Schweitzer Fachinformationen
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1.
Der Regen klopfte mal schüchtern, mal aufdringlich gegen die Fensterscheiben. Kommissar Barudi schaute, wenn die Tropfen heftig trommelten, kurz von seiner Arbeit auf. Er saß in seiner Küche. Auf dem Küchentisch lagen, neben dem Laptop, der nur am Wochenende hier war, Papier, Schere, Filzstifte und eine Tube mit Klebstoff. »Ein Mistwetter«, flüsterte er und war dankbar, in seiner warmen Wohnung zu sein. Bis auf das Geschmetter des Nachbarn über ihm, der fürchterlich falsch sang, das aber mit Leidenschaft, war die Atmosphäre sehr beschaulich - wie bestellt, dachte Barudi. Sobald er im Februar in Rente gehen würde, wollte er in eine andere Wohnung umziehen. Diese hier war billig. Die Wände filterten nur Gerüche, nicht aber Geräusche.
Kommissar Barudi war Mitte sechzig, seine kräftige Gestalt und sein glattes, wenn auch ernstes Gesicht ließen ihn jedoch jünger erscheinen. Er war mittelgroß und neigte zur Fülle, sein graues Haar war schütter. Die Kurzsichtigkeit zwang ihn, da er keine Kontaktlinsen vertrug, eine immer dickere Brille zu tragen, bis seine Augen wie zwei Erbsen wirkten, die in einen Glasstrudel geraten waren.
Er hatte gerade seinen Spezialkalender zusammengeklebt, November und Dezember des aktuellen Jahres 2010, und die Monate Januar und Februar des kommenden Jahres. Darüber hatte er in großer, bunter Schrift geschrieben: Die Tage vor der Befreiung.
Dreizehn Tage im November waren bereits durchgestrichen, und über dem Februar stand in gelbleuchtender Schrift »Ich bin frei«.
Er nahm einen Schluck von seinem nach Kardamom duftenden Mokka und hängte den Kalender an die Wand neben dem Esstisch. Ein Kugelschreiber baumelte an einem Faden vom Nagel über dem Kalender.
In diesem Moment fiel Barudi auf, dass er zwar den gestrigen Tag, einen Samstag, ausgestrichen hatte, nicht aber den Sonntag. Und so nahm er den Kugelschreiber und schrieb ein großes X in das entsprechende Feld.
»Vom heutigen Sonntag, dem 14. November, bis zum 1. Februar 2011 sind es genau 79 Tage. Das macht immerhin .«, flüsterte er und tippte einige Zahlen in den Rechner seines Laptops: 79 x 24 x 60 x 60 = 6.825.600 Sekunden. Er pfiff durch die Zähne. »Fast sieben Millionen Herzschläge bis zur Rente.«
Nachdem er den Tisch freigeräumt hatte, bestellte Barudi bei einem Imbiss Köfte mit Reis und Salat und wunderte sich, wie schnell der durchnässte Bote da war. »Haben Sie einen fliegenden Teppich?«, fragte er und gab dem Mann aus Mitleid reichlich Trinkgeld.
»Danke, mein Herr, nein, keinen Teppich, sondern ein gutes Mofa.«
Der Salat war ein wenig welk, dafür war das Essen kochend heiß. Es schmeckte ihm, und er beschloss, ein Glas trockenen Rotwein dazu zu trinken.
Er schenkte sich den Rest aus der Rotweinflasche ein, warf die leere Flasche in den Mülleimer, füllte eine kleine Schale mit gesalzenen Pistazien, stellte alles auf ein kleines Tablett und trug es ins Wohnzimmer. Dort setzte er sich auf das Sofa gegenüber dem Fernseher. Er zappte eine Weile von Kanal zu Kanal. Plötzlich hielt er inne und zappte wieder zurück, denn erst in letzter Sekunde hatte er den eingeblendeten Titel der Sendung bemerkt: Heilung des Unheilbaren.
Es war eine der wenigen seriösen Talkshows, die er ab und zu sah. Er mochte den Moderator, ein bekannter, schon älterer Journalist, zu dem die Experten gerne kamen, weil er sie ernst nahm und sich exzellent vorbereitete. Nur einmal im Monat wurde seine Sendung »Unter der Lupe« im staatlichen Fernsehen ausgestrahlt.
Barudi hatte Glück. Die Sendung hatte gerade erst angefangen. Es ging um den berühmten »Bergheiligen« und seine Erfolge. Durch Handauflegen heilte dieser nicht nur »gewöhnliche« Krankheiten, es hieß, er helfe mit einer magischen Flüssigkeit sogar Krebskranken. Der Moderator hatte zwei Patienten und zwei berühmte Medizinprofessoren eingeladen. Sie hatten die Patienten lange erfolglos behandelt, bevor diese in ihrer großen Verzweiflung den Bergheiligen im Norden des Landes aufsuchten.
