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Winter in Damaskus
Nach einem späten Dinner saß ich wieder in meinem Zimmer in Bab al-Salam, in unserem Haus in der kleinen Gasse, deren Namen mir nie jemand hatte nennen können. Es war ein wenig verfallen, leider nicht sehr komfortabel, besonders im Winter. Aber ich mochte den Springbrunnen und den Orangenbaum im Hof und meine kleine schiefe Kammer an der Galerie, von der ich den Hof überblickte und von deren Dach man weit über die Altstadt schaute. Das Haus war eine vom Alter gezeichnete Schönheit, das Erbe prachtvoller Zeiten, von denen diese Stadt über die Jahrhunderte so viele kommen und gehen gesehen hat.
Husams Typ kam erstaunlich spät. Das ganze Haus schlief bereits, als ich Husams müde Schritte auf der Treppe hörte, die von seinem Zimmer hinab in den kleinen Innenhof führte. Ich hörte, wie er die niedrige Metalltür öffnete, ich wusste, wie er vorsichtig in die dunkle Gasse hinausschaute. Er würde den Mann hereinlassen, der eine Kapuze trug, tief ins Gesicht gezogen. Die Tür wurde geschlossen. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie sie sich in eines der alten, ehemals prunkvollen Schlafzimmer setzten, die ebenerdig vom Hof abgingen. Wir legten dort gelegentlich bei Partys Musik auf. Hohe Räume mit dunkler, fast ins Schwarze gehender Holzvertäfelung und massiven Betten, die wir in die hinteren Ecken geschoben hatten.
Ich warf mir eine Jacke über. Es war eine klare Winternacht, Kälte und Feuchtigkeit hingen in meinem Zimmer, als hätte der leichte Nebel, der sich tagsüber in den Bergen gebildet hatte, die Mauern des Hauses infiltriert. Ich ging hinaus aus meiner Kammer und beobachtete meinen Atem, wie er in bedächtigen Wolken aufstieg. Das Bad mit dem defekten Boiler, die kleine baufällige Küche, die zwei großen Zimmer der Italiener und meine Kammer, wie ein Hufeisen schmiegten sie sich im ersten Stock um den Innenhof. Ich hatte gerade versucht, das Geschehen des Tages zu Papier zu bringen, als ich die leise Betriebsamkeit im Hof hörte. Ich trat auf die Galerie, welche die Zimmer umlief, und stolperte fast über die beiden Schildkröten, die mal wieder auf meiner Schwelle kopulierten.
Ein mattes Licht ging unten an und warf die zwei gebeugten Schatten der Männer auf den Springbrunnen unter dem Orangenbaum, der bis vor die Fenster meiner Kammer wuchs und der noch die alten vertrockneten Früchte des Herbstes trug. Im Hof wurde gemurmelt. Ich ging wieder hinein, zog mir einen Pullover unter die Jacke, nahm eine Kippe aus der Packung, setzte mich auf das Sofa auf der Galerie und rauchte, während Husam unten den Stoff kaufte.
Trotz der Kälte trug Husam nur ein T-Shirt. Das schlecht gestochene Tattoo zeichnete sich vage im Zwielicht auf seinem Unterarm ab. Ein fünfklauiger Drache, Symbol der chinesischen Kaiser. Seit Weihnachten war es nun kalt. So kalt, dass es Schnee gegeben hatte. Wir hatten beschlossen, den ausländischen Studenten, die die Nachmittage in ihren Zimmern neben kleinen Elektroheizern verbringen mussten, ein wenig Hasch zu verkaufen. Besser gesagt, Husam verkaufte. Er kannte sich damit aus, ich investierte.
»Es gibt keine Zukunft für dieses Land«, pflegte er zu sagen, »mir ist alles ziemlich egal.« Gute Voraussetzungen für halbseidene Geschäfte. Husam hatte damals schon jede Hoffnung für Syrien, und wie ich immer öfter fürchtete auch für sich, aufgegeben. Er lebte von Tag zu Tag, von Party zu Party, von Mädchen zu Mädchen. Ich wiederum brauchte einfach Geld, um weiter in der Stadt bleiben zu können. Mit dem mickrigen Honorar, das ich für den einen Artikel bekam, den ich monatlich für eine deutsche Tageszeitung schrieb, konnte ich gerade ein Drittel der 200 Dollar bezahlen, die meine Kammer an Miete kostete.
Husam hatte eine gute Zeit erwischt. Die Hisbollah brauchte nach dem 2006er-Krieg gegen Israel Geld und flutete den Markt mit Hasch aus dem Bekaa-Tal. Husam kaufte billig ein und verkaufte teuer an die ausländischen Studenten. Ich finanzierte den Kauf mit und machte dezent Werbung an der Uni. Mein Anteil waren 30 Prozent vom Gewinn. Das Geld reichte nicht für viel, aber für die Miete, Zigaretten und Bier. Unten verabschiedete Husam den Mann mit der Kapuze und kam zu mir auf die Galerie.
Wir setzten uns in mein Zimmer. Zwei Betten standen dort eng nebeneinander, und in die Ecke neben der Tür hatte ich einen kleinen Tisch gestellt, an dem ich schrieb. Mehr passte nicht hinein. Ich machte den neuen Elektroheizer an. In der Woche zuvor war mein altes Modell in Flammen aufgegangen, und nach langem Streit hatte mir mein Vermieter einen neuen gekauft, der nun ebenfalls keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck machte. Ich legte mir eine Decke um die Schultern. Durch die verzogenen Fensterrahmen drang mit dem Wind die Kälte herein. Wir setzten uns auf das Bett an der Rückwand, das mit dem gebrochenen Lattenrost, und Husam schob zwei gepresste Platten in Zellophan unter die Matratze. Dann riss er das Zellophan einer dritten Platte auf. Er hielt ein Feuerzeug an die Platte. Wir testeten den Libanesen. Es war vernünftiges Zeug. Husam aber war unruhig.
