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Krankheit
Herzallerliebste, wie beschreibt man dein Lachen?
Wenn ich könnte, beschriebe ich den Moment, in dem du vor Freude platzt. Dein heiseres, fast männliches Lachen, das binnen Sekunden vor Gold, Weihrauch und Myrrhe flirrt.
»Sag deiner Edo hallo«, hat dein Vater zu dir gesagt. Edo, ich, deine Tante väterlicherseits. Er war gerade bei mir, als du ihn über Messenger anriefst. Als du wie eine Madonna auf dem Bildschirm erschienst. Als du, Soraya, uns anlächeltest.
Dein Vater ist auf der Durchreise in Rom. Geschäftstermine, bei uns vorbeischauen, Freunde wiedersehen. In zwei Wochen fliegt Moh, dein Aabo, nach Nairobi zurück. Es ist schön, ihn um mich zu haben wie früher, als wir noch klein waren und unsere Schultern noch keine Engelsflügel trugen. Er lacht genauso viel wie du, liebe Nichte. Doch sein Lachen ist fett, voll, rund, überbordend geradezu. Es klingt noch genau wie in den achtziger Jahren, als er ein junger Hipster war.
Wenn Moh abreist, wird es mir wie immer das Herz brechen, das weiß ich jetzt schon. Wir Entwurzelten sollten an diese Abschiede gewöhnt sein, an die langen Trennungen, die das tägliche Brot aller Migrantenfamilien sind. Tatsächlich gewöhnt man sich niemals daran, geliebten Menschen Lebewohl zu sagen. Man möchte sie immer an seiner Seite haben. Sich in jedem Moment in ihren Augen spiegeln, die den eigenen so ähnlich sind. Wir sind eine Familie, wahaan nahay qoys, und, wie alle somalischen Familien der Diaspora, über fünf Kontinente verstreut. Zerrissen vom Krieg, der uns getroffen hat, von den Katastrophen, von einer alten Diktatur, von Tod und Liebe.
Und jede Trennung zerstört uns.
Versprengt uns.
Vernichtet uns.
Dein Aabo lebt mit deiner Mutter und deinen kleinen Schwestern in Nairobi. Dein Bruder Sueyb hingegen ist in der westlichen Welt gelandet, wie du, und studiert Bauingenieurswesen, denn im Gegensatz zu uns hat er einen mathematischen Verstand.
Du weißt ja, wie sehr dein Vater darauf brannte, wieder in Afrika zu leben. Das war sein Traum, seit er mit vierzehn Jahren einen Fuß auf diesen vertrackten Kontinent namens Europa setzte. Ein Europa, das gegen schwarze Männer und also gegen ihn schon immer unerbittlich war. Nahariis lahan. Mitunter mörderisch. Heute ist dein Vater Unternehmer und besitzt ein Haus in Kileleshwa, einem Mittelschichtsviertel von Nairobi, und am Tag der Kaufvertragsunterzeichnung trug er das Armband mit der Kenia-Flagge, von dem er sich aus Verehrung und Dankbarkeit niemals trennt. In Kenia hat dein Aabo ein neues Selbst gefunden. Oder, wie er es nennt, a place to be.
Ich bin hier, in Rom. Ich bin eine Frau made in Italy, einziger Fixpunkt einer Familie, die stets in Bewegung ist. Sesshaft dort, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Ein Gewohnheitsmensch wie alle Römer. Eingewachsen in diese westliche Welt, mit der auch ich mitunter zu kämpfen habe.
Du hingegen, allerliebste Nichte, hast eine Welt voller Pfade und Wälder durchstreift. Heute bist du im kanadischen Québec, sprichst Französisch wie die Figuren von Xavier Dolan, schleifst trotzig die Pariser Vokale. Ins Standardfranzösisch fällst du nur, wenn du mit deiner Mutter sprichst.
Naima, deine Hooyo, stammt aus Dschibuti, einst Französisch-Somalia, heute ein Ort internationaler Intrigen voller Militärstützpunkte, vermummter US-Marines und länglicher Basen der Volksrepublik China. Das Französisch deiner Mutter scheint einem Lied von Charles Trenet entsprungen zu sein, es ist von fast übersteigerter Reinheit, und eure Unterhaltungen treffen sich auf halber Strecke, an einem vagen Punkt jenes fernen Frankreichs, des Hexagone, das du in diesem Leben noch nie besucht hast, nach dem du dich aber verzehrst wie nach der Liebe.
Auch deine Hooyo Naima hat eine heisere Amazonenstimme, aber tiefer als deine, gelebter. Sie ist Mutter von vier Kindern, Ahnfrau zahlloser Konstellationen. In ihrer Stimme liegen der Kummer und die Hoffnung, die sie für euer aller Zukunft hegt. Wenn sie Somali spricht, verstehe ich sie nicht immer. Sie verwendet Wörter, die ich noch nie gehört habe. Und erst ihr Akzent, mein Gott: Sie klingt wie ein Panzer. Doch trotz ihres harten Tons habe ich den Rhythmus, den die urvertraute Sprache ihren Sätzen verleiht, stets gemocht. Deine Mutter tanzt auf den Spitzen wie ein ètoile. Lässt ihren großen Busen wogen und wackelt mit dem Kopf wie ein launisches kleines Mädchen.
