Schweitzer Fachinformationen
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Die deutsche Seele ist gerne gut vorbereitet aber wie viel konnten sie überhaupt planen und wie viel mussten sie dem Zufall überlassen? An Schwierigkeiten waren sie gewöhnt, Reisen in der DDR hieß ja nie: buchen, losfahren und erholen, vor dieses Vergnügen hatte der Staat hohe Hürden gestellt. Glücklicherweise hatten sie sich ihren Urlaub schon im Januar für den August genehmigen lassen. Offiziell brauchte man kein Visum für Ungarn, wohl aber eine "Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr". Diese Reiseanlage wurde vom Innenministerium ausgestellt und von der Volkspolizei ausgehändigt. Man wartete auf Reisedokumente immer wie der Bauer auf gutes Wetter in der Erntezeit - mit Hoffen und Bangen. Dazu plagte Walter noch die mangelnde Ortskenntnis. Er liebte Landkarten, doch von Ungarn bekam man nur mangelhaftes Kartenmaterial. Vor allem zur Westgrenze hin und besonders darüber hinaus wurden sie ungenau. Da würden sie sich auf seinen guten Orientierungssinn verlassen müssen. Lächelnd drehte er seinen Kompass, der die Form eines Steuerrades hatte, ein Geburtstagsgeschenk aus Kindertagen. Den würde er mitnehmen. Und noch eine andere, zentrale Frage plagte ihn:
"Anka, Schatz, sagst du's deinen Eltern?"
"Bist du verrückt?", sagte Anka, "du kennst doch den Trinkspruch meines Vaters ."
"Ja klar: Lasst uns immer hübsch bescheiden bleiben."
"Ja und: Wir wollen unserem guten Vater Staat dienen, nirgends anecken und bloß keine unverschämten Wünsche hegen. Du kannst dir vorstellen was los ist, wenn die es erfahren. Und du? Sprichst du mit deinen Leuten drüber?"
"Von mir erfährt keiner was."
"Auch nicht die Viererbande?"
"Nö, wenn keiner was weiß, muss keiner lügen. Du siehst ja, wie nervös die 'Firma Horch und Guck' gerade ist. Nach den Protesten gegen die Wahlfälschung schwirren die rum wie die Wespen. Wir werden unseren Lieben eine Ansichtskarte von drüben schicken, so erfahren sie es früh genug."
"Eine Karte aus Holzminden. Wäre es dir recht, wenn wir nach Holzminden gehen, zu meiner Oma?"
"Warum nicht. Du sagtest, es sei sehr schön dort."
"Ja doch, es wird dir gefallen. So ländlich, so ruhig, wie auf dem Dorf. Und meine Verwandtschaft kennt viele Leute. Wir werden uns schnell einleben."
"Klar, und es ist auch schöner wenn man nicht einfach ins Blaue fährt. Mit dem Ziel haben wir schon was, worauf wir uns freuen können."
Vor Elisabeth Wegmann jedoch konnten sie ihr Geheimnis nicht lange verbergen. Als Sohn und Schwiegertochter sie am Wochenende besuchten, verströmten sie eine gute Laune, die deutlich über die junge Verliebtheit hinausging. Die Schwiegermutter fragte geradeheraus:
"Anna-Kind, du bist doch nicht etwa schwanger?"
"Äh, nö, wieso?"
"Aber irgendwas ist doch im Busch, ich kenn euch doch."
"Was soll schon sein?"
"Das hab ich euch gerade gefragt."
Anka sah fragend auf Walter, der versuchte, seine Aufgewühltheit durch Wegsehen zu verbergen. Elisabeth trat in sein Gesichtsfeld und sah ihm tief in die Augen:
"Ihr wollt doch nicht - sagen wir mal - umziehen?"
"Mama! Wie kommst du denn darauf?"
"Na, ihr benehmt euch genau wie meine Eltern, bevor sie in den Westen abgehauen sind. Genau dieselbe Farbe im Gesicht, in euren Augen dasselbe Hin und Her zwischen Erwartung und Angst ."
"Was? Deine Eltern sind nicht tot?"
"Mittlerweile ja, aber gestorben sind sie erst vergangenes Jahr in Hamburg."
"Hä? Also kein Unfall mit Fahrerflucht!"
"Irgendwie schon. Als Geflohene waren sie für die DDR so gut wie gestorben, soweit stimmte es ja. Das war im August 1961, als man den Antifaschistischen Schutzwall baute. So viel Schutz konnten sie nicht ertragen, sagten sie."
"Und du, warum bist du nicht mitgegangen?"
"Weil ich einem gewissen Viktor Wegmann beim Aufbau des Sozialismus unterstützen wollte. Nein, weil ich unglaublich verliebt in ihn war. Und weil ich mir heldenhaft vorkam, für meine Liebe hierzubleiben."
"Und warum hast du uns nie davon erzählt?"
"Weil man in diesem Land nichts wissen sollte, was einem schaden könnte. Wir waren immer im Fokus der Stasi, wie du weißt. Und wir sind es noch. Mein Gedanke war: wer nichts weiß, kann sich nicht verplaudern."
