352 Komplexität umarmen
Das komplexitätsbejahende Managementverständnis des preußisch-deutschen Militärs beschränkt sich keines Wegs nur auf die taktische Ebene, wie die Bezeichnung Auftragstaktik suggerieren mag. Vielmehr wurzelt seine Wirkungsvermutung in einem komplexen, »systemischen« Weltbild, das insbesondere durch Carl von Clausewitz geprägt wurde. Diesem ist der erste Abschnitt dieses Kapitels gewidmet. Das für Management wichtigste Merkmal dieses Weltbilds ist die »Friktion«, in der die fundamentale Ungewissheit komplexer Systeme zum Ausdruck kommt und die in drei »Lücken« ausdifferenziert werden kann.
Der zweite, umfangreichere Abschnitt des Kapitels ist dem Strategieverständnis Moltkes gewidmet, wonach sich die Strategie aus operativen Opportunitäten zusammensetzt. So faszinierend und zeitgemäß dieses Strategieverständnis sein mag, so fatal war im 20. Jahrhundert seine Umsetzung, auch dies wird im Folgenden deutlich gemacht. Der Abschnitt umfasst mit einer Beschreibung und Einordnung der Schlacht von Königgrätz überdies ein Beispiel für die wichtigsten Grundsätze der Moltkeschen Operationsführung.
362.1 Einsichten Clausewitz'
Das Systemverständnis des Krieges nach Clausewitz
»Unsere Kriege aber bestehen aus einer Unzahl von großen und kleinen, gleichzeitigen oder aufeinanderfolgenden Gefechten, und dieses Zerfallen der Tätigkeit in so viel einzelne Handlungen hat seinen Grund in der großen Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, aus denen der Krieg bei uns hervorgeht. Schon der letzte Zweck unserer Kriege, der politische, ist nicht immer ein ganz einfacher, und wäre er es auch, so ist die Handlung an eine solche Menge von Bedingungen und Rücksichten gebunden, daß der Zweck [.] nur durch eine Menge größerer oder kleinerer [Akte], die zu einem Ganzen verbunden sind, erreicht werden kann. Jede dieser einzelnen Tätigkeiten ist also ein Teil eines Ganzen, hat folglich einen besonderen Zweck, durch welchen sie an dieses Ganze gebunden ist.«1
Mit diesen Worten lässt der Autor, Carl von Clausewitz, keinen Zweifel daran, dass er den Krieg für ein hochkomplexes Geschehen hält, in dem das Militär durch eine Unzahl kleinteiliger Handlungen einen politisch gesetzten Zweck verwirklicht. Diese Ansicht bildet die Grundlage des taktisch-operativen Denkens von Generationen preußisch-deutscher Offiziere, bis heute. Sie lässt sich einerseits auf die Kriegstheorie von Clausewitz zurückführen, andererseits auf deren sukzessiven Operationalisierung durch seinen »Schüler«, Helmuth von Moltke (d.Ä.). Moltke war inspiriert durch die napoleonische Idee des Krieges,2 die Clausewitz theoretisch beschrieb, wobei er besonders die Elemente Moral (Emotion) und Führung hervorhob. Clausewitz prägte damit nicht nur Moltke, sondern, spätestens ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert, unzählige Militärs verschiedener Nationen. Er beeinflusste damit weltweit das Verständnis von Militär und Krieg bis tief ins 20. Jahrhundert hinein.3 Glaubt man Martin van Creveld, ist Clausewitz neben Sun Tzu (~544-496 v. Chr.) der einzige brauchbare Kriegsphilosoph der Menschheitsgeschichte.4 Allerdings einer, dessen Werk als ausgesprochen schwierig gilt und wahrscheinlich auch deshalb öfter zitiert als gelesen wird.5
Das Faszinierende an Clausewitz ist, dass er hinsichtlich der Welt- und Gegenstandsbeschreibung seiner Zeit weit voraus war. So betrachtet er das Kriegsgeschehen als unreduzierbar komplex. Diesen omnipräsenten unberechenbaren 37Charakter gibt er einen bis heute gebräuchlichen Namen: »Friktion«. Die Friktion ist das kennzeichnende Merkmal des Kriegs, genauso wie der Umwelt, in der heutige Unternehmen operieren.6 Friktion wird häufig metaphorisch auf Clausewitz' berühmten »Nebel der Ungewissheit« zugespitzt: »Der Krieg ist das Gebiet der Ungewißheit; drei Vierteile derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewißheit.«7 Ein großer Teil der Anstrengungen in der Kriegsführung (Aufklärung, Erkundung, u. v. m.), richten sich darauf, diese Ungewissheit zu reduzieren.8 Die von Clausewitz geprägte preußisch-deutsche Denkschule akzeptiert aber darüber hinaus, dass Ungewissheit in der komplexen Welt immer zu einem mehr oder weniger großen Teil unreduzierbar bleibt. Heute würde man wohl sagen, dass diese Denkschule den Krieg als »kontingentes Phänomen«9 betrachtet. Die Managementlegende Fredmund Malik formuliert dies in einem Nachwort zu Clausewitz' Opus Magnum »Vom Kriege« wie folgt: »Clausewitz hat eine für heutige Massstäbe [sic!] sehr moderne Sichtweise des Themas [die Führung großer Organisationen, PS]. Sein Verständnis bezeichnen wir im modernen Management als systemisch. Er versteht Krieg als ein hochkomplexes, vernetztes System, von Wahrscheinlichkeit und Zufall geprägt, offen, mehrdimensional, indeterministisch, über das es nie ausreichende Information geben kann, was bedeutet, dass Entscheiden und Handeln immer im Ungewissen zu erfolgen haben.«10 Als Kenner der Clausewitzschen Lehre betrachtet auch Moltke die Welt des Krieges als Abfolge von »lauter Spezialfällen«11, d. h. »Situationen, die nicht vorherzusehen sind.«12 Die »in den Nebel der Ungewissheit gehüllte Sachlage«13 wird demnach durch zwei Komplexitätstreiber bestimmt:14
1. Der freie, unabhängige Wille des Gegners15 und
2. der sich der menschlichen Voraussicht entziehende Zufall, etwa in Form von Unfällen, Missverständnissen, Täuschungen oder Krankheiten.