»Wir haben heute einen jungen Mann eingeladen, der nach einem Autounfall querschnittsgelähmt war, und eine Frau, die einen schweren Krebs hatte. Was für eine Flüssigkeit kann das sein, die solche Gesundheitsschäden heilt, bei denen die moderne Medizin scheitert?«, fragte der Moderator und gab selbst die Antwort: »Der Bergheilige residiert in einer uralten Kirche in der kleinen Stadt Derkas südwestlich von Aleppo. Hinter dem Altar liegt eine Felsenhöhle, die einst den heiligen Paulus beherbergte. Damals lag sie in einem dichten Wald. Paulus war auf einer seiner Reisen von Räubern überfallen und schwer verletzt worden. Mit letzter Kraft konnte er sich in die Höhle retten. Wasser floss dort aus einem Spalt und heilte, so will es die Legende, seine Wunden. Und es heilte Tausende von Kranken. Später hat man um die Höhle eine Kirche errichtet, die aber von Barbaren zerstört wurde. Die Anhänger des Bergheiligen haben die Kirche vor zehn Jahren wiederaufgebaut, und jetzt ist die Quelle wieder zugänglich.
Das Erstaunliche dabei ist jedoch, meine Damen und Herren, der Bergheilige ist Muslim. Viele konservative Muslime mögen ihn nicht, aber auch sie schicken ihre kranken Angehörigen - wenn auch oft heimlich - zu ihm«, erzählte der Moderator. Ein Lächeln umspielte seine klugen Augen.
Der junge Mann war nicht sonderlich gesprächig und konnte seine Freude über die Heilung nur stotternd zum Ausdruck bringen. Er ging ohne jede Hilfe durch das Studio und war fest davon überzeugt, dass der Bergheilige über göttliche Kraft verfüge. Schwarz-Weiß-Fotografien, die in die Kamera gehalten wurden, zeigten den Unfall, den Patienten im Krankenhaus und im Rollstuhl, dann ein Farbfoto nach der Begegnung mit dem Bergheiligen. Er spielte wieder Fußball. Der berühmte Orthopäde, der den jungen Mann behandelte, bestätigte diese wundersame Entwicklung.
Die Patientin neben ihm, eine vierzigjährige attraktive Frau, hatte an Darmkrebs gelitten. Nach Operation und Chemotherapie war eine geringfügige Besserung eingetreten, dann aber streute der Tumor. Ihr Arzt, der neben ihr saß, bestätigte die damals hoffnungslose Diagnose und lobte die Tapferkeit seiner Patientin. Er sagte offen, dass er lange gezögert habe, die Einladung zu dieser Sendung anzunehmen, da die Heilung, die ihn natürlich sehr freue, die Schulmedizin infrage stelle.
Sie sei im Frühjahr dieses Jahres durch eine Freundin auf den Bergheiligen aufmerksam gemacht worden, erzählte die Frau. »Was hatte ich zu befürchten! Ich hatte nichts mehr zu verlieren«, sagte sie und berichtete, wie sie dem Bergheiligen begegnet war und wie er mit ihr lange über ihren Willen zum Leben und über ihre Zukunftspläne gesprochen hatte. »Ich gebe dir Liebe und Kraft, und du wirst den Krebs besiegen«, habe er zu ihr gesagt und sie umarmt. Er habe sie mit seinen feinen Händen am Kopf, Rücken und Bauch gestreichelt und in einer fremden Sprache ein Gebet gesungen.
In drei aufeinanderfolgenden Wochen hatte sie mehrere Begegnungen mit dem Heiligen gehabt. In dieser Zeit musste sie regelmäßig fasten und durfte nur bei ihm in der Höhle einen kräftigen Schluck von seinem Elixier nehmen.
Humorvoll erzählte die Frau, wie sie an den Kebab-, Schawarma- und Falafel-Imbissständen vorbeigegangen war und den Duft gierig in sich aufgesogen hatte und wie die Lust nach deftigen Gerichten und der Hunger sie gequält hatten.
»Wenn mein Magen schon nichts bekommt, so sollen wenigstens meine Nase und meine Lunge den Duft genießen«, sagte die Frau. Das Publikum im Fernsehstudio lachte. Barudi auch.
In der vierten Woche war sie geheilt.
Der Professor bestätigte die Aussagen der Frau. Sie sei von ihm und drei Kollegen, alle bekannte Krebsexperten, zweimal gründlich untersucht worden. Es habe sich kein Tumor mehr gefunden.
»Und ich konnte mit meinem Mann und meinen drei Kindern wieder unbeschwert lachen«, erzählte die Frau und begann leise zu weinen. Ihr Nachbar, der geheilte junge Mann, strich ihr liebevoll über die Schulter.
Barudi begann ebenfalls zu weinen. Vielleicht war es dem Wein geschuldet, vielleicht seiner Einsamkeit.
»Du hättest auf mich hören sollen«, sagte er mit heiserer Stimme. Basma, seine geliebte Frau, war jung an Darmkrebs erkrankt. Als die Ärzte sie aufgaben, schlug Barudi ihr vor, zu einem berühmten Heiler im Libanon zu gehen. Es war sechzehn Jahre her. Damals war der Bergheilige noch nicht bekannt.
Sie hatte abgelehnt....
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