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Das sieht ja aus wie meins, dachte Merle und sprang vom Rad. Sie war gerade vor dem Mehrfamilienhaus angekommen, in dem ihre Mutter wohnte, als ein Mann im altmodischen grauen Anzug die Haustür aufriss und davoneilte. Er hatte ein weißes Apple-Laptop unter den Arm geklemmt. So ein Modell hatte doch kein Mensch mehr! Die neuen Rechner waren kleiner und silbern oder roségold. Aber das konnte nicht sein. Bitte nicht, betete Merle.
Blitzschnell schloss sie ihr Fahrrad an der Hauswand ab und klingelte bei «Schneider». Der Summer schnarrte, und Merle sprang die Treppen hoch zur Wohnung im zweiten Stock. Sie war im Eiltempo von ihrer Wohnung in Eimsbüttel ins Portugiesenviertel gestrampelt, nachdem ihre Mutter angerufen hatte - um 9 Uhr morgens, das war an einem Samstag ja quasi noch Nacht. Angeblich «nur so», aber irgendetwas in ihrer Stimme hatte Merle beunruhigt. Da war etwas im Busch, das sagte ihr der siebte Sinn, den sie im Laufe der Jahre mit ihrer Mutter entwickelt hatte. Und jetzt ahnte sie auch, was es war. Merle stöhnte auf.
Wie gerne wäre sie noch mit Tom in ihrem Bett geblieben. Es war so kuschelig gewesen; sie hatte sich an seinen Rücken geschmiegt und die wohlige Wärme seiner Haut genossen. Wie gut dieser Mann roch! Nach Sonne und Salzwasser und einem Hauch von Marzipantasche. Ein Cocktail, der sie schwach machte, sodass sie ihre ganze Willenskraft hatte aufwenden müssen, um sich von ihm zu lösen.
Ächzend erreichte Merle den ersten Stock. Vielleicht hatte Tom ja recht, und sie sollte mal wieder Sport machen. Sitzen war das neue Rauchen - und sie selbst saß eindeutig zu viel. Nur die Yogastunde freitags morgens war ihr heilig. Tom dagegen war in seinem Laden für Surfbedarf ständig in Bewegung und fuhr fast jedes Wochenende zum Kiten nach St. Peter-Ording. Nichts für Merle. Sie hatte viel zu viel Respekt vor den hohen Wellen. Sie liebte das Wasser, aber sie hielt lieber Abstand, seit sie als Kind beim Schwimmunterricht einmal so viel davon geschluckt hatte, dass sie glaubte zu ersticken.
Merle lief weiter. Auf einer Treppenstufe lag noch immer das Streichholz, das sie zu Testzwecken dort platziert hatte. Also hatte in den letzten acht Wochen niemand geputzt. Merle seufzte. Sie nahm sich vor, bei der Verwaltung noch mal Druck zu machen. Das Haus war wie immer in einem erbarmungswürdigen Zustand. Im Erdgeschoss klaffte ein fingerbreiter Riss in der Wand, von der Decke bröckelte der Putz, und auf einer Treppenstufe lag vertrockneter Hundedreck. Merle hielt kurz die Luft an, als sie über den müffelnden Fleck hinwegstieg. Wie oft hatte sie ihrer Mutter schon angeboten, sich nach einer anderen Wohnung für sie umzusehen - vergeblich. Die Aussicht, mit all ihren Sachen umziehen oder womöglich etwas aussortieren zu müssen, schreckte sie wohl ab.
Merles Gedanken wanderten zu Tom zurück. Ein Glück, dass er nicht aufgewacht war, als sie sich heute Morgen aus dem Bett geschlichen hatte. Er brachte wenig Verständnis dafür auf, dass sie sich um ihre Mutter sorgte. Er hatte ja auch leicht reden: Seine Eltern waren schon vor Jahren nach Neuseeland ausgewandert, und abgesehen davon, dass er sie alle zwei Jahre besuchte, wenn sie vorher die Flugtickets für ihn buchten, fühlte er sich nicht verantwortlich für sie.
