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Geduld und Humor sind zwei Kamele,
mit denen man jede Wüste überqueren kann.
Arabisches Sprichwort
Damaskus, Sommer 2006
Aida fuhr an diesem Tag besonders unsicher, sie hielt zwar das Gleichgewicht auf dem Fahrrad, aber sie schaute dauernd auf den Lenker, und ihr Vorderrad malte eine Schlangenlinie auf den Boden. Karim ermahnte sie: »Nach vorne schauen, vergiss den Lenker, er folgt sklavisch deinem Blick«, aber ihre Augen richteten sich wie hypnotisiert auf den glänzenden Bügel zwischen ihren Händen.
Es war die Feuertaufe, wie Aida die Fahrt durch die Jasmingasse nannte. Sie trug an diesem Tag weiße Espadrilles, eine blaue Hose und ein rot-weißes Streifenshirt. Ihr langes graues Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie geriet immer wieder ins Schlingern und lachte dabei laut, als wollte sie ihr Herzklopfen überspielen. Karim hielt das Fahrrad fest am Sattel.
Es war ein robustes Hollandrad, das er vor dreißig Jahren gebraucht gekauft hatte. Er liebte das Fahrrad und ließ in all den Jahren niemand anderen darauf. Und er hatte sich nie vorgestellt, dass das jemals anders würde, bis ihn Aida vor etwa einem Monat fragte, ob es etwas gebe, was er nicht beherrsche und immer gewünscht habe zu können. Sie waren bereits über ein halbes Jahr zusammen.
»Ein Musikinstrument spielen«, antwortete er und zögerte kurz, »genauer gesagt, meine Lieblingsmelodien mit einer Oud hervorzaubern«, fügte er leise hinzu und schluckte den Rest hinunter: »wie du es kannst«, weil er sicher war, es war zu spät. Er hatte zwar geschickte Hände, aber sie waren bereits über fünfundsiebzig Jahre alt.
Schon als Kind hatte er davon geträumt, doch im Elternhaus war Musizieren verpönt, die wohlhabende Familie besaß zwar ein Radio, und sein Vater hörte neben den Nachrichten und Berichten gelegentlich das eine oder andere Lied oder Musikstück, aber er erlaubte niemandem, zu singen oder Musik zu spielen. Karims Mutter besaß eine wunderschöne Stimme, aber sie sang nur heimlich, wenn der Vater außer Haus war. Als sein Bruder Ismail es einmal wagte, leise die Flöte zu spielen, die er gekauft hatte, bekam er Prügel. »Das ist Zigeunerzeug«, sagte sein Vater verächtlich.
Aida strahlte ihn an. »Das kann ich dir in drei Monaten beibringen. Wenn du dann täglich fleißig übst, finden die Melodien den Weg zu deinen feinen Fingern. Das braucht aber etwas Geduld«, sagte sie, zögerte, »und Humor«, ergänzte sie und streichelte ihm das Gesicht.
»Und du, was hast du dir immer gewünscht und nie gewagt zu tun?«, fragte er verlegen lachend, um seine Unsicherheit zu überspielen.
»Rad fahren. Das war mein Traum als Mädchen. Ich beneidete meinen Bruder, seine Freunde und all die Jungen in meiner Nachbarschaft um dieses federleichte Schweben, aber als ich den Wunsch einmal geäußert habe, reagierte meine Mutter laut und ungehalten, und das war sie immer, wenn sie Angst bekam. Ich solle mir das aus dem Kopf schlagen. Frauen blieben zu Hause, und da bräuchten sie kein Rad. Rad fahren könne böse Folgen haben, erklärte sie bedeutungsvoll. Und als ich erstaunt und zugleich naiv fragte, was das für Folgen seien, behauptete sie, manch eine junge Frau sei durch das Radfahren nicht mehr Jungfrau gewesen. >Erkläre dann den blöden Männern, dass du noch unberührt bist<, sagte sie verzweifelt. Es war nichts zu machen.
Ich habe es nicht geglaubt. Es war wie alles, was meine Mutter sagte, wenn sie Angst bekam. Sie dramatisierte so sehr, dass man sich bald in einem Dschungel aus Aberglaube, Furcht und Scheu befand und schwer durch diese Düsterheit zur Wahrheit gelangen konnte. Kaffeetrinken führt bei jungen Mädchen zu Bartwuchs, zerbrochene Spiegel bringen sieben Jahre Unglück, Rauchen macht die Frau unfruchtbar, spaßiges Schielen kann zu Dauerschielen werden, schwangere Frauen sollten alle Früchte bekommen, die sie zu essen wünschen, sonst wird das Baby Feuermale in Form der ersehnten Frucht im Gesicht oder auf dem Leib tragen. Onkel Barakat, Tante Maries Ehemann, soll damals in vier Tagen nach Jaffa und zurück geritten sein, um seiner schwangeren Frau Jaffa-Orangen zu bringen. Sie bekam einen Korb der berühmten süßen Früchte und dazu später ein gesundes Baby.
Ich fand Radfahren elegant, und das Gleichgewicht zu halten glich dem Gang eines Zirkusartisten auf dem Hochseil. Und vor allem diese Erhabenheit!«
»Das hast du in zwei bis drei Wochen«, sagte er und merkte erst spät seinen Leichtsinn. Beim Oudspielen kann man sich weder Arm noch Bein brechen, beim Radfahren schon. Sie strahlte ihn mit ihren dunklen Augen an, stürmte zu ihm und küsste ihn innig auf die Lippen, so dass all seine Gewissensbisse wie Fledermäuse aus seinem Kopf hinausflatterten.
»Bring es mir bei«, flehte sie ihn an, und er sah die Freudentränen in ihren Augen.
