle eines Bauwerks zu organisieren, das Beste im ästhetischen, im sozialen, im wirtschaftlichen Sinn. Das Alte, der Lehm als Baumaterial, und das Neue, die Gewinnung von Sonnenenergie, sollten nicht nebeneinanderstehen, sondern einander überbietend ein Bauwerk der Moderne ergeben, gerade unter den extremen Bedingungen der Wüste.
Außerdem war das Haus gedacht als Prototyp. Bewährte es sich, könnte in derselben Bauweise um das Haus herum ein Dorf, ja eine Stadt entstehen. Das wäre nach der Farm die zweite Pioniertat. Und die dritte, entscheidende, weil von revolutionärer Kraft, auf den beiden anderen aufbauend, wäre – Sarani mußte innehalten, um den Satz zu Ende denken zu können – die Akademie gewesen.
Bis zum Sturm, dachte er, sei noch Zeit für einen Abschiedsbrief an David. Er werde seinem Sohn danken für die baukünstlerische Arbeit an dem Haus, in dem er seine letzten Tage verbringe. Er war froh, für den Abschied ein versöhnliches Motiv gefunden zu haben, er empfand es als bitter genug, den Freund verfluchen zu müssen, er wollte sich nicht auch noch den Sohn aus dem Herzen reißen.
Sarani rekelte sich auf der Bank, milde Wärme lag auf seinem Anzug und drang langsam in den Körper, der, in den vergangenen Wochen abgemagert, dankbar die Kraft der Sonne aufnahm. Die Taschenuhr – es war die silberne, die ihm sein Onkel geschenkt hatte, die goldene hatte er zurück in die Schatulle gelegt, sie paßte nicht zum Anzug – zeigte genau die Stunde an, zu der er mit dem Autohändler verabredet war. Er fühlte sich nun kräftig genug, die fünfzig Schritte bis zu dem Geschäft zurückzulegen, doch blieb er sitzen, nicht aus Schwäche, sondern aus Übermut.
Ein einziges Mal im Leben unpünktlich sein! Unrechtes tun aus Freude war ihm zeitlebens fremd gewesen, schon gar, wenn es um Pünktlichkeit ging. Auf jemanden, der zu spät kam, warten zu müssen, empfand er als Diebstahl von Zeit. Der Wartende, dachte er, sei reduziert, er könne nicht denken, nicht fühlen, nicht lesen, nicht schauen, er warte nur. Nie, behauptete er, habe er jemanden warten lassen.
Hatte er selbst warten müssen, vergalt er es dem Unpünktlichen damit, daß er die Beziehung abbrach oder aber, war das geschäftlich nicht möglich, den Konflikt konservierte, um ihn später auszutragen. Und nun ließ er einen Autohändler warten, bei dem er seit Jahrzehnten Lastkraftwagen für die Farm kaufte. Vor zwei Monaten erst hatte er, nicht aus freien Stücken, sondern weil der politisch-religiöse Einfluß des Großhändlers beträchtlich war, bei diesem aus privaten Mitteln einen Kühltransporter bestellt, um das Gemüse von der Farm zum Flughafen zu...
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