Husam. Auch wenn er gerade nicht depressiv war, seine Paranoia war immer zu spüren. Husams Fehde mit dem syrischen Staat zog sich, als ich ihn kennenlernte, bereits seit Jahren hin, durch sein ganzes Erwachsenenleben. Der Tag, an dem der Staat in sein Leben getreten war, war der Tag, an dem seine Kindheit geendet hatte.
Sie hatten ihn verhaftet, getreten, bespuckt, aber Husam hatte weitergemacht, weitergelebt. Und jedes Mal, bei jedem Aufeinanderprallen mit der Staatsmacht, ging etwas in ihm kaputt, gab es neue Risse. Er zog an der Tüte und wippte unruhig, fast manisch mit den Füßen. Es war gerade wieder einmal nicht sicher, ob er nicht doch noch zum Militärdienst musste.
Der Militärdienst war eine Abfolge von Erniedrigungen. Seinen Bruder hatten sie im vorherigen Winter so lange bei Nacht einen Berg hinauf- und hinunterrennen lassen, bis er zusammenbrach. Er hatte nur seine Unterhose tragen dürfen. Als er nach Wochen wiederhergestellt war, hatte er versucht, sich umzubringen. Husam hatte nicht vor, sich in die gleiche Situation zu begeben. Der einfachste Weg, sich dem zu entziehen, war Geld. Ein paar Tausend Dollar aufzutreiben war allerdings in Damaskus für jemanden, der das Gymnasium abgebrochen hatte wie Husam und dessen kriminelle Energie sich schon im Handel mit kleinen Mengen Drogen erschöpfte, nicht besonders einfach. Der andere Ausweg, den Wehrdienst zumindest aufzuschieben, war zu studieren. Dafür musste Husam sein Abi nachholen. Und so kam es, dass wir abends des Öfteren über Vektorrechnung, Elektrodynamik und derlei Dinge sprachen, während wir libanesisches Bier und Damaszener Arak auf unserem Sofa tranken. Besonders schnell kam er nicht voran, was ihn auch an diesem Abend, wie an so vielen anderen, stark beunruhigte.
In dieser Nacht, in meinem kalten Zimmer, während der Nordwind Wolken über die Stadt fegte, erzählte mir Husam das erste Mal von Laila. Jener Frau, mit der alles enden sollte. Ein Mädchen der Oberschicht, das er manchmal traf. »Man könnte sagen, dass sich Laila meldet, wenn sie Bewunderung braucht«, sagte er, nachdem er mir einen groben Abriss ihrer Affäre gegeben hatte, und es fiel ihm sichtbar schwer, sich einzugestehen, dass er nicht genug Stolz aufbringen würde, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie waren letzte Nacht im Marmar gewesen, erzählte er dann, und später noch im Abu George, dann waren sie zu ihr gefahren, in die riesige Wohnung hinten in Mezze, hatten gevögelt und ein bisschen Opium geraucht. Bei Sonnenaufgang hatte sie ihn rausgeschmissen.
Husam litt. Er hatte den halben Tag geschlafen, und die Postdrogendepression war wie ein Aufputschmittel für seinen Liebeskummer.
»Vergiss sie«, sagte ich zum wiederholten Mal. Und versuchte ihn mit weiteren Allgemeinplätzen auf andere Gedanken zu bringen. Dass er ihr von unserem kleinen Geschäft erzählt hatte, beunruhigte mich. Ich sagte aber nichts dazu. Später setzten wir uns trotz der Kälte aufs Dach meiner Kammer und rauchten. Ich schaute auf die grünen Neonröhren der Minarette der Umajaden-Moschee, die im Südwesten aus den labyrinthartigen Gassen ragten. Husam blickte gedankenverloren in Richtung des Berges. Seine strengen Gesichtszüge, die im Gegensatz zu seinen milden, müden braunen Augen standen, wirkten erschöpft. Er sah blass und ausgezehrt aus. Ein zunehmender Mond stand hoch über dem Jabal Qasiun, dem mächtigen braunen Berg, an dessen Hang sich Damaskus schmiegt. Wir rauchten noch eine Zigarette, schwiegen und schauten über die Stadt, die ruhig und klar unter uns lag, wie Drohung und Versprechen zugleich.
Am nächsten Morgen wartete ich, bis die Italiener ihren Espresso getrunken hatten, und stand dann auf. Ich sah sie nicht oft, meist waren sie in der Uni, oder sie saßen irgendwo und lernten. Wenn sie zu Hause waren, hörte man sie eher, als dass man sie sah. Husam saß mit einer abgegriffenen Kopie der Fleurs du mal auf dem Sofa in der Sonne, als ich gerade das Haus verlassen wollte, um mit Tom die Party am Abend zu organisieren.
*
Husam war nicht immer so fatalistisch gewesen. Er hatte das ehemalige französische Gymnasium besucht, eine der besten Schulen des Landes. Auch Bashar al-Assad hatte es als Jugendlicher besucht. Eine kleine fortschrittliche Blase, so beschrieb er es gerne, in dem großen, mit eiserner Faust bewachten Gefängnis namens Syrien. Eine Oase der Freiheit. Als Kind kannte er nur diese heile Welt der Oberschicht. Der Rest des Landes war ein surrealer Ort für ihn gewesen, der hinter den Scheiben des Schulbusses vorbeizog. Bis zu diesem einen Wintertag, als der Schulbus auf offener Straße...
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