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3. Kapitel
Der Tag hatte sonnig begonnen, und nachdem Alyss die Pflichten und Aufgaben verteilt hatte, war sie mit Jerkin auf dem Handschuh zum Weingarten gegangen. Die Wurzeln der Reben hatten sie in den letzten Tagen abgedeckt, die Stecken aufgerichtet, bald würde sie die jungen Triebe daran hochbinden. Wieder nahte ein Frühling, wieder vollendeten sie und ihr Bruder ein Lebensjahr. Ihr sechsundzwanzigstes war es, und als der Falke sich in den blauen, wolkenlosen Himmel erhob, wischte sie sich eine ungebärdige Locke aus der Stirn. Sie war eine alte Frau geworden. Eine kinderlose alte Witwe …
Fort!, befahl sie diesem trüben Gedanken. Was für ein Unsinn. Ihre Ziehschwester Catrin war neun Jahre älter als sie und hatte nun doch einen Gatten gefunden. Nicht nur das, es wollte ihr sogar scheinen, dass sie gesegneten Leibes war. Welch ein Glück sie hatte. Als Kind war Catrin ein unscheinbares Geschöpf gewesen, das nur stammeln und stottern, nicht aber sprechen konnte. Alyss’ Mutter Almut hatte sie zu sich genommen, und in deren Obhut hatte sie gelernt, ihre Zunge zu disziplinieren. Sie hatte jedoch die Ehelosigkeit in dem Beginenkonvent am Eigelstein den Freiern vorgezogen, die ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Zu Alyss’ Schwager Robert aber hatte sie eine keusche Zuneigung entwickelt, die er ebenso keusch zu erwidern schien. Dann war er vor zwei Jahren Opfer eines bösartigen Anschlags geworden. Sein eigener Bruder, Alyss’ Gatte, hatte den gewalttätigen Friesen Yskalt aufgehetzt, ihn zu ermorden. Doch der Zufall wollte es, dass der Mörder den Falschen erschlug und Robert untertauchen konnte. Dabei war ihm der englische Tuchhändler John of Lynne eine entscheidende Hilfe gewesen. Bis zum vergangenen Jahr hatte er John als dessen struppiger Diener Bob begleitet und zusammen mit ihm über Alyss’ Hauswesen und auch über Catrin gewacht. Alyss hatte ihren Schwager schon früher sehr gerne gehabt, er war ein vernünftiger Mann mit einem feinen Sinn für Humor. Die vergangene Zeit, die er unter harten Bedingungen verbracht hatte, hatte ihn jedoch entschlossener werden lassen – und auch breitschultriger. Als dann endlich die Tage des Versteckens gezählt waren, hatte er sich Catrin erklärt, und sie hatte freudig das Beginendasein aufgegeben. Als Hebamme aber würde sie weiterhin tätig sein, wenn man ihre Dienste wünschte.
Benefiz hechelte hinter Malefiz her, der wiederum sein Jagdrevier in dem Rebgarten hatte. Oben stieß der Falke seinen schrillen Schrei aus.
John würde bald zurückkommen. Alyss hatte eine Botschaft von ihm erhalten, in der er ihr den Tod seines Vaters kundtat. Einige Regelungen zur Erbschaft mussten noch getroffen, Waren mussten eingekauft werden, danach aber wollte er nach Köln zurückkehren.
Und dann?
Johns scheinheilig-frommes Weib hatte den Schleier genommen, seine unselige Ehe war aufgelöst. Als sie im Herbst den Mörder von Arndt van Doorne gefunden hatten, den Bettelscholaren Caspar, den Merten dann im Streit erschlug, da war auch sie, Alyss, frei geworden.
Und hätte nicht der Eilbote die Nachricht vom Sterben des alten Lord Thomas überbracht, hätte John in den kalten Winternächten ihr Bett gewärmt.
Ob er auch in den warmen Sommernächten an ihrer Seite liegen würde?
Alyss zog die silberne Kette aus ihrem Gewand und betrachtete den Siegelring, der daran hing. Johns Siegel, das Siegel des Falkners. Nicht das seines adligen Hauses.
Was würde die Zukunft bringen?
»Frau Alyss! Frau Alyss!«
Ärger.
Frieder kam zwischen den Reben auf sie zugelaufen. Benefiz sprang an ihm hoch, der Kater verdrückte sich.
»Was ist passiert?«
»Sie haben Lucien in den Turm geschleift.«
»Ah.«
Frieder keuchte: »In Ketten gelegt.«
»Der Rentmeister Oldendorp hat ihn angezeigt.«
»Aus welchem Grund?«
Frieder beruhigte sich etwas, zauselte den Spitz und grinste dann.
»Na ja, Lucien hat sich sein Pferd geliehen.«
»Bitte?«
»Also, wir waren auf dem Weg zum Stiefelmacher, wie Ihr uns aufgetragen habt. Und da stand dieser Gaul angebunden hinter der ›Eselin‹. Ich hab dem Lucien erzählt, was das für ein Haus ist. Und er hat gemeint, so früh am Tag wird der Besitzer des Pferdes wohl kräftig genug sein, einige Zeit drin zu verbringen. Und er wollte sich das Tier ausleihen. Ich hab ihn gewarnt, Frau Alyss. Wirklich. Mehrmals. Aber da war er schon im Sattel, hat was gebrüllt und ist losgeprescht. Der kann verdamp gut reiten.«
»Halte deine Bewunderung im Zaum, Frieder. Wie fing man Lucien ein?«
»Der Rentmeister hat’s vom Fenster aus gesehen und ist raus. Er hat die Wachen gerufen, und die haben Lucien am Rheinufer abgefangen und zum Frankenturm gebracht.«
»Und woher weißt du das alles, Frieder?«
»Ähm – ich hab mich ein bisschen versteckt und bin dann hinter Lucien her. Der wollte nämlich unbedingt die Schiffe sehen, und da dachte ich mir, dass er zum Rhein runter ist. War ja auch so.«
»Hat er den Wachen oder dem Rentmeister gesagt, wer er ist?«
Frieder hob die Schultern.
