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Am 6. März 1953 kam die Nachricht, daß Stalin in der Nacht gestorben war. Unsere Reaktion ist mir - heute mehr denn je - gegenwärtig als ein Beleg für den Grad von Exaltation, in den normale Menschen versetzt werden können durch eine vergottende Propaganda und davon entfachte Autosuggestion. Die Frauen in der Redaktion hockten rotverweint an den Schreibtischen. Die Männer wischten sich verstohlen Tränen aus dem Gesicht.
Wir waren wie gelähmt. Nicht der «Generalissimus», es war der pfeifeschmauchende Stalin, das «Väterchen», der uns verlassen hatte. Das Diminutiv brachte uns den Toten nahe wie einen Anverwandten. Wir fühlten nicht nur Schmerz, sondern auch Leere. Wie und durch wen sollte die ungeheure Lücke in unserer führerlos gewordenen revolutionären Welt geschlossen werden? In dem Übermaß unserer Trauer und Sorge fanden wir uns bestätigt durch das Echo, das der Tod Stalins weltweit, auch bei den Gegnern, hervorgerufen hatte. Während des ganzen Tages kam es uns in Agenturberichten auf den Tisch, bestimmte es die Radiosendungen.
Als ich am nächsten Morgen in der Redaktion eintraf, stieß ich auf eine eigentümlich gedrückte Atmosphäre. Auf dem Gang huschten Kollegen an mir vorbei, die meinen Gruß kaum erwiderten. Aus der Klause des Chefs kam einer seiner Stellvertreter mit drei mutmaßlichen Besuchern, die ernste Mienen aufgesetzt hatten. Ein solcher Andrang war ungewöhnlich. Mein Zimmergefährte empfing mich verstört und mit dem pietätlosen Ausruf: «Eine furchtbare Scheiße ist passiert.» Er warf mir ein Exemplar der Zeitung auf den Tisch. «Lies mal die angestrichene Stelle in der Aufmachung!» sagte er.
Es war das Kondolenztelegramm der SED an die Moskauer Führung. Ich überflog die markierten Zeilen, las ungläubig noch einmal. Da stand in unserem Blatt folgende Ungeheuerlichkeit: «Mit Josef Wissarionowitsch Stalin ist» - es folgte die übliche Kaskade ruhmvoller Umschreibungen und schließlich: - «der überragende Kämpfer für die Erhaltung und Festigung des Krieges in der Welt dahingegangen».
«Mein Gott», brachte ich nur heraus. «Wie konnte das passieren?» - «Die Leute vom MfS untersuchen das schon», sagte mein Gegenüber. Mir fielen die drei Besucher ein. - «Sie verhören Hugo. Der war gestern Chef vom Dienst.» Hugo Polkehn war mein Ressortchef, er leitete die Lokalredaktion. Wenn er die Schlußredaktion hatte, würde ihm das große Scherereien bereiten, meinte ich, ohne im entferntesten an die tatsächlichen Konsequenzen zu denken. Es belastete uns ein gemeinschaftliches Schuldgefühl, daß die «Tribüne» zum Transporteur einer ungeheuerlichen Blasphemie geworden war. All die Abstraktionen von politischem Verrat, von bösartigem Ketzertum, von gekauften Abweichlern, die Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre, von Moskau inspiriert, auch die innerparteiliche Diskussion in der SED beherrschten, schienen mit diesem schlimmen Schnitzer, wie immer er zustande gekommen sein mochte, irgendwie greifbarer, realer geworden zu sein.
Unsere Schizophrenie war damals schon fortgeschritten. Obwohl wir vermuten konnten, daß in der üblichen Hektik des Redaktionsbetriebes eine simple menschliche Panne geschehen war, sich beim Setzer eine der begrifflichen Stanzen vertauscht hatte, spukte in unseren Hirnen gleichzeitig der Gedanke, daß der Setzfehler ein Werk des ideologischen Gottseibeiuns war. Wir waren nicht fähig zu begreifen, daß uns die bereitwillige Vorspiegelung einer Lästerung Stalins noch nach dem Tode des Diktators seinem eisernen Griff unterwarf.
Die beiden Unglücksraben Hugo Polkehn und der Setzer Karl Richter wurden noch am selben Tag verhaftet. Die befragten Redakteure der «Tribüne» erklären bis heute, daß sie Hugo Polkehn das beste Zeugnis ausgestellt haben. Hugo hat es ihnen nicht geglaubt. Er hat später nie wieder ein Wort mit einem von ihnen gewechselt. Er strafte uns alle mit seiner schweigenden Verachtung, weil wir ihn nicht herausgepaukt hatten. Ich weiß nicht, wer das hätte schaffen können. Staatssicherheit und Justiz waren entschlossen, ihre Grabbeigabe zu leisten.
Jeder der beiden bekam fünfeinhalb Jahre Zuchthaus. Das barbarische Strafmaß wurde mit «Boykotthetze» und «Agententätigkeit» begründet. Für einen Setzfehler durfte in der DDR natürlich niemand ins Zuchthaus geschickt werden. In Erinnerungen, über die sein Sohn erst 1990 informierte, schildert Hugo Polkehn, wie man ihm im Stasigefängnis mit Prügel und mit Drohungen gegen seine Familie das «Geständnis» abpreßte, aus «Sozialdemokratismus» den Fehler absichtlich lanciert zu haben. Es war eine mittelalterliche, niederträchtige und hirnverbrannte Farce. Es war eine von vielen grausamen Ungerechtigkeiten, mit denen wir die große Gerechtigkeit befleckten, die wir auf unsere Fahne geschrieben hatten.