Merkwürdig, wie lange man mit seinen geheimen Wünschen lebt. Über sechs Monate waren sie bereits ein Paar, und sie hatten sich offen von ihrem bisherigen Leben erzählt, und auf einmal entdeckten beide, dass sie immer noch nicht genug voneinander wussten.
»Ich hatte vielleicht Angst davor, dass du mich auslachst«, sagte Aida, eher um sich selbst das Zögern zu erklären. Karim nickte. »Du sprichst mir aus der Seele. Ich habe es ab dem zwanzigsten Lebensjahr niemandem mehr verraten. Und wenn jemand mich nach meinen unerfüllten Wünschen fragte, so sagte ich tanzen und wie eine Schwalbe fliegen. Tanzen wollte ich später, nach dem Tod meiner Frau Amira nicht mehr.«
»Und ich konnte mich beim Tanzen nie entspannen. Ich habe immer mitgezählt und darauf geachtet, dass die Schritte stimmten. Irgendwann mit zehn, zwölf Jahren gab ich es auf. Aber das Radfahren, das blieb mein Traum.«
Aida war eher klein. Wenn sie barfuß ging, war ihre Stirn auf der Höhe seiner Schulter. Sie war schlank und athletisch, und wenn man nicht wusste, dass sie Mitte fünfzig war, hielt man sie für eine Vierzigjährige. Wenn man ihr Komplimente machte, erwiderte sie: »Liebe verjüngt! Verliebt euch und ihr werdet sehen«, und lachte.
Aida war immer schon verwegen. Das erfuhr auch Karim bald und hatte immer Angst um sie, wegen ihres Übermuts.
Nach einer Woche mit Übungen auf dem großen, fast immer leeren Parkplatz einer pleitegegangenen Textilfabrik vor dem Osttor, nicht weit von ihrem und Karims Haus entfernt, wollte er, dass sie auch lernte, durch eine belebte Gasse zu fahren. Er begleitete sie zu ihrer Gasse, die etwas breiter war und auf der westlichen Seite parallel zur Jasmingasse verlief. Aida fuhr ganz ruhig, und Karim hielt sie am Sattel. Mehrere Frauen und Männer beobachteten sie am Fenster oder an der Tür stehend und schüttelten missbilligend den Kopf. Aber das beeindruckte Aida nicht. Bald konnte Karim loslassen, ohne dass sie es merkte. Er rannte neben ihr her, und als sie ihn sah, wäre ihr fast schwindelig geworden. »Halte mich fest«, rief sie verzweifelt, »bist du verrückt?«, und sie fuhr fast gegen die Wand. Karim hielt sie fest, sie bremste und kam zum Stehen. Sie atmete erleichtert auf.
Es dauerte weitere fünf Tage, bis sie Karim nach den ersten Metern zurufen konnte, jetzt könne er loslassen, und sie fuhr durch die Gasse, klingelte dauernd und drehte dann an der Ecke zur Judengasse um. Breit lachend kehrte sie zu ihm zurück. Im Kurvenfahren aber blieb sie schwach, zweimal schrammte sie ihr Knie an der Mauer auf, weil sie den Bogen zu groß nahm, ihre Knie bluteten und ihre braune Hose bekam einen Riss, aber sie stürzte nicht. Nachdem sie eine Woche später tadellos fuhr, schlug Karim vor, sie solle nun in der Saitungasse üben, wo auch Autos fuhren, wenn auch langsam. Die Saitungasse war formlos und breit. Sie beherbergte den Sitz des katholischen Patriarchen und die große katholische Kirche.
Aida war dagegen. »Dort wimmelt es nur so von Pfarrern und Bischöfen, ihr Anblick macht mich nervös.« Sie lächelte bei der Vorstellung im Beichtstuhl, den sie seit fünfzig Jahren nicht mehr aufgesucht hatte, zu knien und zu sagen: »Pater, ich habe gesündigt.«
»Was haben wir getan? Wie haben wir gesündigt? In Gedanken? Körperlich?«
»Ja, körperlich, mit einem Fahrrad«, würde sie antworten. Ihre Freundin Sahra hatte ihr erzählt, Radfahren würde Frauen sexuell befriedigen. »Du weißt schon«, sagte sie, »der Sattel tut seine Aufgabe besser als mancher Mann.« Sahra glaubte daran, ohne je selbst ein Fahrrad gefahren zu haben.
»Und wie wäre es mit der Jasmingasse?«, holte Karim sie ins Jetzt.
»Das wäre nicht schlecht.« Sie wollte den Frauen vorführen, dass sie nun eine Radfahrerin geworden war. »Am besten um drei Uhr nachmittags, wenn sie alle vor ihren Türen sitzen«, sagte sie und lachte über die Gesichter mit den offenen Mündern, die sie vor ihrem inneren Auge sah. Karim verdrehte die Augen. Es war seine Gasse. »Wenn ich das bestehe, werde ich auch freihändig durch die Hölle fahren«, sagte sie. Sie kannte die Gasse schon lange, und die Frauen näher seit einem halben Jahr, seitdem sie Karims Geliebte war.
Die Jasmingasse liegt im christlichen Viertel der Stadt Damaskus an der historischen Geraden Straße zwischen der Abbara- und der Saitungasse und verläuft parallel zu beiden.
Man gelangt durch einen Steinbogen über einen schmalen, nicht einmal einen Meter breiten dunklen Korridor ins Innere dieser Gasse, die dann etwa vier Meter breit wird. Dieser Flaschenhals hat die Gasse gerettet, sie blieb vom Auto- und Motorradverkehr verschont. Auch die meisten Touristen haben den Eingang übersehen, der eher dem Tor eines...
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