Merle ärgerte sich ja selbst, dass sie ausgerechnet heute herkommen musste. Es war selten genug, dass Tom am Wochenende in Hamburg blieb und Zeit für sie hatte. Freitags fuhr er meist direkt nach Ladenschluss gen Norden. Sein Freund und Geschäftspartner Kai hatte einen VW-Bus, in dem die beiden sogar im Winter ans Meer düsten. Von Schnee oder Kälte ließen sie sich nicht abschrecken - wozu hatte man schließlich einen Neopren-Anzug? Jetzt in diesem ungewöhnlich milden Oktober gab es natürlich erst recht kein Halten mehr.
Aber diesen Samstag musste Kai zu einer Familienfeier nach Lübeck. Tom war erst genervt gewesen - ein Wochenende ohne Kiten war für ihn fast wie ein Drogenentzug. Doch Merle hatte sich alle Mühe gegeben, ihn mit ihrer Vorfreude auf ein gemütliches Wochenende anzustecken. Erst zum Frühstücken in das kleine französische Café. Dort servierten sie ein Petit Déjeuner, das seinem Namen alle Ehre machte: zwei knusprige Mini-Croissants und ein Töpfchen Marmelade. Mehr brauchte Merle nicht zu ihrem Glück. Sie mochte es übersichtlich, und das galt auch für das, was auf ihrem Teller lag. Kürzlich hatte sie einen Artikel über die Bewohner der japanischen Insel Okinawa gelesen. Wissenschaftler hatten festgestellt, dass die Menschen dort so steinalt wurden, weil sie sich niemals ganz satt aßen. Merle konnte sich also auf ein langes Leben einstellen. Ein beruhigender Gedanke, denn immerhin waren schon fünfunddreißig Jahre rum, und manchmal erschien es ihr, als ob das Leben immer schneller an ihr vorbeilief, ohne dass etwas Nennenswertes passierte.
Ihre Mutter erwartete sie bereits an der Wohnungstür, von Kopf bis Fuß ein Häufchen Elend. Merle musste gar nicht mehr fragen: Es war also wirklich ihr Computer gewesen, der da rausgetragen wurde. Schon der schlecht sitzende Anzug hatte den Gerichtsvollzieher verraten. Warum sahen diese Typen nur immer so aus, als hätten sie modisch gesehen die letzten zwanzig Jahre verschlafen?
Offensichtlich hatte er ihre Mutter aus dem Bett geholt: Sie trug ihren lachsfarbenen Bademantel über dem grau gemusterten Schlafanzug. Die hellblonden Haare, in denen die grauen Strähnen gar nicht auffielen, hingen ungekämmt über ihre schmalen Schultern. Sie wäre locker als Schwedin durchgegangen. Merle selbst sah dagegen eher südländisch aus mit ihren kastanienbraunen Haaren und den bernsteinfarbenen Augen. Als Kind hatte sie das traurig gemacht. Sie musste dann immer an ihren Vater denken, den sie nur von Fotos kannte. Später, als Teenager, war sie sich interessant vorgekommen, wenn sie neben ihrer Mutter herlief und niemand auch nur einen Cent darauf gewettet hätte, dass sie miteinander verwandt waren. Inzwischen war die fehlende Ähnlichkeit einfach eine Tatsache, die Merle verwundert zur Kenntnis nahm.
«Hast du es also wieder geschafft, ja?», sagte sie statt einer Begrüßung und stürmte an ihrer Mutter vorbei in die Wohnung. Im Schlafzimmer schlug ihr muffige Luft entgegen. Merle zog angewidert die Stirn kraus.
«Lüftest du hier eigentlich auch mal?», fragte sie.