In der Redaktion brach nach dem 7. März eine Art Massenpanik aus. Niemand wollte das Risiko eines Schlußdienstes auf sich nehmen. Wie viele Möglichkeiten für andere verderbenbringende Setzfehler gab es bei über dreitausend Zeilen in einer Ausgabe? Bei der Einteilung für diese Arbeit gab es reihenweise Weinkrämpfe und wütende Verweigerungen. Nur durch einen enormen Aufwand von Überredungskünsten und Beruhigungstabletten konnte zunächst das weitere Erscheinen der Zeitung gesichert werden.
Der Vorfall machte in der Folgezeit auf traurige Weise Pressegeschichte in der DDR. In allen Redaktionen wurden, wenn auch mit unterschiedlichen Bezeichnungen, Gruppen politischer Korrektoren eingesetzt, Redakteure, die für nichts anderes bezahlt wurden, als Abend für Abend jede druckfertige Seite Zeile für Zeile auf politische Läuse durchzukämmen. Anschließend lasen sie ebenso akribisch ein Andruckexemplar von jedem Druckwerk mit besonderem Blick auf die Bilder. Es könnte ja sein, daß im Raster eines Fotos zufällig oder absichtlich ein Nazisymbol oder eine andere Verunstaltung offenbar wird, schlimmstenfalls auf dem Konterfei eines führenden Genossen. In solchem Falle waren sofort der Druck der Maschine zu stoppen und die geschädigten Exemplare sicherzustellen.
Polkehn und Richter, keine großen Tiere der Politik, denen in geschichtlichen Abhandlungen kaum Fußnoten gewidmet werden, waren noch nicht die letzten Opfer der stalinistischen Machtzementierung. Der Beschluß des Kominform von 1948, der Tito und die jugoslawischen Kommunisten als eine Bande nationalistischer Verräter an der internationalen Arbeiterklasse brandmarkte, hatte eine Welle von Schauprozessen in den sozialistischen Ländern nach sich gezogen. Als imperialistische Agenten verurteilt und hingerichtet wurden außer Laszlo Raik in Ungarn auch Traitschko Kostoff in Bulgarien und Rudolf Slansky in der Tschechoslowakei. Die beiden letzten waren sogar Mitunterzeichner der Bannbulle gegen Tito gewesen. Die Inquisition fraß auch ihre Inquisitoren.
In der SED gingen die Säuberungen einher mit der Formierung zur Partei neuen Typus, das heißt mit der Verdrängung des sozialdemokatrischen Elements. Das Paritäten-Prinzip für die Leitungen wurde abgeschafft. Sozialdemokratismus war nur eine der zu büßenden Sünden. Betroffen waren nicht wenige Kommunisten, die statt nach Moskau in westliche Länder emigriert waren. Nach dem Prager Slansky-Prozeß traf es insbesondere Genossen jüdischer Abstammung, die des Zionismus und des Kosmopolitismus bezichtigt wurden.
In der SED wurde nach dem 20. Parteitag der KPDSU, der die kommunistische Bewegung mit Stalins Verbrechensregister konfrontierte, das schiefe Lächeln der Selbstgefälligkeit aufgesetzt: Wir haben den von Stalin verfügten Gesinnungsterror nicht so sklavisch mitgemacht wie andere; in der DDR gab es keine Schauprozesse.
Das stimmte sogar. Aber die Historiker, die bislang geheime Dokumente jener Zeit sichten, kommen zu dem Schluß, daß in der DDR die Inszenierung eines ähnlichen Ketzer-Prozesses wie in Prag, Budapest oder Sofia schon weit gediehen war. Im Visier befanden sich die einstigen Spitzenfunktionäre und Westemigranten Merker und Dahlem. Die Entwicklung nach dem sowjetischen Parteitag hat es nicht mehr dazu kommen lassen.
Vielen anderen Opfern des Stalin-Terrors widerfuhr erst jetzt späte Gerechtigkeit. Auch in der DDR waren untadelige Kommunisten, allerdings unter weniger spektakulären Umständen, reihenweise in die Gefängnisse gewandert. In Geheimverfahren waren sie als titoistisch-trotzkistische oder zionistische Instrumente des Imperialismus, als lebende Beweise für die These von der «gesetzmäßigen Verschärfung des Klassenkampfes» vorgeführt worden. Einige gingen an den physischen und psychischen Drangsalen der Zwangsarbeit im sibirischen Workuta oder im sächsischen Uranbergbau zugrunde. Die vielen, die aus der Partei und aus ihrer Arbeit gefeuert wurden, konnten von sich sagen, sie waren noch einmal mit dem Leben davongekommen.
Unter denen, die aus der SED ausgeschlossen und arbeitslos wurden, war Jacob Walcher. Die «Tribüne» verlor ihren Chefredakteur. Immerhin erhielt die Redaktion damals einen guten Mann, wenn es auch kein Ersatz war, Bruno Stubert. Er war ein Kripo-Kommissar, der im Nachkriegsberlin Kriminalgeschichte geschrieben hatte. Seine erfolgreiche Aufklärung von Kapitalverbrechen lieferte sogar Stoff für Drehbücher. Nur weil er als ehemaliger 999er in westliche, in britische Gefangenschaft geraten war, hatte er den Dienst quittieren müssen. In der Gewerkschaftszeitung durfte sich ein «unberührbar» Gewordener wie er seine Brötchen noch verdienen.
Für Polkehn öffneten sich die Zuchthaustore nach dem 20. Parteitag der KPDSU. Der...
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