Dies macht einen Feldzug nach Moltke zur »Rechnung mit einer bekannten und einer unbekannten Größe - dem eigenen und dem feindlichen Willen«16, in die zudem die Faktoren des Zufalls als zusätzliche unbekannte Größen hineinspielen.
Den Startpunkt für die tiefe Reflexion über das Phänomen »Krieg« bilden bei Clausewitz wohl auch die eigenen Erfahrungen. Denn Clausewitz (*1780) selbst wird Zeuge einer Revolution in der Kriegsführung, die mit der französischen »levée en masse« in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts beginnt17 und für die deutsche Geschichtsschreibung 1806 mit der vernichtenden Niederlage der Preußen und ihrer Verbündeten bei Jena und Auerstedt am augenscheinlichsten wird. Clausewitz, der bereits als Offizieranwärter im Alter von nicht einmal dreizehn Jahren den Krieg in seiner ganzen Härte erleben musste,18 erlebte diese Niederlage in eigener Anschauung 38als Teil der preußischen Reserve im Bataillon Prinz August in der Schlacht von Auerstedt. Dort führte er seine Soldaten zunächst im aufgelösten Schützengefecht, bevor er den verwundet ausgefallen Bataillonskommandeur ersetzen und mit den Resten des Bataillons als Interimskommandeur den preußischen Rückzug decken musste. Bei den folgenden Rückzugsgefechten schlugen sich die verbleibenden 240 Mann wohl vergleichsweise gut, jedoch mussten auch sie, nachdem die letzte Munition verschossen und ein letzter Ausbruchsversuch gescheitert war, bei Pasewalk kapitulieren. Clausewitz ging als Adjutant des Prinzen Albrecht in französische Kriegsgefangenschaft. Nachdem ihm das geschlagene Preußen nun nicht mehr die Möglichkeit zum Widerstand gegen Frankreich bot, trat er in russische Dienste über, um dort den Kampf gegen Napoleon fortzusetzen. U.a. half er maßgeblich bei der Vermittlung der Konvention von Tauroggen, in der sich Preußen aus dem Zwangsbündnis mit Napoleon löste und an die Seite Russlands stellte.19 Auch in den dadurch ermöglichten Befreiungskriegen (1813-1815, dann wieder in deutschen Diensten) erlebte Clausewitz die durch das napoleonische Heer revolutionierte Kriegsführung in verschiedenen Funktionen immer wieder hautnah.20
Solche Erfahrungen mögen der Auslöser für Clausewitz' Reflexionen gewesen sein. Die eigentliche Theoriebildung jedoch stützt er auf eine breitere Empirie. »Vom Kriege« basiert im Wesentlichen auf umfangreiche und über viele Jahre hinweg systematisch betriebene historische Studien. So nutzt Clausewitz vergangene Feldzüge als Fallstudien zum Aufbau seiner Kriegstheorie.21 Die Reflexion geschichtlicher Ereignisse war und ist im preußisch-deutschen Militär ein wichtiger Zugang zu tieferen Einsichten. So erhielt der Generalstab schon in Zeiten Scharnhorsts eine militärgeschichtliche Abteilung, um gezielt Fragen an die Geschichte stellen zu können. Einige Chefs des Generalstabs, allen voran Schlieffen, waren selbst profilierte Militärhistoriker. Selbst in jüngerer Zeit muss sich die Bundeswehr dafür kritisieren lassen, dass die Erfahrungen aus der Afghanistan-Mission »ISAF« zu unsystematisch ausgewertet werden.22 Inwieweit man aus der Kriegsgeschichte etwas für zukünftige Konflikte lernen kann, war, ist und bleibt allerdings umstritten. Nicht zuletzt stritten sich die Gelehrten im ausgehenden 19. Jahrhundert im sog. »Strategiestreit« um genau diese Frage.23...