Schweitzer Fachinformationen
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1950 haut Wolfgang Köhler von zu Hause ab. Morgens um fünf hat er seine Sachen gepackt, ist über die Hauptstraße vor dem Haus gelaufen und hat den Bus nach Chemnitz genommen. Ist vorbeigefahren an Vaters Schlossereibetrieb, nie wieder in diese verdammte graue Garage. Das nervige Geschrei vom Alten, der Kommisston der Gesellen - los, Wolli, hol ma Bier für die Belegschaft, Wolli, wisch das Schmieröl weg, Wolli, Werkstatt fegen, der Kleinste macht den Dreck weg. Schon lange denkt er über diesen Ausbruch nach.
Vorbei an dem Gefängnis, dem riesigen Knast im Herzen Waldheims, dem größten Zuchthaus Sachsens. Da wo andere Städte das Rathaus und den Marktplatz haben, da hat Waldheim den Knast. So, als ob man sein Leben lang darauf hinarbeiten würde, endlich in den Kern der Stadt vorzudringen, in dem man dann für immer bleiben müsse. Aus dieser Stadt kommst du nicht lebend raus, es sei denn, du machst dich rechtzeitig aus dem Staub.
Als das Stadtschild im letzten Dunkel der Nacht hinter ihm zurückbleibt, wird er ruhiger, bald schon geht die Sonne auf.
Wolli schlägt sich durch. Schläft in Chemnitz in einer alten Schrebergartenhütte. Er teilt Zeitungen aus. Kellnert ein paar Tage in einem Café. Bei den Eltern meldet er sich nicht, er will es allein schaffen. Im Erzgebirge schuftet er unter Tage im Wismut-Bergbau der Sowjets. Sie bauen dort Uran ab, die Rohstoffbasis für die sowjetische Atomindustrie. Wolli weiß nicht, was Uran ist, es interessiert ihn auch nicht sonderlich. Da er unter Tage nur die bereits abgebauten Hohlräume mit taubem Gestein verfüllen darf, kommt er nicht in Kontakt mit dem Wunderzeugs, das die Kumpels Pechblende nennen. Großartiges Wort, klingt wie ein Schutz aus Pech. Vor was bloß? Die Dunkelheit unter Tage, die harte und trostlose Arbeit schlagen Wolli schnell aufs Gemüt. Eines Tages packt er sein Bündel zusammen und flüchtet erneut.
Es verschlägt ihn nach Berlin. Mit achtzehn Jahren arbeitet er ein paar Monate beim Secret Service, transportiert Informationen zwischen den Kontrahenten der unterschiedlichen Nationen, ist eigentlich ein besserer Laufbursche, bezeichnet sich selbst aber lieber als »Agent«. Er ist gut im »Dinge organisieren«. Wenn es was zu besorgen gilt - Alkohol, Zigaretten, Schokolade, auch Huren -, fragen ihn die Engländer. Da er stets zuverlässig liefert, hat er schnell einen guten Ruf. Und Pillen besorgt er, welche, die wach, andere, die wieder müde machen. Selber nimmt er sie auch gerne. Am besten geht Pervitin. Das bekommt er leicht. Das gibt es zwar auch in der Apotheke, aber nur auf Rezept. Die Engländer stehen drauf, es ist die »Blitzkrieg-Droge«, dank ihr war die deutsche Wehrmacht in den ersten drei Kriegsjahren so überlegen in ihrem Sturm über Europa. Als das Pervitin ab 1942 nicht mehr an die Front kam, brach die Kraft der Truppen ein. Ein ganzes Heer auf Drogen, auf Speed. Ausgerechnet die Deutschen, dieses angebliche Naturvolk, stark und hart und rein. Nichts als ein Witz.
Wolli versteht sich gut mit den Engländern, sie sind nett zu ihm, sie sehen lässig aus, hören gute Musik und trinken die besten Getränke. Bei ihnen probiert er das erste Mal schottischen Whisky, der gefällt ihm ausnehmend gut. Eines Tages wird er beim »Organisieren« erwischt und muss schnellstmöglich den britischen Sektor verlassen.