»Wird wenig genug verstanden haben, was die gesagt haben. Frau Alyss, kann Herr Robert ihn da rausholen?«
»Auf Pferdediebstahl steht die Todesstrafe«, sagte Alyss dumpf, und Frieder erbleichte.
»Aber … es war doch nur ein Streich. Er wollte das Pferd doch nicht stehlen.«
»Er hat es aber gestohlen. Und Herr Robert ist zu den Gewandschneidern unterwegs.« Sie sah zu dem Falken hinauf, der seine Kreise zog. Dann legte sie den Handschuh ab und reichte ihn Frieder.
»Ruf Jerkin zurück, ich suche den Turmmeister im Frankenturm auf.«
»Danke, Frau Alyss. Er ist ein Rotzlöffel, der Lucien, aber er versteht unsere Sprache nicht gut. Und er hat Heimweh.«
»Hat er?«
Frieder scharrte mit den Füßen. Dann murmelte er: »Er weint nachts.«
»Ich kümmere mich um ihn.«
Sie legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. Er hatte sich zu einem netten Burschen gemausert.
Der grauhaarige Turmmeister maß sie mit strengem Blick, als einer der Wächter sie zu ihm in seine Kammer geführt hatte.
»Alyss vom Spiegel?«, knurrte er.
»Tochter des Herrn Ivo vom Spiegel, Handelsherr und Ratsherr.«
Sie nutzte selten ihre Abstammung, um etwas durchzusetzen – ihr Vater war noch immer ein einflussreicher, gelegentlich sogar gefürchteter Mann. Aber hier ging es um ihren Schützling, der so schnell wie möglich aus den Händen der Stadtwache befreit werden musste.
Der Turmmeister mäßigte demzufolge auch seine Strenge und gab sich sachlich.
»Was bringt Euch zu mir?«
»Mein Schützling, Lucien du Chailley, hat einen bösen Streich begangen. Er hat sich das Pferd des Rentmeisters Oldendorp ausgeliehen. Ich bin hier, weil ich um Gnade bitten möchte.«
»Um Gnade, Frau Alyss? Für einen Pferdedieb?«
»Er ist ein Junge noch, übermütig und fremd in unserem Land. Erst letzte Woche wurde er von seinen Eltern in meine Obhut gegeben.«
»Und die haben ihn nicht gelehrt, dass man Pferde nicht stehlen darf?«
»Er hat es nicht gestohlen, er hat es geliehen.«
»Und halb zu Schanden geritten!«, grollte der Turmmeister. Dennoch, als Alyss ihn unverwandt anblickte, vermeinte sie ein leichtes Aufzucken um seine Lider zu bemerken. Ihr Vater, der Meister des gehobenen Donnerwetters, zeitigte ebensolche feinen Spuren der Belustigung, wenn er von tollkühnen Abenteuern hörte. Ihr wurde etwas leichter ums Herz.
»Ihr habt einen Sohn, Turmmeister?«
»Derer dreie. Lausejungen, einer wie der andere. Aber gerade gewachsen und aufrecht.«
»Ohne je eine Narretei begangen zu haben?«
Der Turmmeister gab einen undefinierbaren Laut von sich, den Alyss richtig zu deuten wusste. Also machte sie einen Vorschlag.
»Mag es sein, dass man den Rentmeister mit einer Entschädigung von der Anklage abbringen könnte?«
Der Turmmeister schnaubte: »Wohl kaum. Er tobte.«
»Nun – dann vielleicht ein Schweigeversprechen?«
Buschige Augenbrauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen, und der Turmmeister betrachtete sie mit einem scharfen Blick von oben herab.
»Worüber müsste geschwiegen werden, Frau Alyss?«
»Nun, über den Ort, von wo das kostbare Pferd ausgeliehen wurde.«
»Der da war?«
»Hinter dem Hurenhaus ›Zur Eselin‹.«
Die Augenbrauen rutschten an ihren üblichen Platz, der Turmmeister zwinkerte, hüstelte und begann röhrend zu lachen.
»Vor der Sext – je nun, ein eifriger Mann, der Rentmeister Oldendorp. Folgt mir, Frau Alyss, ich will Euch den Missetäter übergeben. Und dem Rentmeister Euer Schweigen versichern.«
Man hatte Lucien in den Keller gebracht und dort mit schweren Ketten an die Wand gefesselt. Er sah erbarmungswürdig aus, offensichtlich hatte er sich den Wachen nicht wehrlos ergeben. Alyss empfand einen Hauch Mitleid mit dem Jungen, bemühte sich aber, es ihm nicht zu zeigen.
»Du junger Idiot«, herrschte sie ihn an. »Was ist nur in dich gefahren? Ist es in deiner Heimat üblich, Fremden das Pferd fortzunehmen?«
Er sah auf, das eine Auge vom Vortag blau und zugeschwollen, die Lippe aufgeplatzt, die Haare voll verkrustetem Blut.
»Isch ’abe sagen: ›Je me prends votre cheval!‹ Sieur ’at...
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