"Das hab ich vorhin schon so ähnlich gehört", sagte Anka, "jetzt weiß ich, von wem du deine Vorsicht hast."
Walter schmunzelte. Elisabeth schüttelte plötzlich den Kopf: "Weißt du eigentlich, was das für mich heißt? Der Mann, für den ich geblieben bin, hat mich verlassen und nun geht auch noch ihr Beiden. Dann hocke ich alleine hier in diesem Staat, der mich beäugt wie eine Verbrecherin, nur weil mich alle verlassen."
"Was heißt, alleine, Tanne ist ja auch noch da."
"Tanja, sicher, ich liebe sie so sehr wie dich. Aber meiner Tochter kann ich leider nicht vermitteln, was in mir vorgeht. Das Fräulein Doktor ist viel zu sehr mit ihrem Beruf verheiratet und dem Staat verbunden, als dass sie ihre bedauernswerte Mutter verstehen könnte."
"Mama, jetzt machst du uns aber ein schlechtes Gewissen."
"Oh, das wollte ich nicht! Es ist euer Leben. Tut, was ihr für richtig haltet, dann müsst ihr später weniger bereuen."
"Elisabeth, komm doch einfach mit", schlug die Schwiegertochter vor.
"Das ist lieb von dir, Anna-Kind, aber zwei schaffen es eher als drei. Und ich sag euch jetzt noch was, ganz im Vertrauen: Lange geht das hier sowieso nicht mehr gut. Ihr seht es ja selbst auf der Arbeit und auch privat, dass alles immer knapper und schwieriger wird. Und unsere Führung weiß keinen Ausweg. Ich sag euch, in zwei, drei Jahren bricht das alles hier zusammen."
"Ich wünschte, du hättest Recht, Mama, aber ich will es nicht darauf ankommen lassen. Was meinst du, soll ich es Papa auch sagen?"
"Bloß nicht, er würde euch abraten. Natürlich sieht auch er was los ist, aber er ist immer noch ein überzeugter Kommunist. Er glaubt, man müsse nur ein paar Köpfe ganz oben austauschen und ein paar Dinge anders machen, dann ginge alles seinen sozialistischen Gang. Behaltet eure Pläne schön für euch. Nur im Schauspielern müsst ihr noch besser werden."
Das war tatsächlich das Schwierigste. Die Vorfreude, diese innere Hochstimmung zu unterdrücken fiel schwer, doch noch schwerer drückte die Angst vorm Scheitern. Als beste Methode, ihr Vorhaben zu verschleiern erschien ihnen, ein Weiterleben in der DDR vorzutäuschen, die Stasi war ja überall. In der Werkskantine fragte Walter laut, ob jemand eine gebrauchte oder neue Waschmaschine wüsste. Wegmanns hatten längst eine, doch wer nach einer Waschmaschine fragt, haut nicht in den Westen ab. Anka erkundigte sich nach einem Wohnzimmerschrank und Walter nach einem Anhänger für seinen Trabant. Die letzten Wochen verbrachten sie in geheuchelter Loyalität und größter Anspannung. Vorm Einschlafen schmückten sie ihr neues Leben mit kühnen Träumen aus. Zwischen den Träumen und der Angst galt es aber auch, das bisherige Dasein irgendwie abzuwickeln. Man ließ doch mehr zurück als seine paar Habseligkeiten: Die Familien, die Freunde. Wie sagt man jemand "Auf Wiedersehen", wenn eigentlich Auf Nimmerwiedersehen gemeint ist. Wie geht man fort, mit einer Lüge als Abschied? Ankas Bedenken waren eher auf der praktischen Seite angesiedelt. Was muss man alles bedenken, was nimmt man mit?
"Wir fliegen", sagte sie eines Tages.
"Ach ja, und wer bezahlt das?"
"Ein Flug kostet 300 Mark, wenn wir alles zusammenkratzen, reicht es. Mit unserem Geld können wir drüben eh nichts anfangen. Dann müssen wir auch den Trabi nicht einfach stehenlassen, oder dachtest du, wir können bequem rüberfahren."
"Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Aber gut, so hat dann Mama auch ein Auto. Also buchen wir die Flüge."
Fräulein Schliephake im Reisebüro war sehr nett. Sie mochte Walter und freute sich immer, wenn er mit seinen für DDR Verhältnisse verrückten Anliegen kam. Es schien als freute sie sich mit ihm: "Oh, diesmal per Flugzeug, da wünsche ich jetzt schon eine gute Reise." Die Interflug würde ihnen die Tickets zuschicken. Als er drei Tage vor Abflug die Tickets noch nicht hatte, fragte er besorgt nach. Fräulein Schliephake erschrak, sie hatte glatt vergessen, die Anträge zur Fluggesellschaft zu schicken. War's das schon, ehe sie's überhaupt probiert hatten? Fräulein Schliephake wusste sich zu helfen. Sie rief die "Interflug" an und bat, die Flugscheine am Abflugschalter zu hinterlegen, die Passagiere würden sie dort abholen.
Auch die Reiseanlage...
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