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Welch Mühsal: Die Häuser sind alt, nur ganz wenige haben einen Aufzug; in den Treppenhäusern war es zu eng dafür. Draußen stößt man alle hundert Meter auf eine Brücke: Das bedeutet mindestens dreißig Stufen hinauf und hinab. In Venedig gibt es weniger Herzkranke. Dafür viele Knochenbeschwerden, Rheuma, wegen der Feuchtigkeit.
Auch in den Gassen geht es auf und ab: Venedig ist niemals flach, überall ist es uneben, nichts als Rücken, Kuppen, Buckel, Senken, Vertiefungen, Grate. Die Gassen am Kanal neigen sich zum Wasser hinab, Schachtdeckel pflastern die Plätze, als wären es die Knöpfe, mit denen ein weicher Polstersessel abgesteppt ist.
Denk an die mittelalterlichen Städte, die du kennst. Normalerweise stehen die Häuser dicht beieinander, es wird wenig Platz verschwendet. Hier in Venedig trifft das noch in gesteigertem Maße zu: Eine historische Altstadt wurde gleichsam mit der Schere in Stücke geschnitten und aufs Wasser gesetzt. Jeder Quadratmeter ist kostbar. Das siehst du auch an den sogenannten barbacani, Vorsprüngen in Höhe des ersten Stockwerks, drei Meter über dem Boden, abgerundete Balken, die aus den Mauern ragen, um mehr Wohnfläche zu erzeugen, ohne dabei die Straßenbreite anzutasten.
Und doch widerspricht etwas dem Platzspardogma: Überall in der Stadt breiten sich größere und kleinere Plätze aus, auf denen die Kinder spielen und die Erwachsenen sich an die Tischchen der Bars setzen. Wie kommt das? Sind die Venezianer so ungemein sozial eingestellt, dass sie auf einen Großteil ihrer ohnehin knapp bemessenen Wohnfläche verzichten, um das Leben mit anderen teilen zu können? Das könnte man nach der Lektüre von Carlo Goldonis Komödie Il campiello meinen. Die typische venezianische Piazzetta ist nicht nur ein Platz, sondern ein System menschlicher Beziehungen: Die Leute kommen und gehen, bleiben für ein Schwätzchen stehen und plaudern mit denjenigen, die sich aus dem Fenster beugen, kommen runter auf die Straße und spielen zusammen. Jede dieser Freiflächen scheint das Leben in der Gemeinschaft fördern zu wollen, das gegenseitige Kennenlernen und Miteinander-Reden. Doch dem ist nicht so. Die Campi und Campielli dienten der Wasserversorgung. Sie ermöglichten den Einwohnern, ihren Durst zu stillen. Venedig hatte weder Aquädukte noch Quellen. Das Paradoxon einer Stadt, die von Wasser umgeben ist, im Wasser liegt und doch kein Wasser zum Überleben hat. Wie aber kam man an Trinkwasser ran?
Auf unterschiedlichen Wegen. Erstens: Man grub ein großes Loch in den Boden, mit einem Durchmesser von etwa zehn Metern. Innen wurde es mit Ton ausgekleidet, damit kein Wasser entweichen oder eindringen konnte. Es wurde mit Sand gefüllt, als Reinigungsfilter. An den vier Ecken eines großen Quadrats wurden vier kleine Brunnen aus Ziegelsteinen eingelassen, die mit einem Gullydeckel versehen wurden. Alles wurde mit der üblichen Pflasterschicht bedeckt. In der Mitte befand sich der eigentliche Brunnen. Zum Trinken, Kochen und zur Körperhygiene wurde also gefiltertes Regenwasser benutzt; die Brunnen waren im Grunde Zisternen, in denen sich das Wasser sammelte und gereinigt wurde. Die Dächer der umliegenden Häuser fungierten als Trichter im Freien: Das Regenwasser floss durch Dachrinnen und ergoss sich aufs Pflaster, wurde von den vier kleinen Brunnen aufgenommen, sickerte durch den Sand nach unten, wurde also geklärt und dann zur Mitte hin gesogen; nichts ging verloren, weil es in dem großen Tonbecken gefangen war, das auch dazu diente, verunreinigtes Wasser aus den umliegenden Bodenschichten fernzuhalten. Es landete schließlich unten in dem zentralen Brunnen. So konnte jeder Bewohner mit gut zehn Litern Wasser pro Tag rechnen. Wir haben heute dreißigmal mehr für den täglichen Gebrauch zur Verfügung. Es gab sechstausend Brunnen in der Stadt: Heute sind sie geschlossen, doch wenn es stimmt, dass Wasser zum Gold des 21. Jahrhunderts wird, kehrt man vielleicht wieder zum alten System zurück und benutzt sie wieder.
Zweite Art und Weise: Man holte sich Wasser in der terraferma, auf dem Festland, aus einem Seitenkanal der Brenta. In sogenannten burci, Transportschiffen für Zisternenwasser, transportierten acquaroli, Wasserträger, es nach Venedig und verkauften es dort, worauf es auf die Brunnen verteilt wurde.
»Wer außerhalb Venedigs könnte begreifen, dass Wasser ein derart kostbares Gut ist, dass es gekauft wird, und dass diejenigen, die es nicht besitzen, bei anderen, die glücklicherweise welches haben, betteln gehen?« Dies schrieb Carlo Goldoni im Vorwort zur Komödie Le massere (»Die Hausfrauen«). In einer der ersten Szenen dreht Zanetta eine Runde durchs Viertel, um ein wenig Wasser von den anderen Hausfrauen zu erbitten, denn seit drei Tagen hat sie nur eine knappe Reserve im Haus, und um Hefeteig zuzubereiten, hat sie am Vorabend den Brunnen ausgeschöpft.