Er wechselt in die Ostzone, in die noch junge DDR. Als man ihm einen Job bei der Volkspolizei anbietet, lässt er sich zögernd darauf ein. Mit seinen Eltern hat er ab und zu telefonischen Kontakt, und als er der Mutter von dieser Möglichkeit berichtet, ist sie stolz auf ihn, es gefällt ihr noch besser als die Schlosserei, auch der Vater lobt den Jungen. Einen Polizisten hat es in der Familie noch nicht gegeben.
Lang aber geht das nicht gut. Bei der Polizei ist es wie in der Schlosserei: Druck, Zucht, Ordnung, Unterdrückung, Gehorsam, Hierarchien. Er ist wieder das letzte Glied der Kette. Der Unterste. Der Laufbursche. Derjenige, der stets für die langweiligsten Aufgaben abgestellt wird. Vor allem unerträglich öde Büroarbeit. Bald beginnt er, sich aufzulehnen und die Arbeitsaufträge infrage zu stellen. Er weigert sich, die Kopie einer Kopie abzutippen, nur, damit er etwas zu tun hat. Er gerät mit seinen Vorgesetzten aneinander, sie brummen ihm Strafen auf und drohen damit, ihn einzusperren, wenn er die Befehle nicht ausführt.
Eines Nachts nach Dienstschluss setzt sich Wolli in den Westen ab. Er fährt mit dem Zug Richtung Ruhrpott in der Hoffnung, als Kumpel Arbeit zu finden. Immer noch besser als der scheußliche Polizeidienst.
Bald findet er einen Job im Kohlebergbau, in Marl in der Zeche Auguste Victoria. Marl ist eine mittelgroße Stadt in der Nähe von Recklinghausen, sie hat nicht viel mehr zu bieten als den Bergbau und die chemischen Werke der Hüls GmbH. Kultur, Unterhaltung, geschweige denn Nachtleben sucht man hier vergebens.
Wolli bewohnt eine kleine Wohnung in einer Werkssiedlung. Ab und an ein Feierabendbier mit den Kollegen ist sein einziges Vergnügen. Die Zeit vergeht eintönig, Wochen, Monate, schließlich Jahre, und Wolli fragt sich, warum er diese Arbeit macht, dort unten in der heißen, stickigen Dunkelheit, warum er an diesem langweiligen Ort im Nichts lebt, mit einem Job, der ihm die Kraft raubt, die Kraft für alles, was ein Leben zum Leben macht.
Wolli schreibt sich mit seiner Mutter Briefe. Sie bietet ihm an, nach Waldheim zurückzukehren, er müsse ja nicht unbedingt in der Schlosserei bei Vater arbeiten. Aber er kann und will nicht. Zumindest nicht, solange er nicht einen wirklichen Schritt weitergekommen ist. Er spürt ganz deutlich: Er muss mehr einsetzen, mehr wagen.
In einem Chemiewerk füllt Wolli Farben ab. Doch seine Hoffnung auf Erfüllung, vielleicht auch auf eine Form von Aufstieg vergeht schnell. Er ist nicht qualifiziert genug für die »höheren Dienste«.
Mit der Damenwelt versteht sich Wolli gut, er hat wechselnde Freundinnen, mit denen er zwar meist nicht länger als ein paar Monate zusammen ist, aber er ist ein hingebungsvoller, ja versierter Liebhaber, und die Mädchen geben sich ihm gerne hin. Es ist der einzige Bereich, in dem er sich als von Natur aus talentiert empfindet, es wäre doch ein Traum, damit sein Auskommen zu verdienen, nur wie?
Nach einigen Jahren verlässt Wolli das Chemiewerk und schlägt sich mit Jobs durch, arbeitet als Tankwart, in einer Kfz-Werkstatt und als Hundeführer. Allmählich geht er in Marl regelrecht ein. Wie ihm alles fehlt, Luft, Licht, Musik, Kunst, kurzum: die Freiheit.