«Natürlich lüfte ich, Kind. Wenn ich noch mehr lüften würde, könnte ich auf die Fenster auch gleich verzichten», sagte ihre Mutter trocken.
Merle riss das Schlafzimmerfenster auf und sah hinaus auf die Straße. Der schlechte Geschmack auf zwei Beinen war längst über alle Berge, mitsamt dem Laptop. «Verdammter Mist», entfuhr es Merle. Ihre Mutter seufzte laut.
«Ja, Mist.» Sie wollte Merle über die Schulter streichen, doch die entwand sich mit einer schlängelnden Bewegung.
«Und du bist nicht auf die Idee gekommen, ihm zu sagen, dass das mein Rechner ist?», schimpfte sie.
«Aber du hast ihn mir doch geschenkt, Merle-Schatz», verteidigte sich ihre Mutter.
Merle stöhnte. «Das weiß der doch nicht, Mama.» Sie überlegte fieberhaft: Irgendwo musste sie noch den Kaufbeleg haben. Gleich Montag würde sie sich darum kümmern, den Computer zurückzubekommen. Hoffentlich war es dann noch nicht zu spät. Oder konnte man da auch am Samstag anrufen?
«Trink doch erst mal einen Kaffee mit mir», sagte ihre Mutter und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, in die Küche. «Ich trinke nur Tee, Mama.» Und das schon seit Jahren, ergänzte Merle im Geiste und pfefferte ihre braune Lederjacke aufs Bett. Das war sonst nicht ihre Art, aber in dieser vollgestopften Wohnung fiel ein kleiner Beitrag zur Unordnung nicht weiter ins Gewicht. Und irgendwo musste sie mit ihrem Frust ja hin.
Ihre Mutter schien die Sache mit dem Laptop mit Fassung zu tragen. Merle aber versetzte es einen Stich. Nun gut, das Modell war deutlich günstiger gewesen als die neuen, aber Merle hatte sich das Geld mühsam abknapsen müssen, um es ihrer Mutter zu kaufen. Und das Laptop war absolut ausreichend gewesen, um online Kontakte zu knüpfen. Die Freundinnen ihrer Mutter hatten sich in den letzten Jahren mehr und mehr von ihr zurückgezogen. Erst kürzlich war Merle einer Schulkollegin ihrer Mutter über den Weg gelaufen. Hilde hatte sich bei ihr beschwert, dass sie ihrer Mutter 300 Euro geliehen und sie nicht wiederbekommen hatte. Merle hatte die Schulden sofort beglichen, obwohl sie selbst nicht gerade im Geld schwamm.
Sie konnte es nur schwer ertragen, ihre Mutter so allein zu wissen. Darum hatte sie ihr nach dem Kauf des Computers gleich einen Facebook-Account eingerichtet. So wie die Dinge jetzt lagen, hatte ihre Mutter das Gerät aber wohl eher zum Shoppen genutzt, allen Beteuerungen zum Trotz.
«Also, was brauchtest du so dringend?», startete Merle ihr Verhör, nachdem sie ihrer Mutter in die Küche gefolgt war. «Lass mich raten: einen Bauchtrainer? Eine Sondermünze zum Weltspartag? Ein Socken-Abo?»
Ihre Mutter sah sie schuldbewusst an, doch Merle wandte sich ab. Diesmal würde sie sich nicht von ihrem Unschuldsblick besänftigen lassen.
«Wir hatten eine Abmachung, schon vergessen?», schimpfte sie.
Vor vier Jahren war ihre Mutter kurz nach ihrer Privatinsolvenz schon wieder überschuldet gewesen. Mit ihrer Frührente, die gerade mal auf Hartz-IV-Niveau lag, kam ihre Mutter nicht über die Runden, und Merle hatte es nicht übers Herz gebracht, sie darben zu lassen. Sie hatte ihr Unterstützung angeboten, damit sie wenigstens die Wohnung halten konnte. Im Gegenzug musste ihre Mutter ihr versprechen,...
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