Die Wände der oberirdischen Brunnenaufbauten heißen vere: Dieses Wort, la vera, benutzt man auch für den Ehering. Das Wasser wird geheiratet, man verbindet sich ihm für immer. Die Brunnenwände haben unterschiedliche Formen: zylindrisch, würfelförmig, achteckig. Einige ähneln riesigen Kapitellen, so als bildeten sie den Abschluss einer unsichtbaren hohlen Säule, die tief im Boden steckt. Auf den vere sind ab und zu Reliefs angebracht, die Amphoren darstellen - ein Hinweis, dass der Brunnen über öffentlich zugängliches Trinkwasser verfügt. Inzwischen hat sich Venedig ein Aquädukt genehmigt, doch die Plätze sind weiterhin abschüssig. Du merkst es, wenn du darüberläufst: Sie dienten dazu, das Wasser zu den Kanaldeckeln zu leiten. Stell dir beim Gehen vor, auch du seist Regen, der im Rinnsal dahinplätschert; lerne zu strömen, zu fließen.
Während ich in Zürich auf der luxuriösen Bahnhofstraße flanierte, sagte ein Freund zu mir: »Du spazierst über das teuerste Pflaster der Welt: Hier drunter liegen die Tresore der Schweizer Banken.« Wenn du einen venezianischen Campo mit einem Brunnen in der Mitte überquerst, liegt unter dir eine alte Zisterne voller Sand, mit ihrem geheimen Mechanismus zur Reinigung der kostbarsten Sache der Welt: des Wassers.
Die Basilika von San Marco ist in Wirklichkeit dem Gott des Regens geweiht. Ihre Kuppeln sind umgedrehte Zisternen, die sich dem Himmel öffnen. Es sind keine Originale. Architekturhistorikern zufolge wurden sie ein paar Jahrzehnte nach der Fertigstellung des ursprünglichen Baus hinzugefügt, aus ästhetischen Gründen, um von außen gesehen zu werden; sie ruhen auf den tatsächlichen Kuppeln, die viel flacher sind, sich beinahe ducken. Was du also von außen siehst, ist eine Kulisse, die erschaffen wurde, um den Anblick der Kirche leichter wirken zu lassen: Mit diesen hellen Kugeln scheint die Basilika sich aufzublasen, zu schweben, ist filigraner, leichtgewichtiger. »Die weißen Kuppeln sahen im ersten Morgenlicht aus wie Körbe aus Schaum, die aus dem Meer auftauchten«, schreibt John Ruskin. Du magst sie als rein dekorativ empfinden, doch sie sind ganz wesentlich. Ihre Funktion ist dieselbe wie die der Zisternen, die rund um die Brunnen in den Boden eingelassen sind: Sie dienen als Filter. Es sind Apparate zur Entgiftung, spirituelle Siebe: Sie fangen die Gebete auf, bevor sie zum Himmel steigen, filtern sie, um sie reiner werden zu lassen. Die Klagen und inständigen Bitten, all die Trübsal, flehentlichen Wünsche und Sehnsüchte der Menschen, sie werden gereinigt, während sie sich ihren Weg durch die Kuppeln bahnen. Unsere allzu irdischen Worte werden so Gottes würdig: Sie müssen wieder durchsichtig werden, wie körperloser Regen, der zu seiner himmlischen Quelle zurückfindet.
Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist, die ich dir gleich erzählen werde; ich gebe sie so wieder, wie sie mir erzählt wurde. Zähle die Säulen des Dogenpalastes, auf der Seite zum Wasser, zum Bacino di San Marco hin, gegenüber der Isola di San Giorgio. Beginne an der Ecke und zähle bis zur vierten Säule. Du wirst feststellen, dass sie leicht aus der geraden Linie der anderen hervortritt, sie steht wenige Zentimeter weit heraus. Wenn du dich mit dem Rücken daran lehnst und versuchst, an ihr entlangzustreifen, an der Außenseite des Säulengangs, wirst du unweigerlich von der winzigen Marmorstufe fallen, die sich über den grauen Steinplatten am Ufer erhebt. Sooft du es auch versuchst, immer wieder wirst du aus dem Gleichgewicht geraten und von der Stufe herunterfallen, auch wenn du dich an die Säule drückst oder ein Bein ausstreckst, um dich über den Rand zu schwingen und den kritischen Punkt zu überwinden. Als Kind habe ich es immer versucht, es war weit mehr als Herausforderung oder Spiel: Ich empfand wirklichen Schauder dabei. Man hatte mir gesagt, die zum Tode Verurteilten bekämen diese letzte Chance, eine Art Gottesgericht für Gleichgewichtskünstler, ein himmlisches Urteil für Akrobaten. Sollte es ihnen gelingen, an der Säule vorbeizustreifen, ohne den Fuß auf die grauen Platten zu setzen, würden sie im letzten Moment begnadigt. Eine grausame Illusion, die man die Folter der Hoffnung nennen könnte, wie die boshafte Erzählung eines französischen Schriftstellers aus dem 19. Jahrhundert. Mir gefällt die Vorstellung des nur wenige Zentimeter tiefen Todes anstelle des üblichen Abgrunds: Das ist kein schwülstiges Bild und viel furchterregender. Vielleicht geht Sterben ja wirklich so: Nur zu, die Stufe ist ganz flach, man stürzt keineswegs in einen Abgrund, das sind ja nur drei Zentimeter, ein kleiner Ruck genügt schon, niemand bedrängt dich, los,...
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