Im Frühjahr 1960 schließt sich Wolli einem Wanderzirkus an, als Requisiteur und Junge für alles. Der Zirkus bleibt nirgendwo länger als ein paar Wochen. Diese Ziellosigkeit gefällt ihm, rumkommen und etwas vom Land sehen, Abenteuer erleben und sich frei fühlen. Da er beherzt zupacken kann und sich nicht zu schade ist gerade auch für die härteren und unbeliebteren Jobs im Tross, genießt er schnell das Vertrauen der Schausteller. Nach Wolfsburg und Celle gastiert man in Lüneburg, baut das Zelt im Mai auf einer Wiese vor der Stadt auf. Wolli kümmert sich um die Fütterung der Tiere. Sie transportieren drei Lamas, fünf Ponys, ein paar Schlangen und zwei kleine Braunbären, die den tristen Käfigalltag phlegmatisch über sich ergehen lassen. Nur wenn Wolli ihnen am Nachmittag das Fleisch vorwirft, das er in den städtischen Schlachtereien abgestaubt hat, erwachen sie für einen Moment zum Leben. Wolli schläft in einem der Anhänger, in denen das Manegengestühl transportiert wird. Ein alter Holzwagen mit nur einem kleinen Fenster am Heck, in den Wolli seine Matratze legt, rundherum verteilt er seine Bücher.
Nachts, wenn es nichts mehr zu tun gibt, wenn er einsam ist, dann liest er. Camus und Kazantzakis, Jean Genet, der schreibt vornehmlich über Verbrecher, Huren, Zuhälter, Schwule, lauter so Gesindel, Marquis de Sade und Das kommunistische Manifest. Das hat er schon dreimal gelesen. Das Kapital ist ihm zu kompliziert, aber der Kommunismus erscheint ihm grundsätzlich attraktiv. Alle könnten gleich sein. Werden eines Tages gleich sein. Spätestens im Jahr 2000. In den Zeitungen, die er sich morgens aus den Vorgärten fischt, liest er über die Pariser Existenzialisten. Satre ist überzeugter Kommunist. Seine Geliebte Simone de Beauvoir auch. Angeblich praktizieren sie freie Liebe. Sie imponieren Wolli, weil sie sich für die einfachen Leute einsetzen, für die Entrechteten, die Schwachen, die Randfiguren, die Flüchtlinge, auch die Verbrecher.
Am Nachmittag geht Wolli durch die Stadt mit einem Esel, der ein Schild umgehängt hat: »Helfen Sie unserem Zirkus, die Tiere hungern!« Wolli schämt sich, er mag nicht betteln. Deshalb zieht er sich bei solchen Arbeiten immer besonders gut an. Er bevorzugt einen engen roten Lederblouson, darunter ein schwarzes Hemd mit kleinen gelben Lilien drauf, das er weit aufgeknöpft hat, und ein rotes Tuch um den Hals, die Haare zu einer verwegenen Tolle gekämmt. Dazu trägt er Jeans und spitze, glänzende schwarze Schuhe, alles beste Ware. Die Klamotten hat er sich »besorgt«, auf den Reisen. Und immer eine Kippe im Mund, meistens Reval, manchmal aber auch Roth-Händle. Die Mädchen in der Stadt schauen ihn an, schüchtern, aber er registriert ihre Blicke. Er sieht verdammt gut aus, auch ein wenig gefährlich, wild, fast wie ein echter Star. Wenn Wolli genug Kohle in der Dose hat, kauft er sich erst mal einen Drink. Irgendwas Verwegenes, häufig kreiert er auch eigene Mischungen. Eine Cola mit Persico und dazu 'nen Schuss Genever. Die junge hübsche Bedienung in der Eisdiele mischt ihm den Drink und lächelt ihn verlegen an. Er bietet...
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