Mit deinem Vater, deinem Aabo, sprichst du Englisch. Auf deinem Streifzug um den Globus war England eine wichtige Etappe. Vielleicht hast du sogar erwogen, zu Ihrer Majestät zu ziehen, aber dann hat dich das Leben anderswohin geführt. Von diesen Aufenthalten, ich weiß nicht, wie viele es waren, vielleicht nur einer, hast du einen britischen Upper-Class-Akzent übernommen, als wärst du in Eton gewesen. Doch wie bei Benedict Cumberbatch, hat sich dein Englisch unterwegs mit reinstem Wahnsinn eingefärbt, und in diesem Wahnsinn triffst du dich mit deinem Vater Moh. Er hat eine makellose Aussprache, einen breiten amerikanischen Akzent, ein bisschen wie Will Smith, übernommen aus Filmen und von den Freunden, mit denen er sich als junger Mann umgab, ein Akzent, der nach Körpern, Monden, Planeten, Flirts und Missverständnissen riecht. In diesem Englisch lacht ihr euch jedes Mal kaputt.
In deinem Sprachfluss, vor allem, wenn du mit deinem Aabo sprichst, spült hin und wieder plötzlich Somali hoch. Nicht das Somali der Region Banaadir, das in unserer Familie gesprochen wird, und auch nicht das geschlossenere, härtere Somali des Nordens, das deine Mutter in ihrer frühen Jugend in Dschibuti sprach. Dein Somali, Soraya, riecht heimelig, nach Windeln, nach ersten Schritten, dem ersten Zahn. Ein fast neugeborenes Somali, süß und zart wie eine mit Wolken und Zucker gefüllte Sachertorte. Ein kindliches Somali, das sich willkürlich mit deinem britischen Upper-Class-Akzent mischt und in deinem jungen Erwachsenenmund erblüht, wenn du mit deinem Vater über Messenger plauderst. Jedes Mal lausche ich voller Staunen. Dich reden zu hören, bezaubert mich, Soraya. Und lässt mich lebendig fühlen.
Ich spreche und schreibe Italienisch. Ich spreche auch Somali, mit den Wörtern, die meine Mutter, deine Ayeyo, mir beibrachte, eine Frau, die in ihrer Kindheit eine nomadische Hirtin war und sich ihr Leben lang nach dieser bäuerlichen Wirklichkeit zurücksehnte, Seite an Seite mit dem eigenen Vieh, der eigenen Mühsal. Von ihr und von den alten Maulbeerfeigen, die das Panorama des Buschlands sprenkelten, habe ich all das Somali gelernt, das ich in mir trage. Die Muttersprache meines Vaters, Awowe Ali für dich, Aabo Ali für mich, war wiederum Chimwini, die Sprache Baraawes, seiner Geburtsstadt, die südlich von Mogadischu am Indischen Ozean liegt. Chimwini, das ich nicht sprechen und nicht einmal träumen kann. Sprache meiner Wehmut, meines ungeerdeten Wesenskerns.
Wir beide, du und ich, Soraya, sprechen natürlich vor allem Englisch miteinander, Verkehrssprache zwischen uns und der Welt. Doch bin ich in dieser Sprache des Empire, die du sprichst wie ein Eton-Spross, nicht perfekt. Als waschechte Italienerin, Erbin von Totò und Peppino De Filippo, stolpere ich über grammatikalische Fehler, über Unsicherheiten bei der korrekten Zeitform. Present perfect, present progressive, past tense. Außerdem kann ich nie stillhalten, ich bin so hingerissen, dass ich von Englisch zu Somali wechsele, von Somali zu Englisch, und hin und wieder kommt noch Italienisch dazu. Jedes Wort wirbelt auf der Zungenspitze und schwirrt in eine andere Richtung davon. Aber wir verstehen einander trotzdem.
Schließlich bin ich immer noch deine Edo und du meine Herzallerliebste. Da braucht es fast keine Worte.
I'm your edo and you are my beloved.
My dream.
Als dein Vater mir das Handy reichte, Soraya, schwamm bereits dein Gesicht darin. Du hast dir einen Mullet schneiden lassen und die Haare blond gefärbt. Du bist ungeschminkt. Zu Hause. Im Schlafanzug. Umfangen von deiner Traulichkeit. Und du lachst. Und seufzt. Und gähnst.
Ich könnte dir stundenlang zuhören.
Du erzählst mir von dir. Wie wenig dir bis zum Abschluss in Bewegungswissenschaften noch fehlt, wie gern du in Québec lebst, dir vorstellen kannst, für immer dort zu bleiben. »Arbeit gibt es hier genug, Edo«, erklärst du mir. »Ich habe viele Freunde«, versicherst du mir.
Ich beneide dich um deine wie Lapislazuli lackierten Fingernägel. Sie sind lang. Dick. Vampirinnennägel. Meine Schriftstellerinnennägel sind immer kurz und schlecht geschnitten, ohne Phantasie, ohne Lack. Finger, die eine Symphonie aus Wörtern und Zeichensetzung spielen müssen. Jeder Beruf verlangt Opfer.
Dein Anruf hat mich beim Schreiben in der Küche erwischt. Ich sehe schluderig aus, mit einer Wärmflasche auf dem Bauch, denn aus Sparsamkeit drehe ich nie alle Heizkörper in der Wohnung auf. Nur den im Wohnzimmer, wo meine Mutter ist, meine Hooyo, deine Großmutter, deine Ayeyo, die, wie du weißt, im September 2020, nach Ausbruch der Pandemie, von Rom-Nord nach Rom-Ost gezogen ist, um bei mir zu leben. Und natürlich bin ich dick eingepackt: Pullis, Strickjacken, Schal um den Hals.
Ich bin eine ziemliche Vogelscheuche. Jedenfalls entspreche ich ganz und gar nicht dem hollywoodtauglichen Bild der Schriftstellerinnen, die ihre Werke in einer Villa samt...
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